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ОглавлениеBöhmen, Sommer 1974
Die unerwartet großzügige Offerte, die klang, als ob StB nicht Staatssicherheits-, sondern Staatsreisebüro bedeute, zog der Magier Dr. Černý allerdings nicht aus dem leeren Zylinder. Die Illusionisten dieser Firma beherrschten geläufig sensationellere Tricks als das bloße Lesen verschlossener Briefe. Das Angebot des Ernst-Deutsch-Theaters konnte ihm nicht unbekannt sein, doch das allein erklärte nicht den Looping, nach dem mir anstelle des Abschusses ein Aussichtsflug winkte.
Gemeinsam mit Zet reiste ich rasch zu den engsten Freunden. Sorgfältiger als in den fünfziger Jahren machte ich jetzt von jedem Treffen mit den Geheimen kurze Aufzeichnungen, und noch backfrisch lieferte ich sie vor allem jenen, mit denen mich seit der Petition ein gemeinsames Los verband. Wobei uns für die Beurteilung unserer Situation auch kleine Nuancen im Benehmen des mächtigen Amtes oft wichtiger waren als die abgehandelten Themen.
Wir alle wußten inzwischen, daß man uns selten festnahm, weil man etwas über und gegen uns wußte, sondern viel eher, um erst einmal überhaupt etwas herauszukriegen, vielleicht nur durch unsere Reaktion auf Randthemen. Vor allem interessierte sie dabei der Zustand unserer Finanzen und Arbeiten, Körper und Seelen. Während sie uns dank der Stärke ihrer Technik und der Schwäche unserer Mitmenschen Tag und Nacht wie auf dem Röntgenschirm vor sich hatten, bot mir gerade die direkte Konfrontation mit ihnen die einzige Möglichkeit, irgendetwas über sie zu erfahren.
In dem neuesten Bericht beschrieb ich die Zusammenkunft mit der Präzision eines Reporters und der Distanz eines Dramatikers. Einige sahen darin nur ein neues Stasi-Theater. Doch herrschte der Eindruck vor, daß die dringend etwas brauchten, wofür sie sogar bereit waren, den Käfig ein wenig zu öffnen. Kein Jahr später sollte uns dann der Säugling namens «Geist von Helsinki» überraschen. Die Sowjetunion brauchte anscheinend diese unreife Frucht ihrer plötzlichen Liaison mit dem Westen zu irgendetwas Wichtigem, und die Polizisten zwischen Elbe und Stillem Ozean, die für das richtige Klima zu sorgen hatten, gerieten in Schweiß, als sie aus ihrem Fundus Schafspelze hervorholten und über ihre Wolfspelze zogen.
Von diesem sich anbahnenden Prozeß hatte ich allerdings keine Ahnung, doch entging mir nicht, daß die Konfrontation zeitweilig auf Eis gelegt wurde. Die Vorstellung, einige Monate wieder sinnvoll leben und schreiben zu können, ohne ständig belästigt zu werden, brachte mich auf den Gedanken, die Einladung aus Hamburg anzunehmen. Mit dem plötzlich unbehindert angereisten Friedrich Schütter vereinbarten wir unter sechs Augen, daß es uns dabei mehr als um das Engagement um eine Verschnaufpause ging, die man uns für die ganze Zeit der Reisevorbereitungen gönnen müsse. Für mich ging es zusätzlich um den Test, wie weit das Regime seine plötzliche Liberalität ernst meinte, oder ob es uns nur eine Falle zu stellen versuchte.
Gegen ihren allmächtigen Apparat, der mit seiner Wahrheit schon zehn Jahre vor Orwells 1984 dessen Dichtung in fast allem übertraf, besaßen wir nur so nebelhafte Vorteile wie ein gutes Gewissen, das Bewußtsein der erkannten Wahrheit, eine allgemeine, wenn auch verborgen geäußerte Sympathie der Mitbürger und die Freundschaft der offenbar besten Männer und Frauen, die dieses Land gerade hatte. Unsere einzige, wirklich wirksame Waffe war Phantasie.
