Читать книгу Der Preisgekrönte - Paul Oskar Höcker - Страница 9

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Wenn Dodo zu ihrer spanischen Lehrerin kommt, zweimal wöchentlich nach Kontorschluss, um Konversation zu üben, dann ist das ein farbiges Wiederaufleben der ganzen wunderschönen Reise. Die hier in Hamburg übermässig frierende Spanierin, die sich in ihren alten Seidenschal wickelt und mit den Händen über die mageren Oberarme streicht, um sie zu erwärmen, wird oft von Dodos feuriger Begeisterung für ihre Heimat mit ergriffen. Freilich: sie selbst kennt ja nichts von all den Herrlichkeiten, von denen ihre junge Schülerin ihr vorschwärmt. Sie ist die Tochter eines Küfermeisters aus Barcelona, eine dumme Liebesgeschichte hat sie nach Hamburg geführt. Das ist die einzige Reise ihres Lebens geblieben. Von den Männern will die frierende Spanierin seitdem nichts wissen.

Aber in Dodos Schilderungen kommt immer ein junger Mann vor. Dabei ist doch festgestellt, dass Dodo diesen jungen Mann erst ganz zum Schluss ihrer grossen Spanienfahrt kennengelernt hat. Die Lehrerin möchte immer wieder Ordnung in den historischen Verlauf der Geschehnisse bringen. Jetzt haben wir Orotava verlassen, besteigen den „General San Pedro“ wieder, geraten in die starke Dünung an der afrikanischen Küste und fahren dann bei herrlichem Wetter in den Hafen von Cadiz ein ... Wir sind doch noch lange nicht wieder in Santiago ... Die ältliche Spanierin beginnt schon ganz nervös zu werden und fängt wahrhaftig wieder an zu frieren. Übrigens vernachlässigt die junge Señorita auffallend die Gaumensprache des j, sobald sie sich in diese allzu oft erwähnte Besteigung des Glockenturms von Santiago verliert.

Einmal zeigt sich im Kontor die Dame, die die teure Luxuskabine B auf dem Bootsdeck innegehabt hat, erkennt die Stütze des Reisemarschalls und spricht mit ihr gnädig ein paar Worte über die Fahrt. Und da gerät die kleine Dodo auch sogleich wieder ins Schwärmen. „Ach, es war doch ein überwältigendes Erlebnis!“ sagt sie, und in ihren grossen, samtbraunen Augen schimmert es feucht. Ganz verdutzt mustert die Hamburgerin das kleine Kontorfräulein und sagt durch die Nase: „Tjo, ich weiss jä nich, was für’n überwältigendes Erlebnis Sie da unterwegens gehabt haben mögen, Fräulein, ich weiss nur, dass ich noch auf keiner Reise, aber auch auf keiner einzigen Reise, so bannig viel Unbequemlichkeiten und Unannehmlichkeiten hab’ in Kauf nehmen müssen für mein gutes Geld!“

Die Kolleginnen, die Fräulein Hartmann die Bevorzugung durch Herrn von Glüher noch durchaus nicht vergeben haben, fangen an zu kichern.

Dodo sieht sich verwirrt um, sagt noch etwas von dem Neuen und Grossen in der Natur, in der Kunst, und von den architektonischen Eindrücken besonders, aber die Dame aus der Luxuskabine B hört kaum mehr hin.

