Читать книгу Der Preisgekrönte - Paul Oskar Höcker - Страница 12
ОглавлениеAm andern Tag wird Percy auf dem Hauptpostamt ein Einschreibebrief ausgehändigt, der ihm über Santiago hierher gefolgt ist: die Nachricht des Preisrichterkollegiums, dass der Arbeit mit dem Motto „Gott Pan“ der zweite Preis in Höhe von sechstausend Goldmark zuerkannt worden sei. Den Glückwünschen sind nur noch ein paar geschäftliche Mitteilungen beigefügt. Der Geldbetrag wird ihm durch die Deutsche Bank übermittelt, sobald er die architektonischen Pläne, wie dies im Ausschreiben zur Bedingung gemacht ist, im Verhältnis 1 : 100 nachgeliefert hat; für die gartenarchitektonischen Anlagen genügen die Pläne 1 : 500, die dem Kollegium bereits vorliegen.
Er wird sich sofort das erforderliche Zeichenpapier verschaffen und mit der Arbeit beginnen. „In vier, fünf Tagen bin ich fertig, kleine Dodo!“
Aber er arbeitet nicht nur die Tage, sondern auch die halben Nächte hindurch.
Weit nach Mitternacht — Frau Skull ist längst aus dem Thaliatheater heimgekommen, alle Pensionäre liegen schon zu Bett — schleicht sich Dodo einmal in sein Zimmer. Sie hat es vor Sehnsucht nicht ausgehalten in dieser Einsamkeit, getrennt von ihm durch mehrere Mauern.
„Nur einen leisen Kuss — ganz heimlich!“ flüstert sie.
Er nimmt sie auf seinen Schoss und drückt sie zärtlich an sich. Aber das Winkelmass und den Zeichenstift hat er nicht aus der Hand gelassen.
Sie lächelt über seinen Rieseneifer, will ihn aber nicht stören.
Unhörbar öffnet sie die Tür wieder, nickt ihm noch ein stummes „Gute Nacht!“ zu und tastet sich in ihr Zimmer zurück.
Ihr Glück ist ihr selbst noch ganz unfassbar. Aber sie geniesst es, ohne auch nur eine Sekunde an die Zukunft zu denken.
Doch merkt sie in ihrem überschwenglichen Glück gar nicht, dass sie bei Herrn von Glüher nun wirklich tief in Ungnade gefallen ist — und dass ihre Kolleginnen sich einstimmig darüber freuen.
Einmal kommt der Botenmeister ins Kontor und spricht mit ihr. Sie solle sich sogleich ins Besuchszimmer begeben, fangen die andern auf. Vielleicht gibt es schon jetzt eine kleine Katastrophe?
Auch Dodo ist im ersten Augenblick ein bisschen erschrocken. Aber was kann denn weiter sein? Sie wirft einen Blick in den Spiegel, streift die Überärmel rasch herunter und folgt dem Botenmeister.
Im Besuchszimmer mit den mächtigen Klubsesseln, den beiden Marmortischen und den zahlreichen Aschbechern sitzt ein Herr mit lederfarbenem Gesicht, schräg aufgesetztem goldenen Kneifer und mächtiger Glatze. Er hat helle Gamaschen über den auf Rand genähten Promenadenstiefeln und steckt in einem eleganten Masspaletot. Hut und Handschuhe liegen auf dem Stuhl neben ihm, den Ebenholzstock mit der goldenen Krücke dreht er zwischen den Fingern.
