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Böhmen, Winter 1973

Am Sonntag, dem 3. Dezember, las ich bei Ivan Klíma den Brand im Souterrain vor, den ich dank seiner Herausforderung endlich zu Ende geschrieben hatte. Am nächsten Mittag rief mich der Prager Korrespondent des Ersten Deutschen Fernsehens, Rosenbauer, an. Er schnitt gerade eine Fernsehdokumentation über den Altstädter Ring, mit der er am nächsten Morgen nach Deutschland fliegen mußte, zum Vertonen und Mischen. Er bat mich um einen Kommentar. Ich bat ihn, mir den Film in der Redaktion auf dem Schneidetisch vorzuführen. Er versprach, mich am Abend zu Hause abzuholen. Ich versprach, den Text über Nacht zu schreiben.

«Schönerrr Valterrrr!» lobte sich im Zimmer der Wellensittich, wie ihm das dreimal in der Woche seine älteste Bewunderin, Frau Máří, beim Saubermachen fasziniert wiederholte. Ich lag neben dem Käfig auf unserem einhundertfünf Zentimeter breiten grand-lit, dem letzten Gruß aus den Zeiten, in denen ich mein Solo-Leben verteidigte, und suchte auf der wie in allen meinen bisherigen Wohnungen blauen Decke den Grundriß einer Bühnenadaption von Kafkas Amerika, die ich damals gerade gemeinsam mit Klíma machen wollte.

Zets schmalgliedrige Finger kneteten nebenan in der Küche barbarisch Hackfleisch mit Brötchen, in Milch getunkt, du saßst bei ihr, mein verfressener Dackel, und schautest aus wie das ärmste Gottesgeschöpf, das bald vor Hunger krepieren wird. Als es läutete, eine Stunde eher als es sollte, fingst du wütend an, an meiner Statt zu bellen. Königin der Laster ist für mich seit jeher die Unpünktlichkeit. Verdrossen ging ich dem unerzogenen Fernsehmacher öffnen.

In der Tür stand ein Mann, der wie die Sonne in Kinderbüchern lächelte. Es war Herr Sluníčko, der mich schon im Oktober abgeführt hatte, diesmal begleitet von einem schmalen Jüngling mit postpubertärem Pickelgesicht. Eine neue Schicht Geheimer, die man soeben anlernte, versprach den weiteren Verfall der Zunft: Ihre Unbegabtheit für alles, was mit geistiger Anstrengung verbunden war, glichen die Lehrlinge durch Arroganz aus. Dieser gab sich grimmig, auch als mich sein Postenführer fast heiter bat, ihnen trotz fortgeschrittener Zeit in einer unaufschiebbaren Angelegenheit zu folgen. Zum Abendessen würde ich mich garantiert nicht allzusehr verspäten.

Natürlich waren sie wegen meines Telephongesprächs mit Rosenbauer hier, das sie offenbar gleich zweimal auf den Tisch bekommen haben müssen, von seinen wie auch von meinen Abhörern. Wer weiß, was sie hinter den Worten Altstädter Ring witterten. Ich wollte jedoch vermeiden, daß ein westlicher Journalist in diesen Auftritt geriet. Noch immer bemühte ich mich, die Konflikte zu löschen, die sie anzündeten. Wie die anderen verfemten Autoren bot ich den verständigeren Kräften am Steuer des Staates, falls es sie gab, immer wieder die Gelegenheit an, dieses Abgleiten in die Vergangenheit aufzuhalten. Auch diesmal ging ich artig mit, ohne eine Einladung vom Amt gesehen zu haben.

Bei dem schweigsamen Ritual im Auto dopte ich mich psychisch zum dritten Mal. Zu der Gewißheit, daß meine Taktik richtig, wirksam und beherrschbar war, trat jetzt Neugierde hinzu, die professionelle Neugier eines Schriftstellers auf eine Situation, die er sich freiwillig nie wählen würde; wenn er aber schon wie durch Jauche hindurchwaten mußte, dann wollte er von diesem Muß ohne Genuß wenigstens Nutzen haben. Seit dieser Nacht ermöglichte mir diese meine Einstellung, auch in so dramatischen Szenen, wie es im Januar 1977 die Entführung von Zet und ein Jahr später dein Sommer, der Sommer des Hundes, sein werden, aus der erniedrigenden Rolle des Machtlosen in die des Beobachters überzuwechseln. Ich war allen Dienern der ausgerenkten Macht gerade in der Gewißheit überlegen, daß ich einmal über sie zu schreiben wissen würde wie über exotisches Getier, das ich aus der Nähe hatte studieren dürfen.

Schon zum zweiten Mal schluckten mich die langen Gänge des Kachelgebäudes in der Bartolomějská-Straße, doch es geschah das erstemal nachts, und zum ersten Mal lernte ich auch die Korridore kennen, die sie sich wie Termiten in die Nebengebäude fraßen. Sie schwiegen noch, als wir in den Raum traten, in dem unter dem Porträt des Staatsoberhaupts eine schreiend froschgrüne Couch stand. In ihrer Häßlichkeit war sie geradezu vorherbestimmt, daß sich auf ihr Polizeiköpfe ausruhten und Polizeiglieder ihre Liebesspiele trieben. In fünf Jahren wird mich genau in diesem Zimmer der brüllende Herr Pokorný fragen, wie lange ich seine Hilfe nötig hätte.

