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ОглавлениеBöhmen, noch Winter 1974/75
Im ganzen fanden wir vier Paare Fangeisen und brachten sie als Beweis Dr. Brož mit. Selbst Dackelzüchter, war er, einst ein Freund von uns, gegenwärtig wenigstens ein korrekter Nachbar hinter dem großen Feld. Erst nach der Charta 77, wenn er um seinen neuen Rang als Kreisveterinär zittern wird, läßt er sich im Rundfunk darüber aus, was für einer ich schon immer war.
Wilderei ist in diesem immer noch zivilisierten Land strafbar, außerdem machte die Stärke der Federn, in denen ihr beide während der Nacht erbärmlich hättet erfrieren können, wäret ihr in diesem verlassenen Winkel allein gewesen, aus dem Vorfall einen Anschlag auf Menschen. Deshalb erschütterte es mich, als Dr. Brož verlegen gestand, diese Sitten würden in der Gegend toleriert, gegen den bösen Fuchs, versteht sich, doch bleibe ein dummes Kaninchen stecken, verachte es der staatlich zugelassene Jäger auch nicht: Bis zum Morgen wäre schon jemand gekommen und hätte sie befreit.
Merkwürdig, nichts von den Widerlichkeiten, die wir bis jetzt durchgemacht und durchgefürchtet haben, erfüllte mich mit dem Gefühl einer solchen Ohnmacht wie diese Waldepisode. Und wenn in drei Jahren als letzte Aktion des unbekannten Großen Manipulators der Untersuchungsbeamte Marcel Malkus als Wilderer von Amts wegen für Zet das Fangeisen legt, erinnere ich mich sofort an das Bild von euch zweien, in den zugeschnappten Zangen gefangen und einander erschreckend ähnlich ...
Am Donnerstag, dem 9. Januar, brachte die Zeitschrift Tvorba ein Gespräch mit Bohumil Hrabal. Der regierende Fürst der tschechischen Prosa begrüßte darin die Kulturpolitik der kommunistischen Partei des Doktor Husák, wie sie der letzte Parteitag beschlossen hatte, und meldete sich auf diese Weise aus dem Kulturfriedhof ab. Das Regime konnte das mit Recht für seinen größten Erfolg bei der Gewinnung der Ungebesserten halten, von deren Größten nur noch Jaroslav Seifert, der regierende Fürst der tschechischen Poesie, übriggeblieben war.
Wir waren tief davon betroffen, wie alle unsere Freunde, und auch die Massen seiner begeisterten Stammleser, die einst von Mitternacht an Schlange vor den Buchläden gestanden hatten, wann immer donnerstags ein «neuer Hrabal» herauskommen sollte, und die sich in den letzten Jahren aus Vaculíks Petlice-Ausgaben eigenhändig die wundersamen Romane Ich bediente den englischen König und Die Stadt, in der die Zeit stehenblieb abschrieben.
Der junge Prager Musik-Underground, der immer mehr ins Feuer der Macht geriet, veranstaltete sogar eine Verbrennung der Bücher seines ehemaligen Gottes, der zeitiger Ruhe den Vorzug vor ewigem Ruhm gab. Daß zu den amtlichen Reißwölfen jetzt noch private Scheiterhaufen kamen, erschien mir besonders ganz schrecklich. «Diese Generation erinnert das an gar nichts!» verteidigte sie jemand. Daß diese Jüngeren sich das teuflische Ritual selbst neu ausgedacht haben sollten, kam mir noch erschreckender vor.
Der freie Fall der Gegenstände zwingt den Menschen, nicht am Gravitationsgesetz zu zweifeln. Die historischen freien Fälle hatten mich schon längst davon überzeugt, daß bestimmte Mittel, und würden sie auch zu den heiligsten Zwecken angewandt, gesetzmäßig den Weg zur Hölle pflastern. Diese bedrückenden Flammen jedoch zwangen mich, mich mit Hrabals «Besserung» gründlicher zu beschäftigen. Er war doch schon einmal totgeschwiegen worden, als ich noch glaubte, meine Revolution sei die einzig gerechte in der Geschichte.
Im Vergleich mit den denunziatorischen Widerrufen des Dichtes Holub vom vorvorigen Jahr, und auch mit vielen mea culpa-Eingeständnissen, die folgen sollten, so etwa mit dem Šotolas oder Mencls, die sich aus Reue namentlich von ihren angeblichen Verführern distanzierten, ergab sich Hrabal auf eigene Kosten und auf seinem Niveau: Er ließ sich mitten in sein unwiederholbares Vokabular zwei schäbige Funktionärssätze hineinpfuschen. Sie ragten aus dem Aufsatz heraus wie Balken mit der Aufschrift: Vorsicht, Verseucht!
Jiří Šotola schrieb seine Irrtümer den Redakteuren jener Blätter zu, deren Chefredakteur er vorher gewesen war. Der Regisseur Jiří Mencl beschuldigte jene Filmkritiker der politischen Manipulation, die ihn in den sechziger Jahren eben zu Mencl gekürt hatten. Ich erinnerte mich an die aufrichtige Empörung dieses damals noch jungen Mannes, als er mich 1966 in der Fernsehsendung Der Streit fragte, wie denn die Verbrechen der fünfziger Jahre hinter unserem Rücken geschehen konnten. Die Verbrechen der siebziger Jahre bemühte man sich gar nicht mehr vor ihm zu verbergen, und er stellte diesmal keine Fragen.
Die blutige Mafia der Macht aus den Zeiten des Kalten Krieges begann Mitte der fünfziger Jahre zurückzuweichen aus Angst vor dem Zorn enttäuschter Idealisten, die bereit waren, sich ihrer verratenen Träume wegen zu rächen. Die moderne Mafia der Parteibürokraten stellte bald fest, daß die zornigen jungen Männer der sechziger Jahre sich unter dem Eindruck der Panzer schnell beruhigten und ihre Ideale gegen pragmatischen Zynismus austauschten.
