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Böhmen, noch Frühling 1974

Einer der Briefe, die nach der Februarbelagerung ankamen – bisher lasen die Stasibrieföffner sie nur früher als ich; daß man ausschließlich schlechte Nachrichten durchlassen kann, werden sie erst nach der Charta 77 entdecken –, sollte dieses ganze Jahr kennzeichnen. Der Schauspieler und Intendant Friedrich Schütter, einer der vielen westlichen Künstler, die die historische Bedeutung des Prager Frühlings begriffen hatten, und einer der wenigen, die mit ihm weiter solidarisch geblieben sind, bot uns ein zweijähriges Engagement an seinem Ernst-Deutsch-Theater an, mir als Autor und Regisseur, Zet als Dramaturgin und Regieassistentin: Gemeinsam hatten wir bei ihm in Hamburg schon im Frühling 1969 mein Stück So eine Liebe inszeniert.

Dieses gutgemeinte Angebot ähnelte trotzdem der Einladung an einen Schimpansen im Zoo, für einige Zeit seine Verwandten in Freiheit zu besuchen. Mir hatte man den Paß bereits vor viereinhalb Jahren abgenommen, Zet im vorigen Jahr, als sie versuchte, in Bulgarien Urlaub zu machen. Auf die Frage «Warum?» antwortete ein fescher Jüngling in Uniform, der ihr mit dem grünen Büchlein zugleich die große weite Welt wegnahm, witzig:

«Sie haben schlecht geheiratet.»

«Wenn ich mich scheiden lasse», wollte sie wissen, «bekomme ich ihn dann zurück?»

«Versuchen Sie’s!» riet er vielversprechend.

Kopfschmerzen verursachte mir eine Einschreibekuvertsendung von der Zeit, darin der offene Brief, den Günter Grass am 15. März an mich gerichtet hatte. Den neuen Dialog über die Grenzen, den ich gleich nach der Okkupation vergeblich fortsetzen wollte, eröffnete er in Unkenntnis der Lage leider zur denkbar unpassendsten Zeit. Das Wasser in unserem Fluß reichte uns jetzt bildhaft bis zur Nase.

Schon die Namen der Teilnehmer des Colloquiums von Biévres bei Paris über die Tschechoslowakei und den Sozialismus – mit den emigrierten Protagonisten des «Prager Frühlings» Pelikán, Goldstücker und Hejzlar – wirkten hier wie ein riesiges rotes Tuch, um so mehr die Thesen, zu denen ich mich äußern sollte:

«Wer den demokratischen Sozialismus will, kann nicht mit Kommunisten zusammenarbeiten ...» Oder: «Wer für den demokratischen Sozialismus ist, den muß die Unterdrückung der Menschenrechte durch den Sowjetkommunismus mehr schmerzen als der faschistische Terror.»

Ausweichend zu antworten, kam nicht in Frage, direkt zu antworten, bedeutete zu diesem Zeitpunkt die totale Konfrontation mit der hysterisch aufgebrachten Macht. Der Frühling zog uns hinaus an die Sázava. Nächtelang bemühte ich mich in der Halle um einen Text, der mich zwischen Scylla und Charybdis hindurchlotsen könnte. Die Konzepte legte ich im Kamin ab, um sie jederzeit mit einem einzigen Streichholz in Asche verwandeln zu können. Tagsüber kehrte ich altes Laub zusammen und grub den Kompost um, wie immer, wenn ich mich für den schwachen Zustand meines Geistes strafen wollte.

Ich achtete darauf, daß du mir nicht unter den Spaten gerietest, mein allgegenwärtiger Dackel, und dachte über das eigenartige Vermächtnis meiner Mutter nach, jene Sicht der Welt nämlich, in der ich bereits im stinkenden Mist die süßsauren Gurken rieche, in welche Zet den Humus in unserem kleinen Treibhaus wundersam verwandeln wird; wäre ich dagegen imstande gewesen, bereits in den Gurken den Mist zu riechen, ich hätte meine naiven frühen Oden nie geschrieben. Wer und wo wäre ich dann heute? Du fingst an zu knurren und zu bellen. Ungebetene Gäste.

Wie immer zwei: beide Muskelprotze, brachten einen einzigen federleichten Umschlag. Mit dieser Vorladung wurde ich endlich zum ersten Mal in zwar gesetzwidrig kurzer Frist, zumindest aber in der vorgeschriebenen Form, ins Hauptgebäude des Innenministeriums in Prag-Letná geladen. Eigenartig, daß mich dieses gesetzliche Ritual mehr beunruhigte als die vorangegangenen «wilden» Festnahmen. Ich hielt es sogar für notwendig, eine Art Botschaft zu schreiben und sie sicher zu hinterlegen für den Fall, daß ich nicht bald zurückkehren würde. Es erinnerte stark an ein Testament.

«Ich bin kein Verbrecher, sondern Sozialist, wegen Kritik an der Diskreditierung des Sozialismus verfolgt, der sich gegen willkürliche Repressionen wehrt. Ich habe nicht die Illusion, daß mir jemand helfen wird, dennoch stehe ich zu meinen Ansichten, freiwillig und daher ohne Bedenken. Ich mache nur darauf aufmerksam, daß die Gewalt, die gegen mich ausgeübt wird, ein Spiegelbild der Gewalt ist, die man gegen die ganze Gesellschaft ausübt.»