Sie, die einem Schriftsteller in normaleren Zeiten überwiegend zur schöpferischen Arbeit dient, hatte schon viel früher den Nichtkommunisten unter uns geholfen, wenn sie sich gegen das Regime hatten durchsetzen wollen. Insbesondere Václav Havel hatte im Ringen mit den Zensoren und Ideologen der Partei und des Staates eine ganze Palette feiner Mittel angewandt, die den innerparteilichen Kampf der Reformkommunisten ergänzten.
So begegneten sich Mitte der sechziger Jahre zahlreiche seiner und meiner Initiativen, und so wurde ich eine Art Stammunterzeichner all seiner Petitionen zur Lockerung der strammen Kulturpolitik. Dieser Prozeß fand Anfang 1968 in unserer parallelen «Beförderung» in vergleichbare Funktionen seinen Höhepunkt, als er zum Vorsitzenden des Kreises der unabhängigen Schriftsteller gewählt und ich zum Vorsitzenden der kommunistischen Literaten Prags erkoren wurde.
Und so fanden gegen Ende der sechziger Jahre, als uns die Schikanen und Repressionen in gleichem Maße trafen, auch unsere Lebenswege zusammen. Havels ehemaliger Vorteil, Sprecher der nichtkommunistischen Mehrheit zu sein, wandte sich paradoxerweise nun gegen ihn, da ihn mehr Verbündete verließen als mich, der ich zur kommunistischen Minderheit gehörte. Ich glaube, daß gerade damals auch kritische Demokraten vom Schlage Havels eine bedeutsame menschliche und politische Entdeckung machten:
Die Qualität einer Persönlichkeit wird nicht so sehr von ihrem politischen Programm bestimmt, sondern von der Fähigkeit, Werte des Lebens und der Gesellschaft zu verteidigen.
Während sich der Würgegriff der neuen Eiszeit immer enger schloß, lernte ich Václav Havel gleich zweimal zu schätzen: Als einen Mitstreiter, auf den ich mich verlassen konnte wie auf mich selbst, und als einen Mann, auf den das unpassende Wort «bezaubernd» paßte.
Er schien in die zynisch verlogene Husák-Ära direkt aus der Renaissance gekommen zu sein. Seine Freude am Leben war unschlagbar, seine Gastfreundlichkeit umwerfend. Trotz seiner brillanten Intelligenz und seines kämpferischen Geistes bewahrte er sich eine Art primärer Unschuld. Sie verführte ihn oft zu falschen Erwartungen; aber auch Menschen gegenüber, die ihn verraten haben, verhielt er sich nachsichtig, immer zur Versöhnung bereit.
Die Diener der Macht haben seine stille Anständigkeit lange Zeit fälschlich für einen Ausdruck der Schwäche gehalten, bis sie begriffen, daß sich an seiner prinzipiellen Haltung gar nichts änderte, die ihn mit vielen anderen immer fester verband.
Die einzigartige Erscheinung, daß führende tschechische Schriftsteller in den schweren siebziger Jahren treue Freunde wurden und es bis heute geblieben sind, ist nicht ganz mit dem Effekt der belagerten Festung zu erklären. Das Ergebnis war nicht nur die erfolgreiche Verteidigung des Rechts auf eigene Meinung, sondern auch ein Feuerwerk von Intellekt und Gefühl: Es brachte neben vielen bemerkenswerten künstlerischen Werken auch Hunderte von Feststunden mit sich, die zu Feiern der Freundschaft wurden.
Allmählich bildeten sich zwei Stützpunkte heraus: Havels Refugium in dem kleinen Walddorf Hrádeček, ganzjährig bewohnbar, und unser Prager Zuhause, erweitert um das Sommerdomizil an der Sázava. Die kleine Hradschiner Wohnung, zur Zeit noch Hauptort unseres Lebens, wurde zum Schauplatz kurzer, aber um so fröhlicherer Feste, vor allem anläßlich der entfernten Buch- oder Theaterpremieren, nach denen uns die unsichtbare Welt von weitem anrief und über deren Verlauf berichtete. Die 54 Quadratmeter Wohnfläche beherbergten einmal anläßlich Zets Dreiunddreißigstem die Rekordzahl von dreiunddreißig Besuchern; schlafen konnte bei uns nur einer von ihnen, der vom Lande kam; den betteten wir in der Küche.