„Das ist der Mann, dem ich am Eck der Grossen Bleichen den Schubs gegeben habe!“ ist Dodos erste Feststellung. Ihre zweite: „Es ist auch der Zeitungstiger von neulich aus dem Alsterpavillon!“
„Mein Name ist Erb. Doch der tut hier nichts zur Sache. Ich komme, um mich bei Ihnen zu bedanken, Fräulein.“
„Ja, woher wissen Sie denn —?“
„Ich habe für meine Unvorsichtigkeit Polizeistrafe zahlen müssen. Lassen wir dahingestellt, ob die Erhebung zu Recht besteht. Ich bin sehr kurzsichtig, ohne Kneifer hilflos. Aber ich will mich hier in Deutschland nicht mehr herumzanken. Ich fahre nach Südafrika, komme nach Europa kaum wieder zurück. Nun haben der Schutzmann, der Lastwagenführer und der Motorradfahrer, die nach der Unfallstation mitgekommen sind, übereinstimmend bestätigt, dass nur Ihre Geistesgegenwart mich — nun, mindestens vor einem grösseren Unfall bewahrt hat.“
„Sie sind aber doch verletzt worden?“
„Ich trage die Schulter noch bandagiert. Es ist nicht schlimm. Aber Sie haben dabei Ihre Kleider verdorben, liebes Fräulein. Ich möchte Ihnen nicht nur für Ihre Hilfe danken, sondern Ihnen auch Schadenersatz leisten.“
„Die Schäden waren rasch repariert, Herr Erb. Badewanne und Waschzuber haben ausgereicht, Kosten sind nicht entstanden.“
„Aber Sie gestatten, dass ich Ihnen eine kleine Aufmerksamkeit erweise. Ich möchte Ihnen — nun, sagen wir etwa eine hübsche Armbanduhr ... Freilich bemerke ich soeben, dass Sie damit schon versehen sind. Äussern Sie doch, bitte, einen Wunsch, liebes Fräulein.“
„Wirklich, es wäre mir nur peinlich, Herr Erb, ein Geschenk anzunehmen. Ich wüsste auch gar nicht, was ich mir im Augenblick wünschen sollte.“
„Vielleicht wissen Sie’s in ein paar Wochen, und dann bin ich schon drüben im Oranjefreistaat. Ich habe die Berufung als Syndikus an die Assekuranz-Gesellschaft Barnes u. Co. Und als Jurist will man keinerlei Verbindlichkeiten hinter sich lassen. Bitte, nehmen Sie.“ Er will ihr einen Briefumschlag zustecken, auf dem mit Blaustift die Summe 300 RM notiert ist.“
„Nein, ich nehme keine Bezahlung, Herr Erb. Oder muss man Ihnen einen hohen Beamtentitel geben, da Sie juristisch so überpenibel sind?“
Noch ein-, zweimal spielt er mit dem Geldkuvert, dann lässt er’s achselzuckend in seiner Paletottasche verschwinden. „Ich war nie Beamter, Fräulein. Ich habe es nicht über den Referendar hinausgebracht. Nicht wegen Dummheit, das können Sie mir glauben. Ich hatte einen strengen Vater, der mir die Studentenzeit zur Hölle machte. Ich bin ihm als Achtzehnjähriger ausgerissen. Erst war ich bei der Bühne. Jawohl. Nicht gerade der Romeo, wie Sie sich ihn vorstellen, wie? Nun, später wurde ich Rechtskonsulent. Die Hamburger Herren Juristen nennen das hochmütig: Winkeladvokat. Sie hassen unsereinen. Ich bin lange Zeit herumgehetzt worden, aber ich wusste mich zu wehren. Jetzt stehe ich da, wohin ich wollte. Jeder Landgerichtspräsident kann mich um mein Einkommen beneiden. Und man tut viel Gutes: die wirklich Bedrückten, die kommen zu unsereinem.“
Dodo will die Besuchszeit nicht übermässig ausdehnen, aber Herr Erb zündet sich eine Zigarette an.