Es ist Dodos altes Schicksal: sie ist immer einsam, sie hat niemand, dem sie sich anvertrauen kann, der ihr auch nur zuhört. Im Landerziehungsheim galten bloss die Wilden etwas, die nachts aus dem Schlafsaal ausbrachen und Tollheiten anstellten. Vor ihr hüteten sie ihre Geheimnisse, die andern, denn sie hielten sie für ein Musterexemplar, sie fürchteten wohl gar, dass sie Angeberei triebe, weil sie niemals Strafe zudiktiert bekam. Sie wartete mit Ungeduld auf die Ferien, um nach Hause zu kommen, sie umgab ihren Vater mit einem romantischen Schimmer, hoffte von einem zum andern Mal immer stärker darauf, dass er sie nicht mehr als Kind, sondern als seine Freundin behandeln würde — sie hatte ihm ja soviel Seelisches zu sagen. Aber er war ein vielbeschäftigter Arzt, fand kaum Zeit für sich selber, geschweige denn für seine kleine Tochter ... Und dann spielte ja auch in den beiden Jahren vor dem Krieg die Sache mit Frau von T., die sich von ihrem Gatten scheiden lassen wollte; in den Sommerferien machten die beiden gefährliche Hochtouren, auf die sie nicht mitgenommen wurde ... Dann fiel der Vater in Russland, als Oberstabsarzt d. R., nähere Verwandte, die ihr ein Heim geboten hätten, waren nicht da, von dem Verkauf der Hinterlassenschaft wurde ihre weitere Pension im Landerziehungsheim bestritten, sie musste sich von der Selekta aus für einen praktischen Beruf vorbilden. Wo immer das Schicksal sie hinwarf, nirgends konnte sie festen Fuss fassen, die Menschen übersahen sie, und sie hätte doch so gern mit diesem oder jenem, mit dieser oder jener über innere Erlebnisse gesprochen. Was ihre Kolleginnen zu ihr sprachen, das konnte ebensogut ungesagt bleiben. Niemals wollten sie sich richtig über ein Buch äussern, das sie gelesen, ein Theaterstück, das sie gesehen. Nein, das war ihnen zu langweilig. Mit einer Geschlechtsgenossin konnten sie überhaupt nur über Kleider und über das eine einzige reden: den Flirt, den sie gerne hatten. Nun, der Flirt spielte keine Rolle in Dodos Mädchenzeit. Sie hatte ihre Hamburger Abende mit eiserner Konsequenz für das spanische Studium aufgespart. Der Lohn war ja nicht ausgeblieben. Aber es schien, als ob die Kolleginnen es ihr absichtlich unmöglich machten, ihnen irgend etwas von der Reise zu erzählen. Und es sprengte ihr jetzt fast die Brust. Die Briefe, die sie aus Santiago bekam, setzten das Märchenglück fort. Onkel August war niemals ein fleissiger Briefschreiber gewesen, er hatte sich also gern damit einverstanden gezeigt, dass Percy die Fäden, die sich in der Rúa del Villar angesponnen hatten, weiterspann. Es waren Briefe, wie Percy sie eben schreiben musste, so und nicht anders, einmal fein, besinnlich, dann plötzlich wie gepeitscht, jeder Satz ein Aufschrei, darauf wieder herzlich und werbend, und ein aufrichtiger Mensch mit ringender Seele sprach daraus. Jedenfalls eine genial veranlagte Natur. Was er ihr noch über Einzelheiten der Kathedrale schrieb, war so wundervoll erfasst, dass es sie wieder mitten in das künstlerische Erlebnis zurückversetzte. Kein einziges von den gelehrten Büchern, die sie über diese Kunstdinge gelesen, hat so unmittelbar zu ihr gesprochen.

Ein Brief von ihm bedeutet eine ganze Woche Glück. Sie antwortet ihm ja postwendend. Und er fühlt, scheint’s, die Verpflichtung, sie stets auf dem laufenden zu halten, jetzt, wo Onkel Augusts Befinden doch immer mehr zu wünschen übrig lässt.

... Aber dann kommt das Telegramm: die Trauerbotschaft. Und ein ganz kurzer, ernster Brief, der die letzten Stunden schildert, später ein ausführlicherer, der von den Verabredungen mit dem Notar und andern geschäftlichen Dingen handelt.

Von da an wartet sie ungeduldig auf jede Post.

Was plant er selbst? Wird er in Santiago bleiben? Hat Onkel August noch ausführlich mit ihm über die Zukunft gesprochen?

Die Aufstellung des Notars über das Erbe, das sie zu erwarten hat, macht sie recht mutlos. Sie hatte so ganz heimlich schon kühne Pläne erwogen. Sie selbst braucht Onkels Hinterlassenschaft nicht, sie kommt schon längst ohne Zuschuss aus. Wie wär’s, wenn Percy das Geld, das der Notar anweisen wird, von ihr geliehen nähme, um sein Studium zu beenden? Ohne Zinsen — nur so.

