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ОглавлениеBöhmen, Winter 1973/74
Das Wasser, das uns beim Photographieren der Neujahrskarte erst bis zum Gürtel reichte, stieg nun bis zum Halse. Wieder warnte mich meine einstige Kinderliebe. Sie lud mich in der Nacht zu sich in die Wohnung; ihr Mann war wegen eines Wirtschaftsdelikts im Gefängnis. Zet durfte mit. In der Küche, die man wie das wc hierzulande zu den abhörsicheren Orten zählt, saß vor zugezogenen Rouleaus ein hoher Ministerialbeamter, zitternd vor Angst. Seine Anständigkeit jedoch war stärker: Er zog zwei geheime Verfügungen aus der Aktentasche und zeigte sie uns.
Endlich hatte ich sie in der Hand, die zwei berüchtigten Dokumente, die das Regime des Doktor Husák der Übertretung internationaler Abkommen überführten, von seinem Staat mitsigniert. Deshalb durften diese beiden Erlasse nur die Leiter von Ministerialabteilungen und Banken kennen. Bisher nannte man sie unter Eingeweihten einfach «Lex Kohout», jetzt hatten sie plötzlich Nummern: die Anordnung des Finanzministeriums Nr. 0266/72, durch die den verbotenen Schriftstellern die allgemeine Devisenbegünstigung entzogen wurde, und der strenggeheime Regierungsbeschluß 20/1973, ergänzt von einem Intimat des Kultusministers 6266/73-Sm 4, demzufolge allein diese Autoren an den Kulturfonds anstelle von zwei Prozent der Auslandshonorare, wie üblich, sage und schreibe vierzig Prozent abführen sollten. Alles in allem bedeutete das eine exklusive, deshalb gesetzwidrige Besteuerung von über neunzig Prozent – beginnend bereits mit der ersten verdienten Krone. Apartheid total.
Unsere letzte Einkommensquelle floß nun in die Kassen derer, die uns verboten hatten, und wir wußten bis jetzt nicht, wie diesem Würgegriff zu entkommen war. Abgehörte Telephone, gelesene Briefe führten überdies zur Sperrung der Einreisevisa auch für die paar Intendanten, Regisseure und Schauspieler, die bis dahin dem Netz entschlüpft waren, weil sie uns unangemeldet besuchten. Jetzt wurden sie beschattet und bei der Ausreise so schikaniert, daß den meisten für ein zweites Mal die Lust verging, uns zu besuchen.
Besonders hatte sich die Staatspolizei den Dramaturgen aus Oldenburg vorgenommen. Er war gekommen, um mir vom Erfolg des Armen Mörders zu berichten, doch vor allem, um die ehrliche Befürchtung auszusprechen, daß wir, die Dissidenten – von ihm hörte ich zum ersten Mal dieses abschätzig klingende Wort –, mit dem Bade unserer Kritik an Übergriffen und Mißständen auch das ersehnte Kind des Sozialismus ausschütten könnten. Ihre Art Sozialismus lernte er kurz darauf kennen, als er bei der Heimreise festgenommen und drei Tage lang ausgequetscht wurde, was er denn von mir gewollt hatte. Das paßte nicht zu des Mannes ungetrübten Vorstellungen, und so hat er nach dem Muster anderer gefährlicher Träumer das Unrecht vor der Welt verschwiegen.
Hin und wieder führten sich die geheimen Aufseher recht plump auf. Nach Neujahr rief mich aus dem Hotel «Europa» ein deutscher Tourist an, er warte dort mit der Übersetzung meiner beiden Einakter Brand im Souterrain und Pech unterm Dach, die schon zweimal mit der Post nicht angekommen waren und Mitte Februar in Ingolstadt uraufgeführt werden sollten. Während ich mich anzog, rief fünf Minuten später ein selbsternannter «Freund» des Touristen in tristem Deutsch an, ich solle erst eine Stunde später kommen. Offenbar waren die Abhörer außerstande, die vereinbarte Übergabe zeitgerecht zu verhindern. Ich fuhr sofort los und war rechtzeitig zur Stelle.