Wir fuhren sofort nach Prag, ich ordnete meine Dinge, bereitete für den Morgen meine Bereitschaftstasche von Lízinka vor, und dann aßen wir feierlich zu Abend, diesmal «Beim Mäzen» unter dem Bogengang des Kleinstätterrings die sagenhafte orientalische Musaka. Große Abschiedsessen in guten Lokalen gönnten wir uns vorwiegend in kritischen Situationen. Witzig war, von einem Diplomaten zu hören, die Gerüchte über unsere Verfolgung seien stark übertrieben: Er sehe uns ständig erlesen essen und trinken.

Am Morgen brachte mich Zet zur Festung des Innenministeriums, auch die weiß gekachelt. Der beabsichtigte Effekt der Sauberkeit von Operationssälen erinnerte seit den Prozessen der fünfziger Jahre an die Sauberkeit von Schlachthöfen und Hinrichtungsstätten. Wie es in Zets Familie auch nach dem Abfall von der praktizierten Religion Tradition geblieben war, machte sie mir ein Kreuz auf die Stirn und fuhr nach Hause. Für sie hatte das große Warten begonnen. Eine Weile ließ man auch mich im Wartezimmer schmoren, das schon etwas von einer feschen Zelle an sich hatte.

Ein schneidiger Dreißiger trat ein, stellte sich als Daněk vor und marschierte mit mir in das große Arbeitszimmer eines dunkelgrau gekleideten Mannes ungefähr meines Jahrgangs. Derselbe nannte sich Doktor Černý, Daněk sprach ihn als «Genosse Vorgesetzter» an. Vor ihm auf dem Tisch lag neben den aufgeschlagenen Seiten der Zeit der Brief von Grass in tschechischer Übersetzung.

«Wollen Sie Kaffee?» fragte Doktor Černý.

«Nein, danke.»

«Möchten Sie rauchen?»

«Nein, danke.»

«Aber Sie sind doch Raucher?»

«Nicht hier.»

«Warum die Askese?»

«Hier schmeckt es mir nicht.»

Neben meiner Entschlossenheit, von ihren Geschenken, Liebenswürdigkeiten und Erlaubnissen unabhängig zu bleiben, war ich mir immer sicherer geworden, daß gerade automatische Gewohnheiten wie Rauchen und Trinken, denen man unkontrolliert nachhängt, den Professionellen mehr über den Zustand des befragten Objekts verraten, über seine Nervosität oder Widerstandskraft, als Worte.

«Wie Sie wollen!» tat er das ab und fing plötzlich, ohne jeglichen Übergang, zu schreien an. Wie ein Gymnasialdirektor, der einem schuldigen Sextaner seinen Ausschluß begründet, rasselte er mit einer Stimme, die auch hinter der gepolsterten Tür zu hören sein mußte, meine angeblichen Straftaten gegen den Staat wie auch meine angeblichen Verstöße gegen den Moral- und den Ehrenkodex herunter.

Auf den Kopf gestellt defilierten an mir Straftaten vorbei, deren sich in Wirklichkeit das Regime während der letzten fünf Jahre mir gegenüber schuldig gemacht hatte, und tatsächliche Verstöße gegen Moral und Ehre, die sich regimetreue Ideologen und Publizisten mir gegenüber herausgenommen hatten. Die Autorenschaft der in Grassens Brief zitierten Erklärungen aus Biévres über Zusammenhänge zwischen der sowjetischen Okkupation der Tschechoslowakei und dem faschistischen Militärputsch in Chile wurde mir zugeschrieben und als Straftat der Unterminierung des gesamten sozialistischen Lagers qualifiziert.

Getreu meinem bereits erprobten Grundsatz, mich so rasch wie möglich aus ihrer hypnotischen Macht herauszureißen, konnte ich schon sehr bald die Absurdität dieses Auftritts genießen. Doktor Černý oder wie er wirklich hieß, der Leiter irgendeiner politischen, operativen oder der Teufel mag wissen, welcher geheimen Abteilung, erwies sich in diesem Moment als Autodidakt meines Fachs «Dramatisches Schaffen»: Er komponierte auf einen Schlag eine Hommage à Ionesco und Beckett, so abstrus, daß es nachgerade bewundernswert war.

«Und was würden Ihre nächsten Freunde dazu sagen?» schrie er, als er den politischen Katalog abgeschlossen hatte, «wenn sie noch dazu erführen, wie Sie der Reihe nach mit ihren Ehefrauen ins Bett hupfen?»

«Und was würden sie sagen», ergänzte unerwartet der bisher schweigsame Daněk, als wolle er den Ausführungen seines Chefs die Krone aufsetzen, «wenn sie erführen, daß Sie einmal unser geheimer V-Mann waren?»

In diesem Augenblick stand ich auf, nahm meine Jagdtasche mit Lektüre, Äpfeln und Utensilien, und schritt zu der Tür.

«Ich bin mit Ihnen noch nicht zu Ende!» brüllte Doktor Černý, doch fehlte ihm schon die rechte Glut.

«Aber ich mit Ihnen», sagte ich, «entweder nehmen Sie diese Ungeheuerlichkeit augenblicklich zurück, oder Sie hören nie mehr auch nur ein Wort von mir!»

Wo der Hund begraben liegt

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