Oh, sie fürchtet fast dm harten Blitz, der da aus seinen plötzlich weit geöffneten Augen schiessen könnte. Denn er ist unberechenbar. Und beleidigen will sie ihn doch wahrhaftig nicht.

Aber es lohnt ja gar nicht, sich darüber Sorgen zu machen: was sie von ihrem armen Onkel August erben wird, das ist so geringfügig, dass es Percy bei dem teuren Studium für kaum anderthalb Jahre über Wasser halten könnte.

Endlich eine neue Nachricht. Die liegt in ihrer Stube auf dem Mitteltisch neben dem Gedeck mit ihrem Abendbrot, den beiden Rundstücken, den drei Kügelchen Butter, den beiden Sardinen, der Tomate und der Apfelsine. Es ist nur eine Postkarte, aufgegeben in Vigo. „An Bord des Achthunderttonnendampferchens ‚Melusine‘. Wir nehmen noch Weinladung und Kohlen ein, am Donnerstag geht’s um Kap Finisterre herum in die Biskaya. Von Kuxhaven aus komme ich nach Hamburg. Ich habe sechs Wochen Zeit, mir Arbeit zu suchen; also sag’ ich Ihnen gleich in der ersten halben Stunde in Hamburg guten Tag. Wenigstens rufe ich einmal auf der Reederei an, um Ihre Altstimme wieder zu hören. Viel Schweres liegt vor mir. Aber noch Schwereres hinter mir. Ich drücke Ihnen in Freundschaft die Hand. A. H., genannt Percy.“

Das sind nun Zeiten! Was kann Dodo tun, um die Wartefrist abzukürzen? Den Kolleginnen auch nur ein Wörtchen verraten? Unmöglich. Das käme ihr vor wie eine Entweihung. Einmal begegnet ihr Herr von Glüher. Er hält sie an, fasst ihre Hand, pätschelt sie väterlich und sagt, wie stets, ohne die Zigarre aus dem Mundwinkel zu nehmen: „Buenos días, Señorita.“ Ihre Augen funkeln ja. Fast wie die der Carmencita in Sevilla. Wissen Sie noch, im Varieté? Ach nein, das war damals nur für die unsoliden Herren der Schöpfung reserviert. Und war dabei so harmlos, wirklich. Wir machen einen San-Pedro-Abend. Da sollen Sie auch eine Einladung haben. Halten Sie sich den Sonnabend frei. Abgemacht?“ Sie hat ausgerechnet: Der Frachtdampfer wird Freitagnacht mit der Flut hereinkommen. Also wird sie sich den Sonnabend lieber nicht freihalten für das San-Pedro-Fest. Wie darf sie Herrn von Glüher aber einen Korb geben? Jede Verabredung sonst ist doch hinfällig einer solchen Auszeichnung gegenüber. Selbst jedes Theaterabonnementsbillett ... Sie ringt mit sich, es will ihr tief aus dem Herzen heraus: „Armin Hartmann kommt, Sie wissen doch noch, Herr von Glüher, Percy Hartmann, der mich damals in Santiago zu meinem Onkel August abholen kam ..“ „Na, Sie können sich’s ja überlegen, ich weiss selbst noch nicht, ob Platz sein wird diesmal, der enge kleine Saal, na, dann ein andermal, Fräulein Hartmann!“ Er tippt an den Hutrand und geht weiter. Dodo fühlt: er ist ungehalten über ihr Zögern.

Sie studiert die Wetterberichte. Ein Tief naht vom Atlantischen Ozean, Sturmmeldungen von der spanischen und französischen Küste. Der „General San Pedro“ fasst sechstausend Tonnen, die „Melusine“ nur achthundert. Das wird ja ein tüchtiges Geschaukel geben. Aber Percy ist nicht so zimperlich wie verschiedene elegante und hochmütige Passagiere des grossen Luxusdampfers —!

Heute will die spanische Übersetzung des Protokolls über die Generalversammlung der Reederei, die sie als Nebenarbeit übernommen hat, gar nicht vorwärtsgehen. Dodo ist zerstreut. Sie denkt an den einsamen Kajütenpassagier auf dem Frachtschiffchen. Jetzt muss die „Melusine“ doch schon im Kanal schwimmen, wie? Sie blättert in der Zeitung nach dem Datum.