„Sie gestatten doch. Ja, ich nahm sofort an, dass Sie nicht rauchen. — Ich sah Sie doch schon neulich im Café, nicht? — Fräulein, Geld lehnen Sie ab, jedes Geschenk auch, aber vielleicht kann ich Ihnen meinen Dank abstatten, indem ich Sie irgendwie berate?“
Dodo lächelt. „Ich führe keine Prozesse, Herr Erb.“
„Aber Sie wollen sich verheiraten.“
„Ja, das kann schon stimmen.“
„Sie könnten auf irgendeine Heiratsannonce hereinfallen. Ich habe Sie neulich beobachtet.“
Nun lacht ihn Dodo ganz ungeniert aus. „Oh, da haben Sie sich aber verhauen. Nein, nein, ich bin schon in ganz festen Händen, ich habe den liebsten, besten, klügsten, hübschesten und ritterlichsten Mann auf der ganzen Welt.“
„Also wünsche ich Ihnen Glück.“ Er klopft die Zigarettenasche ab, um sich zu erheben. „Es wäre eine dumme Phrase, wenn ich jetzt sagte: Wenn Sie je einmal in eine schwierige Situation kommen sollten, dann könnten Sie auf mich rechnen. Denn ich hocke dann weit vom Schuss, werde Sie kaum Wiedersehen.“
Eine kleine Pause. Dann sagt Dodo: „Ja, wenn ich da nun also sogleich die Gelegenheit beim Schopf fassen soll, Herr Erb —?“
„Bitte.“ Er setzt sich wieder in den Klubsessel.
„Aber, es ist nur so eine Art Doktorfrage, mehr akademisch konstruiert.“
Erb lächelt fast unmerklich. „Es handelt sich um eine Freundin. Nehmen wir einmal an.“
„Oder um einen Bekannten.“
„Schön. Um einen Bekannten.“
„Da war nämlich ein Preisausschreiben, das steht im Mittelpunkt.“
„Kreuzworträtsel?“
„Ach nein. Gut, also sagen wir, es handelt sich um einen Plan für ein grosses Bauwerk. In einer grossen Stadt. Alle deutschen diplomierten Architekten konnten sich an dem Wettbewerb beteiligen. Auch mein Bekannter hat einen Plan dafür ausgearbeitet. Aber eingereicht hat ihn ein anderer, der denselben Namen führt.“
„Mit Einverständnis von A.? Warum hat B. ihn statt seiner eingereicht?“
„B. hat den Titel Regierungsbaumeister. A. dagegen hat keinerlei Examina gemacht. Er ist Autodidakt. Ja, bei ihm war es der Krieg, wissen Sie, er hat vier Jahre in Gefangenschaft gelegen. Aber B. sagte: A. könne alles, was er für seinen Beruf braucht, er sei ein Genie, und auch seine Preisarbeit sei genial. Nun ist B. gestorben, und A. erhält die Nachricht, dass seine Arbeit preisgekrönt worden ist. Was soll A. tun?“
„Das Geld einstecken, selbstverständlich.“
„Müsste er dem Prüfungsausschuss nicht erklären, wie das alles zusammenhängt?“
„Das würde nur bedeuten, dass das Komitee an die Stelle des Preisempfängers den Verfasser der nächstbesten Arbeit als Ersatzmann rücken lassen würde. Todsicher scheidet ein Bewerber, der nicht mehr am Leben ist, bei einer solchen Aufgabe aus. Denn er würde doch, angenommen, dass die Arbeit zur Ausführung bestimmt wird, die Ausführung nicht mehr leiten können. Bei jeder Bauausführung gibt es aber doch nachträglich Änderungen, die der Prämiierte im Geist seiner Lösung durchführen müsste. Ist Ihnen das klar?“
„Ja, das ist mir klar.“
„Sind die beiden Herren Brüder?“
„Nein, nur Namensvettern. Aber sie waren gute Freunde. Sie haben zufällig auch Vornamen mit demselben Anfangsbuchstaben. Mit dem haben sie beide immer gezeichnet.“
„Hat B. Erben hinterlassen, die eingeweiht sind und dem Glücklichen den Preis streitig machen könnten?“
„Nein, niemand weiss darum ausser mir.“
„Dann halten Sie also reinen Mund.“
