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Böhmen, noch Sommer 1972

Eines Tages werde ich wissen: Wenn ihr Hunde euer Gelobtes Land hättet, es wäre Capri, wo ihr sogar in die Metzgerei dürft, doch auch in Österreich, wo mächtige Hygieniker herrschen, gibt es immer noch genügend Platz für euch. Wohl nur die stolze Konditorei Demel am Kohlmarkt kann es sich erlauben, euch vor ihr erhabenes Tor zu weisen; jeder andere Cafébesitzer und Hotelier würde als Hundehasser seinen Verdienst beweinen.

In der Tschechoslowakei ging es nach dem Krieg den Menschen miserabel, warum sollte es den Hunden besser gehen? Wenn der Mensch zum Menschen unmenschlich grausam sein darf, was kann dann Gottes Getier erwarten? Die fortschreitende Aufklärung der sechziger Jahre war ein Segen auch für euch. Eure Rechte wuchsen mit den Rechten eurer Herren. Dein Vorgänger Adam durfte schon wieder in die Konditorei des Karlsbader Grandhotels «Moskva-Pupp», und als er einmal ganz von Sinnen unser Tischchen samt Kaffee mit wildem Sprung mitnahm, entschuldigten sich die Ober eifrig, das habe sicher eine ihrer Kakerlaken verursacht.

Unter Doktor Husák wurden Herren und Hunde erneut hinter die Schwellen ihrer Wohnungen verwiesen. Das bedeutete, dich so zu erziehen, daß du eben dort viele Abende allein verbringen konntest, wann immer wir ausgingen, um die Reste der verschwundenen Welt zu suchen. Als wir dich zum ersten Mal allein zu Hause ließen, standen wir hinter der Tür und warteten, bis du aufhörtest zu bellen, falls man dein piepsendes Kläffen so nennen konnte. Als du nicht aufhörtest, kamen wir zurück und rügten dich, gingen fort, warteten und kehrten zurück, immer erschöpfter, während die Quelle des Alarms in deinem kleinen Körper unerschöpflich schien.

Als wir etwa zum zehnten Mal weggingen, vergaß Zet, das Licht auszumachen, und plötzlich warst du ganz still. Seit der Zeit ließen wir für dich immer eine Lampe brennen und verdächtigten dich, daß du in unserer Abwesenheit zu lesen pflegtest.

Am letzten Julitag gaben wir dich zum ersten Mal in Pflege. Der unweit wohnende, weltweit bekannte Philosoph Karel Kosík erhielt von Zet deine Decke, deine Schale, die Leine und das Fressen sowie eine schriftliche Anleitung, wie er mit dir umgehen sollte, wenn wir uns gegen unseren Willen länger aufhalten mußten: Immer, wenn das Regime jemanden aburteilte, nahm es dabei vor dem Gerichtsgebäude ein paar andere fest.

Der Luftangriff auf Prag und der Prager Aufstand von 1945 hatten mir schon mit sechzehn Jahren gezeigt, wieviel Gesichter der Tod hat. Den ersten Menschen in Fesseln sah ich dagegen erst jetzt, mit vierundvierzig. Es war Karel Kyncl. Als wir etwa vierzehn waren, meldeten wir uns beide für ein Rundfunkensemble, wo während des Kriegs die Finger des nazistischen Jugendkuratoriums nicht hinreichten. Er bestand die Prüfung in Rezitation, ich die im Durchhaltevermögen. Als ich beim Vorsprechen – vor Lampenfieber rot wie ein Krebs – durchfiel, klammerte ich mich derart verzweifelt an die Gruppe der Erfolgreichen, daß man es nicht über das Herz brachte, mich nach Hause zu schicken; aus Not begann ich, für das Ensemble zu dichten.