Die Partei, die selbst ihre besten eigenen Kräfte zur Ader gelassen hatte, fand die neuen Verbündeten eigenartigerweise gerade in den einstigen Opponenten. Wie gefallene Mädchen, die sich unter dem weißen Schleier Unbeflecktheit einreden, schufen sie sich eine neue Moral: Wenn sich die Kommunisten gegenseitig auffressen, entstünde endlich der verdiente Raum für sie. Die stillen, aber beharrlichen Rebellen wie Václav Havel, den Philosophen Patočka und andere ihrer geistigen Führer von gestern schrieben sie mit dem Seufzer ab, einen Märtyrer habe die Nation schon in Hus, jetzt brauche sie Lebende, die auch für den bitteren Preis von Konzessionen die tschechische Kultur und Bildung für die Nation erhielten.
Diesen Gedanken, und sei sein Vater ein noch so egoistischer Wunsch, kann man nicht mit einer Handbewegung abtun. Die tschechische Kultur längerfristig den Beamten, Dilettanten und Schlagersängern zu überlassen, hätte zu dauernder Schädigung jenes Teils der Nation führen können, der zu Hause keine Bücherschränke voller Čapeks und Hemingways hatte. Zu sehr ist in meinem Gedächtnis eingraviert, wie auch die gelichtete heimische Kultur während des nazistischen Protektorats meinen Geist erhob und einige wenige herausragende Werke in dieser mörderischen Dunkelheit sogar den Geist der ganzen Nation aufrüttelten.
Der Fall Hrabal sollte eine eigenartige Fortsetzung erfahren. Seine Wende wird die Mohren aus dem neuen Schriftstellerverband auf die Barrikaden treiben, die sich zum ersten Mal wirklich bedroht fühlen. Als erstes erreichten sie, daß er nur Randthemen veröffentlichen durfte, meilenweit entfernt von den tiefen Wunden des Lebens, die er früher enthüllte, um sie mit dem heilenden Verband seiner unendlichen, bizarren Sätze zu umwickeln. Dann gelingt ihnen noch etwas ganz Unwahrscheinliches.
Zwei der schönsten Texte Hrabals, Die Stadt, in der die Zeit stehenblieb und Allzu laute Einsamkeit, erscheinen endlich im Druck – gröbstens verunstaltet. Verglichen mit den ursprünglichen Fassungen in der maschingeschriebenen Edition Petlice stellen die Berichtigungen die Moral der Geschichten auf den Kopf. Ob nun Hrabal selbst der Henker in eigener Sache war oder aber der Verkrüppelung nur schweigend zugestimmt hat, ähnlich wie den zwei Sätzen seines Widerrufs in der Tvorba, die Sache erinnerte mich an Eduard Goldstückers Erklärung, warum er sich bei den Verhören in den fünfziger Jahren mit absurden Aussagen den eigenen Strang knüpfte: nämlich in der Hoffnung, nur so der Welt die Herrschaft der Lüge offenbaren zu können – eine irrige Hoffnung, wie sich zeigen sollte.
Trotz all dem war mir klar, daß damit die kostbaren Originalfassungen dieser beiden Texte nicht aus der Welt geschafft werden konnten und eines Tages in ihrer vollen Schönheit aufleuchten würden und auch, daß die meisten früheren Meisterwerke Hrabals durch diesen unrühmlichen Akt den zeitgenössischen Lesern en masse erhalten blieben.
Das Problem, das zu schnellen Stellungnahmen verlockt, entzieht sich einem krassen Urteil. Wenn ich die Reihen der tschechischen Literaten der Vergangenheit überblicke, so ähneln sie einem unter dem Kartätschenbeschuß marschierenden Regiment, so viele Tote und spurlos Verschwundene gab es allein durch die Einwirkung der Zeit. Unter den wenigen, die heil zu dem heutigen Leser gelangten, gibt es auch solche, die in den schicksalsschweren Stunden der Nation versagten, während unter den anderen so mancher ihrer wahren Helden vergessen ruht.
Inwieweit trägt das Werk für die falsche Handlung seines Autors Verantwortung? Vielleicht ebensowenig wie ein Autor die Verantwortung für die falsche Handlung seiner Personen? Wie ist das alles zu beurteilen?
In seinem beklemmenden Roman Langeweile in Böhmen beschreibt Alexander Kliment die innere Qual eines parteilosen Architekten, den seine moralische Haltung mit den Jahren auf ein Abstellgleis brachte, von dem aus er dann mitansehen muß, wie seine weniger moralischen Kollegen sich gerade durch ihre Inkonsequenz die Möglichkeit verschafften, ihrem Volk nützlich sein zu können.
Der Autor selbst hat wie sein Held die eigene Chance geopfert und seine leisen, wunderbar poetischen Töne verstummen lassen, um bei der erkannten Wahrheit bleiben zu dürfen; nicht jeder hat das unschlagbare Aufstehvermögen eines Havel oder Vaculík, von mir ganz zu schweigen.
Und was die Hrabals und Kliments angeht: Wer sind die Sieger, wer die Besiegten? Wer hat der Literatur und seiner Gesellschaft einen größeren Dienst erwiesen – der Meister der Kapitulation, der seiner kapitulierten Nation mindestens zum Teil erhalten bleibt, oder aber der Meister des moralischen Trotzes, der ihr schon das zweite Mal – und wer weiß, ob nicht für immer – verlorengeht?
Ich weiß es, und ich weiß es nicht.