Anfang Februar erreichte die Konfrontation zwischen der Sowjetmacht und Alexander Solschenizyn ihren Höhepunkt. Sein Archipel Gulag hatte Alt- und Neustalinisten in Hysterie versetzt. Unser beider Schicksale hatten sich zum ersten Mal am 27. Juni 1967 berührt, als ich auf dem IV. Kongreß der tschechoslowakischen Schriftsteller öffentlich seinen leidenschaftlichen Protest gegen die Zensur verlas. Fast bukolisch erscheint jene Zeit, als ich dafür nur eine Rüge mit Verwarnung kassierte, die noch dazu ein halbes Jahr später mit Entschuldigung rückgängig gemacht wurde. Die Welt verfolgte jetzt die neueste Entwicklung des Falles wie einen sportlichen Wettkampf. Uns drohte er zum Präzedenzfall zu werden. Die tschechischen Stalinisten waren, seitdem sie die Sühne für ihre Schuld an den politischen Mordprozessen der fünfziger Jahre befürchten mußten, stalinistischer als Stalin.
Am Dienstag, dem 12. Februar, wurde Solschenizyn festgenommen. Nachmittags bei Ivan Klíma unterbrachen wir die Arbeit an Amerika, um ausländische Nachrichten zu hören. Der strenge Winter löste Gedanken an Sibirien aus, man fürchtete, er werde dorthin verbannt. Er war nur ein paar Stunden verschollen, und die ganze Welt rief sos. In zehn Jahren wird der Friedensnobelpreisträger Sacharov samt seiner Frau für lange Monate spurlos verschwinden, und Stille wird sein über allen Wassern.
Am nächsten Morgen donnerten die westlichen Sender, der Schriftsteller sei gegen seinen Willen per Luft in die Bundesrepublik geschickt worden. Als es hieß, man habe ihm beim Überfliegen der sowjetischen Grenze die Fesseln abgenommen, dachte ich mir, das sei höchstwahrscheinlich erst über dem tschechischen Cheb, früher auch Eger, geschehen. Das Imperium langte jetzt sichtbar dorthin, wo es schon 1945 unauffällig angelangt war. Die Nachricht, die die naiven oder bezahlten Getriebehebel der Sowjetpropaganda im Westen als eine humane Tat non plus ultra präsentierten, erinnerte bitter an die sowjetische Schulanekdote, warum Genosse Lenin als Humanist anzusehen sei:
Am Ufer der Wolga schreitend, vertieft in revolutionäre Gedanken, reagiert er auf den ehrerbietigen Gruß eines jungen Fischers, indem er ohne aufzublicken und ohne ein Wort weitergeht. Worin zeigte sich Lenins Humanismus, fragt die Lehrerin und antwortet stolz: Er hätte ihn auch erschießen lassen können.
Wenn ich selbst heute manche Ansichten Solschenizyns nicht teile, den ich damals als Bürger bewunderte und den ich als Schriftsteller immer hochschätzen werde, so bin ich doch nicht bereit, diese brutale, auf den Kopf gestellte Piraterie zu vergessen, mit der man einen fünfzigjährigen Russen, der Europa nur einmal und nur für kurze Zeit als Soldat betreten hatte, wie einen Postsack in eine völlig unbekannte Welt expedierte. Die teuflische Idee ging auf. Es ist in manchen westlichen Kreisen längst zur Gewohnheit geworden, die Sympathie den Spediteuren zu zollen.
Am Donnerstag darauf öffnete ich wieder einmal vertrauensselig zwei Männern, die mich aufforderten, ihnen für nur kurze Zeit zu folgen. Wieder hatten sie keine Vorladung und weigerten sich sogar, ihre Ausweise zu zeigen. Es hatte sich wohl in ihrer Firma herumgesprochen, daß auch ich ein Zahlengedächtnis habe, das zu einer später unerwünschten Identifizierung beitragen könnte. Es war dies einer jener Augenblicke meines Lebens, in denen mich mein Instinkt so schnell, klar und deutlich über meine Lage aufklärt, daß ich mich ihm blind anvertrauen kann.
«Ist es kalt draußen?» fragte ich.