Nach dem Krieg bezauberten wir miteinander als «Die Zwei» mit unserem postpubertären Charme die Besucher der Internationalen Rundfunkausstellung Mevro. Er blieb beim Journalismus, mich zog das Theater an und uns beide die kommunistische Partei, wo wir jedoch nach und nach unsere Schwierigkeiten bekamen – wie so mancher Intellektuelle in so mancher Partei. Er wegen eines Pamphlets auf den führenden Parteibarden Vítězslav Nezval, ich wegen meines Stücks über dogmatische Kommunisten in der Armee, Septembernächte.

Das Leben trennte uns und führte uns immer wieder zusammen. Diesmal ging es ganz dramatisch zu. Als der Polizeikordon Zet und mich von dem kleinen Gerichtssaal wegdrängte, der mit pensionierten Polizeibeamten gefüllt war, damit der Anschein öffentlicher Verhandlung gewahrt blieb, gelang es mir, über die Hintertreppe wieder dorthin zu gelangen. Man führte mich erneut hinaus, doch plötzlich mußten wir warten, weil die Eskorte vorbeikam.

Der bleiche und magere Freund ging in Handschellen zwischen vier Uniformen. Sein Blick streifte mich nur, denn im Häuflein der Davongejagten drängten sich Arbeiter und Gründungsmitglieder der Partei, darunter seine alten Eltern, die zum Dank für lebenslange Treue jetzt nicht einmal dem Prozeß ihres Sohnes beiwohnen durften. Als ich Doktor Husák von der nächsten Post meinen Protest telegraphierte, wußte ich allerdings, daß es lediglich ein unwirksamer Aufschrei der Seele war.

Er ließ alle potentiellen Verbündeten einsperren und wurde so zum Gefangenen seiner Feinde. Dies geschah freiwillig, aus der Eitelkeit der Macht heraus, ohne daß er in den langen Jahren seiner Gesellschaft irgendeine neue Hoffnung bescherte. Die Tränen, die er vor den Fernsehkameras vergoß, wann immer er von seinen guten Absichten, vom Edelmut der Verbündeten und vom Undank gewisser Störenfriede predigte, rührten deshalb nur noch ihn selbst.

Den Zustand, in den er die Gesellschaft zurückversetzte, spiegelt morbid der tragische Vorfall wider, bei dem er seine Frau verlor. Die Nomenklatura hatte ihr nicht erlaubt, einen einfachen Bruch in einem der führenden slowakischen Bäder behandeln zu lassen, wo es von guten Ärzten nur so wimmelte. Ihr Hubschrauber wurde dann auf dem Weg nach Bratislava durch den Nebel in die Katastrophe navigiert. Der Sonderzug, mit dem der Präsident nachts zu ihr eilte, blieb mitten auf der Strecke vor dem roten Licht am Signalmast hoffnungslos stecken; das ausgesandte Kommando mußte über die Eisenbahnschwellen zur nächsten Station stolpern, wo es erfuhr, daß jeglicher Schienenverkehr auf hohen Befehl unterbrochen worden war, damit der Präsidentenzug freie Fahrt hatte.

In diesem Jahr der ersten neuen Prozesse war er vielleicht trotz allem noch darum bemüht, daß die Forellen der tschechischen Literatur mit europäischem Renommee nicht in den Netzen der Justiz hängenblieben. Aragons Aufkleber «Biafra des Geistes» und Bölls Aufdruck «Kulturfriedhof» hatten das geistige Europa noch einmal mobilisiert. Damals nämlich sprachen im Namen der deutschen Literatur noch Schriftsteller mit der politischen Erfahrung eines Lenz oder Grass und nicht schriftstellernde Möchtegernpolitiker, wie immer sie heißen mögen.