In Sázava konnten bis zu zehn Freunde übernachten, sie kamen meistens übers Wochenende. Zu unseren Freuden gehörte es auch, mit der Lokalbahn nach Český Šternberk zu fahren und von der stolzen Burg durch die Wälder zurückzuwandern. Jahr für Jahr kamen immer mehr Hindernisse von unverarbeiteten, nach Stürmen abgebrochenen Ästen und Zweigen hinzu, die mangels Arbeitskräften zum Verfaulen verurteilt waren. Immer gewann, wer dich in diesem Dschungel an der Leine führte, mein unermüdlicher Dackel, du hast Wild gewittert und gezogen wie ein Ochse.
Havels einfühlsam umgebautes Bauernhaus bei Trutnow, nur einen Steinwurf von der Ruine einer kleinen Festung entfernt, auf der unser Vorfahr Jan Amos Comenius jahrelang vergeblich gewartet hatte, bis die Habsburger Böhmen verließen, bevor er selbst es mußte, diese Residenz schien aus Gummi zu sein. Zu Ostern oder zu Silvester, aber auch ohne jeglichen Anlaß und meistens auch ohne Einladung, fanden sich dort zwanzig, dreißig Gäste ein, und trotzdem erwischte jeder irgendwo ein Stück Dach über dem schlafenden Haupt. Nach langen, lebhaften Nächten schlenderten sie den ganzen Vormittag in die Küche, um sich ihr Frühstück selbst zu richten, wo Olga, die Herrin des Hauses, in fremde Schicksale vertieft ein Buch nach dem anderen zu einer Zigarette nach der anderen verschlang und der allmählich erwachende Gastgeber mit schlafwandlerischen Bewegungen den Braten für den Abend spickte.
«Es geht uns aber gut!», pflegte Zet, wenn aufs neue die Gläser gefüllt wurden, ihren berühmten Toast zu verkünden.
«Was würde der Genosse Husák dazu sagen?» pflegten wir zu fragen, wenn in der Küche im Schleier der Düfte Havels Schnitzel à la Berry, Zets Pfarrerkoteletts oder meine Linsen mit Reis gleichzeitig mit dem Abendstern aufgingen.
Wir waren zufrieden, daß wir der unwirklichen Übermacht nicht als ein Häufchen Verzweifelter gegenüberstanden, sondern als eine Gruppe freier Menschen, die es sogar auch in dieser Situation fertigbrachte, wahrhaft glücklich zu sein. Mit der Lust, die uns unsere neuen Texte und neuen Treffen brachten, unterzogen wir uns auch neuen Prüfungen der Standhaftigkeit, welche die unbekannten Köche der Macht für uns zubereiteten und die uns ihre pickeligen Pikkolos und obskuren Ober servierten. Immer wieder halfen uns Phantasie und gegenseitige Information.
Auch jetzt erläuterte ich meinen Freunden der Reihe nach, warum ich beide Angebote, das Schütters und das des Dr. Černý, annehmen wollte. Ich wollte mit größter Vorsicht ausprobieren, ob sich unser aller Isolierung zumindest für einige Zeit durchbrechen ließe, ohne daß der Versuch in erzwungene Emigration mündete, und vor allem, ob dies «ohne Verlust der Blume» möglich wäre, wie wir mit dem Slogan eines damals laufenden Fernsehwettbewerbs die Schwindsucht des Charakters umschrieben.
Der Gönner in Hamburg wußte, daß ich bei Gefahr den Countdown sofort abbrechen würde. Das teilte ich auch Dr. Černý offen mit und beantragte auf üblichem Behördenwege für Zet und mich die Neuausstellung der uns entzogenen Reisedokumente. Die Stasis verschwanden aus unserem Leben wie Mitternachtsgeister, und ich schrieb in Ruhe für die internationalen Musikfestwochen in Luzern das Drama Roulette nach L. N. Andrejevs Erzählung Dunkelheit. Diese düstere Geschichte eines enttäuschten Revolutionärs und einer enttäuschten Dirne, die am liebsten ihre Schicksale vertauschen würden, beschäftigte mich in Verbindung mit dem Aufflammen des individuellen politischen Terrors in Westeuropa.
Sechs Wochen später bekamen wir nach sechs Jahren die zu dieser Zeit begehrtesten tschechischen Bücher wieder: Pässe.
Am Mittwoch, dem 10. Juli, flogen wir erst einmal nach Budapest.