«Ja», sagten sie, offenbar erfreut, daß alles so glattging, «nehmen Sie lieber einen Wintermantel.»
Ich nickte, und ehe sie sich versahen, schlug ich ihnen die Tür vor der Nase zu. Weil es so glattging, hatten sie nicht den Fuß drin.
«Also richten Sie Ihren Vorgesetzten aus», rief ich durch die schwere Sperre, «daß ich lieber zu Hause abwarte, bis es wieder wärmer wird. Oder bis sie mir jemanden schicken, der endlich einmal mit einer gesetzlich vorgeschriebenen Vorladung anrückt.»
Nach dem schönen Prošek zwei andere, die die Nerven verloren. Sie fingen an, Sturm zu läuten und gegen die Tür zu schlagen und zu treten; sie hörten erst auf, als sich ein Stockwerk tiefer die Türen öffneten. Zum ersten Mal schienen sie entdeckt zu haben, daß in diesem tschechischen Haus neben neun eingeborenen Familien die Schweizer Botschaft residierte. Die erfolglosen Jäger rannten an den verblüfften Diplomaten vorbei wie aufgescheuchte Wilderer. Aus dem Fenster sah ich sie verwirrt in die nahe Telephonzelle eilen. Wann immer sie in Schwierigkeiten steckten, ging gar kein Schrecken von ihnen aus; sie wirkten fast wie Menschen.
Ich rief augenblicklich die Inspektion des Innenministers an und bat um Entsendung eines Kontrollorgans, das meine Beschwerden über das wiederholt ungesetzliche Verhalten der Operative entgegennähme. Es gelang mir noch, rasch meine Verleger in Luzern und Kassel zu informieren; als ich dann anfing, die Prager Freunde anzurufen, wurde zum erstenmal mein Telephon abgeschaltet.
Es kam Verstärkung, irgend so ein halbgarer Gary Cooper – wo nehmen sie nur die Typen her? Er beschränkte sich auf ausgiebiges Engelläuten, dann landete auch er für Minuten in der öffentlichen Telephonzelle. Kurz darauf traf ein schwarzer Tatra 603 ein, doch ein Inspektor war das nicht. Die Staatskarosse Abj 0134 übernahm die Funktion eines Wohnwagens, in dem sich, Tag und Nacht, alle sechs Stunden je drei Wächter ablösten. Zu uns kam keiner mehr herauf. Offensichtlich eine Belagerung, damit der Vogel nicht entfliehen konnte, bevor entschieden war, was weiter mit ihm geschehen sollte.
Unser Vögelchen lernte inzwischen, sich auf meinen Kopf zu setzen. Ich ertrage es nicht, wenn mir irgend jemand auch nur zärtlich die Haare berührt, also mußte ich ihn immer wieder verscheuchen. Während Solschenizyn unter Heinrich Bölls Fittichen Pressekonferenzen veranstaltete und sein weiteres Leben plante, dramatisierte ich weiter meine Hälfte von Amerika. Dich, mein naturversessener Dackel, führte zur Sicherheit Frau Máří aus, unser guter Geist, die jetzt jeden Morgen heldenmütig mit frischen Hörnchen kam wie Cyranos Roxane zu den bei Arras eingeschlossenen Kadetten. Ich wollte nicht riskieren, daß man mir Zet als Geisel entführte. An deine Fangzähne wagten sie sich nicht heran.
Am Freitagabend feierten wir mit den treuesten Freunden, die sich nicht scheuten, uns zu besuchen, die Uraufführung meiner Einakter in Deutschland. Dabei hörten wir aus dem Radio diverse Kommentare, die darüber spekulierten, wann ich wohl Solschenizyn folgen würde.
Am nächsten Dienstag klingelte bei uns ein seriös aussehender Mann meines Alters, der schon ins Guckloch hinein artig einen Ausweis der Inspektion des Innenministers zeigte. Dem öffnete ich. Er fragte, ob wir drinnen bei uns reden könnten, draußen sei es so kalt. Ich bat ihn einzutreten. Als wir an den Fenstern zum Hof vorbeikamen, segelte in leichtem Schnee gerade der Wachwagen auf und davon. Zart schellte das soeben angeschlossene Telephon.