„Aber ist es auch kein Unrecht?“
Erb wirft den Zigarettenrest in den Aschbecher. „Unrecht gegen wen? Wer wird geschädigt?“
„Es war Bedingung, dass die Bewerber ihre Prüfungen abgelegt haben.“
„Sie wissen, wie ich über Prüfungen denke, liebes Fräulein. Das Diplom sagt gar nichts.“ Er tippt sich an die Stirn. „Hier oben sitzt es, Fräulein, hier oben.“
„Wenn ich nur nicht diese schreckliche Angst hätte, dass man dabei jemals gezwungen sein könnte, eine Lüge zu sagen.“
„Würde Ihnen das so schwer fallen?“
„Ich habe — wissentlich — in meinem ganzen Leben noch nie eine Unwahrheit gesagt.“
„Ideal. Aber unpraktisch. Schlimmer. Nicht nur unpraktisch für Sie, sondern unter Umständen auch schädlich oder verderblich für andere Menschen, die Sie nicht schädigen oder verderben möchten. Man hat nicht ohne weiteres das Recht, Wahrheitsfanatiker zu sein.“
Dodo seufzt leicht auf. „Freilich — von dieser Seite hab’ ich es noch gar nicht betrachtet.“
Er hat nach Hut und Handschuhen gegriffen und steht auf. „Also hab’ ich Ihnen wenigstens ein bisschen mit meinen Erfahrungen aushelfen können. Ich wünsche Ihnen das Beste. Für Sie und für Ihren Bekannten, den Herrn —?“
„Herrn A.“ Sie begleitet ihn auf den Gang hinaus. „Und ich wünsche Ihnen gute Überfahrt nach Südafrika.“
„Wenn Sie in Hamburg wie in New York Vermittlergebühren bezögen, würde ich meine Schiffskarte gleich bei Ihnen bestellen. Halt, bitte, hier, das ist eine äusserst seltene Briefmarke ... Natürlich, Sammler sind Sie auch nicht ... Also ich danke Ihnen nochmals. Und leben Sie recht wohl, Fräuleinchen!“
Jetzt, wo er den Hut aufgesetzt hat und man den mächtigen, lederfarbenen, kahlen Schädel nicht sieht, wirkt er noch fast jugendlich, dieser Herr Erb. Dodo sieht ihm lächelnd nach. Wenn sie nun wirklich die dreihundert Mark genommen hätte? Sie ist unschlüssig: soll sie Percy überhaupt etwas von dieser Begegnung sagen? Vielleicht lacht er sie aus.
Seltsam, dass eine so kurze Unterredung imstande gewesen sein soll, ein Prinzip in ihr zu lockern, das sie von Kindheit an als eine Lebensnotwendigkeit angesehen hat.
„Man hat nicht das Recht, Wahrheitsfanatiker zu sein, wenn man dadurch einen anderen Menschen schädigt.“ So oder ähnlich hat er zu ihr gesagt.
„Ja, sie sieht ein, dass dies nun Gültigkeit auch für sie hat. Denn sie steht ja nicht mehr allein. Percys Schicksal ist mit dem ihren verbunden. Sein Leben ist hart genug gewesen, sein Daseinskampf soll ihm durch ihren Wahrheitsfanatismus nicht noch erschwert werden.
Als sie nach Hause kam, teilte Percy ihr frohlockend mit, die vom Prüfungsausschuss nachgeforderten Zeichnungen seien fix und fertig. „Morgen früh fährst du mit mir nach Berlin, kleine Dodo!“
„Ohne Urlaub? Du, das wäre zu gefährlich.“
„Wirst eine ungefährliche kleine Erkrankung vorschützen; mal eine kleine Notlüge, Dodo. Mir zuliebe, Dodo. Oder ist es gar zu schwer?“
„Was täte ich nicht dir zuliebe, Percy?“
Und an diesem Abend entwickelt sie ihm allerlei Pläne über das Verfahren, das man den Preisrichtern gegenüber zu beobachten habe.
Percy staunt. „Darauf wär’ ich in meiner Wildnis in der Rúa del Villar nie verfallen. Du bist ein juristisches Genie.“
Sie nimmt die kleine Huldigung anscheinend gutgestimmt hin — ist innerlich aber doch ein wenig bedrückt und beschämt.
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