... Und da klammert sich ihr Blick plötzlich an eine Sperrdruckzeile mitten in einem Telegramm aus Berlin ... Da steht nämlich der Name: Architekt A. Hartmann, zurzeit Santiago.

Sie liest zweimal, dreimal. Die Preisrichter haben die Prüfung der 1187 Wettbewerbarbeiten, die für den Plan zur Erbauung des Volkspark-Stadions an der Havel gegenüber Pichelswerder eingelaufen sind, beendigt und soeben ihre Entscheidung verkündigt. Der erste Preis in Höhe von zwölftausend Goldmark ist dem bekannten Architekten Geh.-Rat Prof. Dr.-Ing. Nathusius, Darmstadt, zuerkannt worden; sein Plan ist sehr grosszügig und sieht eine völlige Neugestaltung des östlichen Ufers vor. Den zweiten Preis in Höhe von sechstausend Mark hat ein allerseits unbekannter Architekt namens A. Hartmann, zurzeit Santiago, erhalten. In den dritten Preis von dreitausend Mark müssen sich zwei Bewerber, da auf sie die gleiche Stimmenzahl entfiel, teilen: Reg.-Baumeister Krumme, Berlin, und Dipl.-Ing. Prof. Leyser, Hannover. Lobende Erwähnung haben ausserdem siebenundzwanzig Arbeiten erhalten. Das Kuratorium wird in der nächsten Sitzung Beschluss über die Ausführung des an erster Stelle preisgekrönten Planes fassen; das Werk soll beschleunigt in Angriff genommen werden, um das Volkspark-Stadion bereits im übernächsten Sommer, wenn nicht schon im Frühjahr, der Öffentlichkeit zu übergeben. Man hofft auf äusserstes Entgegenkommen von seiten der Staats- und städtischen Behörden, weil ein grosser Teil der zu vergebenden Arbeiten ihrem Charakter nach als Notstandsarbeiten gelten kann und so geeignet ist, die mächtig angewachsene Ziffer der Erwerbslosen wesentlich herabzudrücken.

Dodo schiebt die Übersetzung beiseite, holt aus dem Kleiderschrank ihre Lederkappe und den englischen Regenmantel — denn es ist hässliches Aprilwetter, Regen mit Graupeln gemischt —, sie läuft auf die Strasse und überlegt sich erst hier, was sie eigentlich will. Noch eine Zeitung kaufen! Noch ein paar Zeitungen kaufen! Sie muss doch Genaueres erfahren. So schüchtern sie sonst ist: heute wagt sie sich ins Alster-Café und setzt sich in die Nähe des Zeitungstisches. Einen wahren Kampf hat sie auszufechten mit einer Art Zeitungstiger, einem kahlköpfigen, lederfarbenen, kurzsichtigen Manne, der die noch ungelesenen Zeitungen auf dem leeren Stuhl neben sich aufhäuft, ja er hat die Zeitungshalter sogar zum Teil unter seinen Sitz geschoben. Stück für Stück muss sie die Freigabe erbetteln. Der unangenehme Patron lässt dabei etwas fallen wie: „Aha, Heiratsannoncen!“

Der Bericht über die Entscheidung des Preisrichterkollegiums ist in allen Blättern gleichlautend.

„Um fünf Uhr früh kommen die Morgenausgaben aus der Druckerei, die Berliner kommen dann mit dem Flugzeug“, unterrichtet sie hernach der Zeitungskellner.

Für den Sonnabend hat sie nun also diese Riesenüberraschung für Percy!

Über ein Dutzend Zeitungsausschnitte hat sie im Verlauf der letzten beiden Tage gesammelt und aufgeklebt. In jeder einzelnen Notiz ist von ihr der Name A. Hartmann, zurzeit Santiago, rot unterstrichen.

Ach, wenn doch nur das schreckliche Graupelwetter aufhörte! Wie soll so ein armer kleiner Achthunderttonnendampfer bei dieser Unsichtigkeit ohne Unfall durch die graue Nordsee nach Kuxhaven finden!

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Der Preisgekrönte

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