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Böhmen, Frühling 1974

Viel später haben mir einst befreundete Informanten, noch immer im Innern des Parteiapparats vergraben, wo sie wie nützliche Mikroben überlebten, bestätigt, daß mir die rechtzeitig zugeschlagene Tür mit größter Wahrscheinlichkeit den Aufenthalt im geliebten Böhmen verlängert hat.

Die Falken im Politbüro hatten anscheinend in der Tat vorgeschlagen, das Beispiel Solschenizyn für eine ähnliche Maßnahme auszunutzen, die auch bei uns den ersehnten Präzedenzfall schaffen würde. Richtig war ihre Kalkulation zweifellos darin, daß die Welt dies nach dem großen Pressemahl bei des Nobelpreisträgers Ausbürgerung als kleines Dessert geschluckt hätte.

Laut übermittelter Nachrichten scheiterte der Vorschlag an zwei Argumenten, die die Rausschmeißer nicht vom Tisch wischen konnten: Im Unterschied zur Sowjetunion, die an die Tradition der Alleinherrschaft anknüpfte, kannte die Čssr im Register ihrer gesetzlichen Strafen keine Verbannung, und die heimische Wiederholung des sowjetischen Einfalls innerhalb weniger Stunden drohte zusätzlich die so sehr proklamierte Selbständigkeit der tschechoslowakischen Führung unglaubwürdig zu machen.

Wie dem auch gewesen sein mag: Mit dem Besuch des Inspektors – der mit unverwechselbar russischem Akzent sprach, so daß ich auf einen der vielen Tschechen aus Sowjetisch-Wolhynien tippte, die Ende des Zweiten Weltkriegs als Soldaten General Svobodas in die alte Heimat zurückkehrten, um ohne Aufsehen die beginnende Russifizierung einzuleiten – endete zwar die Blockade unserer Wohnung, doch mehr geschah nicht. Die Beschwerden, die ich ihm in einer knappen Stunde übersichtlich gegliedert vortrug, hat er sich ordentlich in ein Notizheft aufgezeichnet und ging, um nie mehr wiederzukehren oder sich noch einmal zu melden.

Statt dessen erfuhren Zet und ich, jeder aus seinem Freundeskreis, von einer neuen Aktion, deren Gefährlichkeit ihrer Unsichtbarkeit entsprach. Offenbar war eine ganze Arbeitsgruppe der Staatspolizei darauf angesetzt, das gesamte Vorfeld unseres Lebens zu durchgraben und zu durchwühlen.

Diesmal beschäftigten sie sich nicht mit Familienangehörigen oder jenen Kollegen, die ohnehin mein Schicksal teilten. Sinn des breit angelegten, ebenso gründlichen wie aufwendigen Unternehmes war es, uns beide mit einem Schnitt von allen zu trennen, die uns immerzu das unerwünschte Gefühl gaben, zur nationalen Gemeinschaft zu gehören.

Zet und ich wurden als zyklothyme Typen geboren, von extrovertiertem Charakter, grundsätzlich dem Leben zugeneigt. Menschen betrachteten wir als Wesen, die zu uns die gleiche unvoreingenommene Beziehung hatten wie wir zu ihnen. Unser Mißtrauen in konkreten Fällen entstand erst, als es sich nicht mehr vermeiden ließ.

Das war wohl der Grund, weshalb wir immer mehr Bekannte hatten als üblich und vielleicht auch gesund war. Was mich betrifft, so habe ich damit wahrscheinlich unbewußt das Manko des Einzelkindes auszugleichen versucht, dessen Einsamkeit durch fast alle bekannten Kinderkrankheiten verlängert und vertieft worden war. Gewiß, es gab Unterschiede in der Intensität der Beziehungen und vor allem in dem Maß untereinander ausgetauschter Informationen, mit denen wir jetzt aus guten Gründen nicht allzu verschwenderisch umgingen. Aber jeder, der es wollte, konnte unsere aufrichtige Sympathie erleben.

Die schweren Zeiten haben dies aufgewertet. Gute Beziehungen zu einem weiten Kreis von Menschen, gepflegt noch in den Jahren, als wir allgemein geachtet waren, wurden nun, «nach der Saison», lebenspendend. Von geheimen Tips aus den normalisierten Institutionen über die blitzschnell reparierte Wasserpumpe bis zu heimlich gelieferter Mangelware halfen uns unsere Bekannten vor allem psychisch.

Das ging bis zum Grotesken. Wir waren amtlich geächtete Volksfeinde, lebten aufgrund der finanziellen Blockade häufig von der Hand in den Mund, doch mußten wir manchmal zum gewöhnlichen Braten sündhaft teure und nur schwer erhältliche Beefsteaks verwenden, weil man uns aus Achtung nur das Allerbeste unter der Theke verkaufen wollte. Ich war verzweifelt, als ich bei der Renovierung des Hauses in Sázava eine doppelt so gute und natürlich doppelt so teure Küche geliefert bekam. Dann staunte ich wieder, als sie uns bei der Abrechnung als «beschädigt» zum Preis der ursprünglich bestellten berechnet wurde.

Am meisten jedoch stärkte es uns, daß uns von den «normalen» Menschen, etwa meinen ehemaligen Theaterkollegen oder aber von Zets Mitschülern, die weiter ihren Beruf ausüben durften, nur ein paar öffentlich abgeschrieben hatten. Zu ihnen gehörten seltsamerweise ausgerechnet einige, denen ich in meinen frühen Stücken Hauptrollen auf den Leib geschrieben habe.

