Читать книгу Der Preisgekrönte - Paul Oskar Höcker - Страница 5
ОглавлениеGanz Vigo ist unterwegs. Die 149 Reisenden, die am Pier vom städtischen Oberhaupt begrüsst worden sind, erleben eine Art Triumphzug durch die Stadt. Die offiziellen Gebäude sind fahnengeschmückt, Privatleute haben ihre schönsten Teppiche über die Fensterbrüstungen gehängt. In den Strassen bilden sich Spaliere. Die Reihe der Autos ist unabsehbar. So viel wie heute sind in Vigo noch niemals versammelt gewesen. Die Staatsstrasse von Vigo über das Vorgebirge nach Coruña ist in den letzten beiden Jahren mit hohen Kosten für den Autoverkehr ausgebaut worden. Man kann stolz auf die Leistung sein. Rivera, der Diktator, ist ein modern gerichteter Mann. Vermutlich wird sich von jetzt an ein unerhörter Fremdenzulauf aus Deutschland auf diesen exponierten Zipfel der iberischen Halbinsel stürzen. „Viva Alemania!“ „Viva Alemania!“
So geht es durch die ganze Provinz Galicia. Von Dorf zu Dorf hat sich die Kunde verbreitet. Man hat ja auch weither die Böllerschüsse gehört. Es ist ein strahlendheller Tag geworden. Die Strasse steigt in mehreren Kehren zu dem Höhenrücken auf, an den die fjordähnlich eingeschnittenen Buchten grenzen. Die Aussicht auf die vorgelagerten Inselgruppen wird immer malerischer.
Dodo Hartmann sitzt wie gewöhnlich im letzten Auto. Es ist eine ihrer Aufgaben, dafür zu sorgen, dass keins der Schäflein ihrer Herde verlorengeht. Des Staubes wegen gilt das Unterkommen an diesem Ende der Fahrkolonne nicht eben als Auszeichnung, aber heut wird das den weitgedehnten Zug beschliessende Auto immer wieder Mittelpunkt stürmischer Ovationen. Die Stadt- und die Dorfbewohner, die bei der Durchfahrt der vordersten Wagen noch nicht alarmiert waren, sind inzwischen vollzählig zur Stelle gelangt. In fünf- und sechsfachem Spalier säumen sie auch die breite Strasse zwischen den Wein- und Olivengärten beim Einzug in Santiago. Die Nebenstrassen sind mit Fahrzeugen aller Art vollgestopft. Man feiert heute ein hohes Kirchenfest. Aus der ganzen Provinz sind Wallfahrer unterwegs. Rund um die mächtige Kathedrale sieht man Kirchenfahnen, Pilgerzüge, Prozessionen, Schulen, Abordnungen. Und der Zug der Deutschen durch das bunte Menschengewühl wirkt wie eine besondere Nummer in dem Programm des Festtages von Santiago. „Viva Alemania!“ rufen die Spanier, jung und alt. Und die deutschen Reisenden geben immer begeisterter zurück: „Viva España!“
Die Begeisterung hält aber nur bis zu dem Augenblick an, in dem das Führerauto kehrt macht und Herr von Glüher nach der Passagierliste die Hotelanweisungen ausgibt. Der Reisemarschall und die ihm zu Hilfe geeilte kleine Sekretärin werden von ein paar Dutzend aufgeregter Herrschaften umringt, mit Fragen bestürmt, man reisst ihnen die Gutscheine aus der Hand, weil durch Hörensagen bekanntgeworden ist, La Francia sei das erste, Metropolitano dagegen das zweite Hotel ...
Der Agent Hemberger, der von der Abkanzlung durch Herrn von Glüher noch fast erschlagen ist, hat für eine Garde deutschfreundlicher Schüler und Studenten gesorgt. Sie sollen die Gruppen der Fremden gesammelt nach den verschiedenen Gasthöfen führen. Einzelne Misstrauische legen Eiltempo vor, um sich an Ort und Stelle die besten Plätze zu sichern.
Endlich ist der letzte Gast untergebracht. Die Autos fahren nach der Kathedrale, wo sie bis zum Spätnachmittag parken sollen. In der plötzlich eingetretenen Stille nach dem Sturm fühlt Herr von Glüher eine Art Erschöpfung. Er nimmt den Melonenhut ab und trocknet sich die Stirn. „Und was fangen wir beide nun an in diesem schrecklichen Kirchweihtrubel?“ fragte er seine Dolmetscherin.
Dodo bittet, sie zu beurlauben: sie will ja endlich ihren oft zitierten Onkel August ausfindig machen. „Ich dachte, ich würde ihn gleich bei der Einfahrt in die Stadt sehen, doch unter den vielen Tausenden ...“
Auf der mit noch unbelaubten Platanen bestandenen Avenida befinden sich nur noch ein paar Gruppen, meist Kirchgänger und neugierige Kinder, Landleute oder Handwerker mit breitrandigen Hüten und Ohrringen. Aber ein junger Mann in städtischem Anzug löst sich jetzt aus einer kleinen Schar und kommt quer über den Platz auf die drei Deutschen zu. Die ersten paar Worte spricht er spanisch, dann fährt er auf deutsch fort.
Er hat den Auftrag, das gnädige Fräulein zu begrüssen und nach der Rúa del Villar zu bringen. Herr Hartmann selbst könne leider das Haus nicht mehr verlassen.
„Onkel August ist krank?“ ruft Dodo tief enttäuscht.