Den Angriff auf die einheimische Kultur erleichterte mehr und mehr die Desertion ihrer Verteidiger. Wie schon meine Erlebnisse im Schriftstellerklub gezeigt hatten, begriff die künstlerische Mittelschicht, daß sie die letzte Chance hatte, den neuen Zug zu erreichen, solange die Normalisierungsgarnitur, die schon das gesamte gesellschaftliche Leben beherrschte, dies zuließ. Als die kulturelle, politische und wirtschaftliche Elite es ablehnte, der militärischen Invasion und ihrer Begründung zuzustimmen, um nicht die Moral oder zumindest das Gesicht zu verlieren, wandte sich das Regime dem Souterrain zu. So kam das Goldene Zeitalter für all diejenigen, die vorher wenig Erfolg hatten – mangels Talents, Charakters oder einfach nur Glücks.

Für unerhörte Belohnungen – die Medien boten den Frontwechslern Aufschläge von über tausend Prozent – waren sie bereit, die Existenz aller aufgelösten Institutionen vorzutäuschen. Gegen die Rolle des Mohren, der gehen muß, wenn er seine Schuldigkeit getan hat, sicherten sie sich gleich von Anfang an mit einem Verteidigungssystem ab, das schon im zweiten Jahrzehnt funktioniert und die tatsächliche Ursache für das versumpfte Wasser geworden ist, über das die Welt staunt: Wer von den «Verirrten» mitmachen wollte, mußte öffentlich Buße tun. Es ist, als ob durch eine solche Kapitulation in den musischen Menschen alle Saiten rissen: Keiner von denen, die sich auf diese Weise «besserten», hat die zu allem fähigen Unfähigen bislang in irgendeiner Weise bedroht.

Auf die große Mehrheit von einigen hundert Literaten, die noch vor einem Jahr in geheimer Wahl den Widerstand gewählt hatten, begann neben dem Existenzdruck auch der Druck des luftleeren Raums zu wirken, in den ihre geistige Produktion plötzlich strömte. Ersatzstrukturen für diejenigen, die der Staat verbannt hat, gibt es östlich der Elbe nicht. Das Verbot ist lückenlos, das Veto gilt überall, auch ohne schwarze Listen. Es genügt, aufmerksam die Zeitungen zu lesen und die unter Beschuß Geratenen anzustreichen. Keiner, der sich ihnen nicht zugesellen will, wagt es, sie zu beschäftigen, zu veröffentlichen oder sonst in seinem Bereich zu belassen.

Ein paar Dutzend namhafter tschechischer Autoren belastete das Vakuum mehr als die Existenz. Bis jetzt hatten sie weder ihre finanziellen Reserven noch ihre Hoffnung verbraucht. Was ihnen fehlte, waren Leser und – Lektüre. Dies ist nur scheinbar paradox. Auch athletische Rekorde fallen im Wettkampf mit anderen. Aus innerer Not wurde im elektronischen Zeitalter der literarische Salon wiedereröffnet. Kaum etwas war so bezeichnend für Doktor Husáks Kulturpolitik, die einige geistige Bereiche um ein Jahrhundert zurückwarf, wie die Wiedergeburt dieser Institution aus vormedialen Zeiten. Erneut versuchte die tschechische Literatur so, das Netz der zerrissenen Zusammenhänge zu knüpfen.

Der Schriftsteller Ivan Klíma, unerwartet von einer führenden amerikanischen Universität in dieses neuzeitliche Ghetto zurückgekehrt, hatte dessen unvergleichbar brutalere Ausgabe als jüdisches Kind in Theresienstadt erlebt. Trotzdem entschied er sich, «zum Schlamassel zu gehören», und es war sein Verdienst, daß jeder erste Sonntag im Monat unseren freien Fall zu bremsen begann.

Während er pikante Fleischklößchen servierte, die er – selbst streng Diät haltend – mit der Phantasie eines tauben Komponisten würzte, wechselten sich in seinem Schreibsessel Autoren ab, die einst hunderttausendfache Auflagen hatten. Wie in ihren Anfängen mußten sie wieder mit nur einer Handvoll Zuhörer vorliebnehmen – noch dazu mit ihren größten Konkurrenten. Aber alle trösteten sich damit, daß es wohl in ganz Europa keinen erleseneren Zirkel von Lesern gab.

Wo der Hund begraben liegt

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