Unsere Biographien waren dabei im Grunde identisch. Wie Blinde, die sehend geworden sind, versuchten wir Ende der Fünfziger gemeinsam mit Hunderttausenden, eine Reform des in der Čssr praktizierten Sozialismus einzuleiten, damit sich in ihm leben ließe, zumal wir darüber hinaus erkannt hatten, daß die Kremlherren in ihrer Hemisphäre niemals etwas anderes zulassen würden. Mitte der Sechziger entstand ein Klima, das beinahe mit den Verhältnissen im Westen vergleichbar war: Die Abstriche an persönlicher Freiheit wurden durch die schöpferischen Möglichkeiten ausgeglichen, aus denen die tschechischen und slowakischen Kulturwunder jener Jahre entstanden.

Öffentliche Kritik ertrug man, und deswegen kam sie in Mode. Die Repressionen waren minimal, die Intellektuellen hielt man immer noch für die enfants terribles der sich erneuernden Partei. Der August 68 änderte alles von Grund auf. Die freie Meinung forderte den Preis der Existenz. Welch ein Wunder, daß Alter und Ermüdung menschlichen Materials ihre Wirkung zeigten. Wir wußten zwischen denen zu unterscheiden, die den Mut hatten, das zuzugeben, und denen, die sich für ihr Versagen eine Philosophie suchten. Einer nach dem anderen erklärten sie, verführt und betrogen worden zu sein, von wem wohl? Aber natürlich, von uns! Ein paar Jahre später werde ich mich ihrer oft erinnern, wenn ich mit den enthusiastischen Linken des Westens zusammentreffe, unseren natürlichen Verbündeten, die sich jedoch nur allzugern von uns lossagen, weil sie unsere Erfahrungen für Verleumdung halten. Ich werde mir vorzustellen versuchen, wie es mit jedem von ihnen in jener Mühle zugehen würde, welche die Hirne und Herzen einer jeden Revolution immer als erste zu zermahlen pflegt.

Gerade diese Enttäuschungen machten jene wieder wett, die sich für eine Konfrontation mit dem Regime nicht stark genug fühlten, aber nicht bereit waren, sich ihm zu verkaufen. Nach jedem Eimer Dreck, den Presse und Fernsehen auf uns schleuderten, erwärmten uns ihr aufmunterndes Lächeln und die Hände, die sie uns reichten, aufs neue. Jetzt also wurde ein Schlag gegen sie alle geführt. Es war nicht schwer, sie ausfindig zu machen, denn sie riefen uns an, schrieben uns, besuchten uns, viele ganz unbekümmert und oft auffällig, als ob sie eine Korrektur des Schicksals herbeisehnten, das sie zu den Unanständigen stellte. Bis wir selbst ihnen zu mehr Vorsicht rieten, ohne sie abzuweisen natürlich! Es wäre ebenso absurd gewesen, uns freiwillig in jener Art von Ghetto zu isolieren, in das man uns seit fünf Jahren hatte verfrachten wollen, wie jene zu beleidigen, die gerade durch Kontakte mit uns der Selbstbeflekkung zu entkommen suchten.

Als wir das feststellten, als die Mutigsten unter ihnen uns trotz strengster Verbote berichteten, wie man sie in den Personalabteilungen der Betriebe ohne Umschweife zwang, zwischen Freundschaft und Arbeit zu wählen – wie vor vier Jahren Zets Trauzeugin, die Schauspielerin Bohdalová –, da waren wir entsetzt, als lähmte ihre Ohnmacht auch uns.

Einige wählten die Arbeit – und führten die Freundschaft heimlich weiter; einige lehnten sich auf, Freundschaft sei eine rein private Angelegenheit, und seltsamerweise ließ man sie meist in Ruhe. Um so deprimierender war, daß gerade in dieser Runde so viele bisher prinzipientreue Leute zusammenbrachen, die früher zumeist kritisch auch gegenüber kritischen Kommunisten waren, denen sie vorwarfen, sich zu spät aufgerafft zu haben. Als könne ein jahrelang strapazierter Organismus die Vorstellung weiterer Runden des Ringens nicht ertragen, warfen sie jetzt das Handtuch.

Zets beste Freundin ließ sie nun ein genau gleiches «Vorläufig-nichtmehr» wissen, für das sie noch im Herbst meinen Cousin, den Arzt, schärfstens verurteilt hatte. Martina, meine gute mährische Seele, dachte sich in ihrer Not einen weiblich-hysterischen Grund für einen Abbruch der Beziehungen aus, die sie aber bald wieder im geheimen weiterpflegte. Einige unserer Handwerker hinterließen in Panik ihr Werkzeug und sogar ihre Forderungen bei uns. Daneben Grotesken aller Art: So brüllte unser Prager Metzger seine Mahner an, er sei kein Wahrsager, sie sollten ihm ein Plakat mit unseren Photos und der Aufschrift Gesucht! über den Hauklotz hängen.

Wir wagten keinen zu verurteilen. Wir wagten niemanden zu beeinflussen. Und schon gar nicht mehr, jemanden zu besuchen oder anzurufen, der nicht ausdrücklich darum bat. Es ging uns entsprechend miserabel. Als Schriftsteller begriffen und fühlten wir während dieses einen Monats im Schnellkurs, wie ein normaler Mensch zu einem Juden wird. Auch du, mein Dackel, solltest es spüren!

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