„Seine Kriegsverletzungen. Er hat nun schon wieder ein paar schmerzhafte Operationen hinter sich. Kleine Knochensplitter im rechten Fuss und linken Knie. Aber er ist sonst sehr munter. Jedenfalls freut er sich auf Sie, Fräulein Hartmann.“
„Pünktlich um vier Uhr fünfzig bei der Kathedrale!“ ruft Herr von Glüher ihr noch nach, als sie mit ihrem jungen Führer die Avenida quert.
Die Spanier, die ihnen begegnen, mustern die Fremde voll Neugierde. Ein paar junge Burschen geben ihrer Bewunderung ungeniert Ausdruck. Was für schöne Augen sie habe! Und wie schön gewachsen sie sei! Ein ganz junges Bürschchen verliert sich sogar in die plastische Ausmalung von Einzelheiten. Dodo wird rot, denn sie versteht jedes Wort.
„Das ist nicht böse gemeint“, sagt ihr Begleiter lächelnd, „die Spanier haben nur eben so selten Gelegenheit, junge Damen zu Fuss auf der Strasse zu sehen, und Sie müssen bedenken, heute ist Kirchweihfest, und die deutsche Invasion hat alles ausser Rand und Band gebracht. Es sind übrigens nur noch ein paar Schritt.“ Der junge Deutsche hat sich ihr als Namensvetter vorgestellt: Armin Hartmann heisst er. Doch verwandt ist er mit Onkel August nicht. Er ist wohl mehr als einen Kopf grösser als sie. Sie kann sein Spiegelbild in den grossen Fensterscheiben unter den Arkaden sehen, durch die sie jetzt mit hallendem Schritt wandern. Er ist blond, wie zahlreiche Männer von Santiago auch, aber sein ganzer Typ wirkt hier doch fremdartig. Vor allem ist es das besondere Blau seiner Augen, das ihr auffällt. Irgendwie erinnert es Dodo an Nordseeküste und Meer.
„Was für ein Landsmann sind Sie eigentlich, Herr Hartmann?“ fragt sie ihn.
„Das ist nicht leicht zu beantworten. Vater war Westpreusse, ist aber in jungen Jahren nach Köln gekommen, da fuhr er als Rheinschiffer, Mutter stammte aus London, dort ging ich auch zur Schule, bis der Krieg ausbrach. Meine Heimat war dann vier Jahre lang die Gegend um Manchester.“
„Ach, dann sind Sie ja der Kamerad von Onkel August, mit dem er in Holyport zusammen war? Sie müssen entschuldigen, in seinen Briefen schrieb er immer Percy, drum wusst’ ich vorhin nicht gleich ...“
„In Holyport war ich Hartmann I und er Hartmann II, hernach in Handforth, wohin ich ihm folgte, zählten wir umgekehrt. Wir waren immer Zeltgenossen.“
„Sie haben sehr gute Kameradschaft gehalten, o ja, ich weiss.“
„Ich verdanke August viel. Und ich hab’s ihm nicht immer leicht gemacht. Drum hat er mich auch Percy getauft, damals im Kriegsgefangenenlager.“
„Nach dem Prinzen Heisssporn in Shakespeares Heinrich IV.?“
„Sie brauchen sich aber nicht gleich zu fürchten vor mir. In Freiheit bin ich ganz ungefährlich. Nur hinter Stacheldraht und Gittern ... Aber mein Sündenregister wird Ihnen August ja schon aufzählen. Er hat mir’s wenigstens mehrmals in Aussicht gestellt, wenn er mich zur Räson bringen wollte.“
„Also haben Sie ihm doch nicht nur in Handforth zu schaffen gemacht?“
„Bloss so kleine Rückfälle. — Hier ist das Tor. Da sehen Sie nun gleich einen echt spanischen Patio.“
Sie halten vor einem kleinen Laden mit geweihten Kerzen, Heiligenbildern und Madonnenstatuetten. Daneben öffnet sich hinter einem schmiedeeisernen Tor ein Hof mit Marmorfliesen, einem kleinen Säulenumgang, Lorbeerkugelbäumen und einem Löwenbrunnen, um den sieben bis acht Kinder aller Altersstufen sich lärmend tummeln; ein paar Frauen aus dem Volk, mit dunklen Augen, Schnurrbärten, schwammige Figuren in Nachtjacken von rosa Kattun, sitzen auf den Steinstufen des Säulenumgangs und pellen Bohnen, eine von ihnen säugt einen Bambino.
Er lächelt, da er Dodos verdutzte Miene gewahrt. „Es ist das keine Volksversammlung, sondern nur die Familie der Nichte unserer alten Wirtschafterin Maria Luisa. Das ist die dickste, die dort mit dem grössten Schnurrbart. Furchtbar gutmütige Leutchen alle. Aber August muss schon die ganze Verwandtschaft miternähren, das geht hier nicht anders. Allerdings sind sie alle sehr bescheiden, fast bedürfnislos. Und heute ist ein Fest für sie. Maria Luisa hat Ihnen zu Ehren Zwiebelkuchen gebacken. Daran wird noch die halbe Strasse teilhaben.“ Er wendet sich den Frauen zu, die sich feierlich erhoben haben, er begrüsst sie wie Damen der vornchmen Gesellschaft und stellt ihnen mit der landesüblichen Grandezza den Ankömmling vor. Die Frauen sind geehrt und beglückt und überhäufen Dodo mit Liebenswürdigkeiten.
Endlich gibt man sie frei. Die dicke Maria Luisa zeigt unter mehreren tiefen Komplimenten den Weg ins Zimmer des Señors Augusto, öffnet die Tür und kündigt den Besuch in stolzer Freude über ihr Heroldsamt, dem auf dem Bett liegenden Hausherrn an.
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