Ein Stuhl wurde mir nicht angeboten; weil sie aber standen, blieb ich auch stehen. Es war für mich kein Geheimnis, daß ein Verhör meistens in zwei Räumen vor sich geht: In dem einen findet es statt, im anderen wird es mitgehört und ausgewertet. Die Häufigkeit des Wechsels der beiden oder mehrerer Vernehmungsbeamten ist für den Kenner ein Barometer, wie oft sie sich den Rat der Vorgesetzten holen müssen. Jetzt also hörten sie, oder sahen sie sogar, wie wir eingetreten waren. Nach einer Pause, die den Auftritt von Protagonisten einleitet, öffnete sich erneut die Tür. Fast wie der König der Schöpfung, sicher aber als Spitzendarsteller, trat ein Mann im Abendanzug und mit dem Gesicht eines Filmliebhabers ein. Er gab mir die Hand und stellte sich vor.

«Profek.»

Wenn das ein Deckname war, dann alle Achtung für den Mann, der «Prošek» ausgewählt hatte, obwohl er stark lispelte. Aber vielleicht fürchtete man sich, es ihm zu sagen? Ich gehöre nicht zu denen, die über Bucklige lachen, doch nach diesem halbstündigen sich Aufblasen der allmächtigen Macht von meiner Haustür bis hierher gönnte ich ihm diese abgesunkene Schwankpointe. Er trug die Formel von der Zeugenvernehmung vor, die aus seinem Mund fast komisch klang, und forderte mich auf, Informationen über Personen namens Rudi Majer, Bitr und Kristián Šmid zu geben.

Daß er, wenn auch deformiert, zweifellos nach dem Präsidenten der Stadt Luzern, Hans Rudolf Meyer, nach dem Verleger des toten Jan Procházka, Georg Bitter, und offenbar auch nach dem längst ausgewiesenen Journalisten Christian Schmidt-Häuer fragte, allesamt Personen, die diese dramatische Festnahme keineswegs verursacht haben konnten, bestätigte mir, daß die Aktion nur einen Doppelsinn haben konnte: mich am Treffen mit Rosenbauer zu hindern und meine Blockade vom letzten Verhör mit der Drohung zu durchbrechen, daß ich die Nacht, wenn nicht gleich mehrere, hier verbringen müßte.

Ich konzentrierte mich auf die Hauptaufgabe: sie davon zu überzeugen, daß ich es mit meinen Grundsätzen auch weiterhin ernst meinte. Wenn sie nicht den Befehl hatten, mich in jedem Fall einzusperren, war das eine Chance, meinen Punktevorsprung zu erhöhen. Und wenn sie ihn hatten – erst recht: es bliebe mir in der Not das gute Gefühl, daß sie meinen Körper einsperrten, nicht aber meine Seele. Also blieb ich schweigsam.

Entschließt sich jemand, weil ihm nichts anderes übrig bleibt, einen Streit mit der Übermacht aufzunehmen, muß er vorher abschätzen, wie er sich in ähnlichen Situationen verhalten wird. Wer ahnt, daß er mit den Nerven auch den Mut verliert, eine prinzipielle Haltung eines augenblicklichen Vorteils halber nicht aufzugeben, der soll gleich Zurückhaltung üben oder aber die Emigration wählen. Obwohl von Natur Epikureer, wurde ich hier zum Asketen. Weil sie sehr wohl wußten, daß ich rauche, habe ich mir bei ihnen nie eine angesteckt. Auch nach Stunden nahm ich von ihnen nichts anderes als Wasser aus der Wasserleitung, das nicht ihnen gehörte. Ich fand in mir auch den alten Knabentrotz wieder, der stundenlang mit der Angst auch den Hunger und andere Bedürfnisse abblockt.

Gegen Mitternacht verließen die beiden Kapos gemeinsam den Raum, wohl um sich zu informieren, was weiter geschehen solle. Als ich Feuchtwangers Roman Die Geschwister Oppenheim aus der Jagdtasche zog, brüllte mich der picklige Eleve plötzlich an, ich solle das Lesen lassen.

«Junger Mann», sagte ich, ohne aufzublicken zu ihm, absichtlich mein Alter übertreibend, «studieren Sie die Vorschriften und benehmen Sie sich anständig, ich bin nicht festgenommen.»

Wieder erfien der föne Profek und zog seinen Trumpf: solange ich nicht anworte, würde ich nicht nach Hause gehen. So hatten die Vorgesetzten entschieden. Die Reihe war an mir. Wer nichts wagt, der nichts gewinnt.

«In dem Falle teilen Sie mir gleich eine Zelle zu. Sie haben mich vor dem Abendessen geholt. Es ist Mitternacht, ich glaube, ich habe zumindest das Recht auf etwas Schlaf.»

«Fie find hier nicht im Hotel!» Er verlor die Nerven, als er sagte: «Wann Fie flafen werden, entfeide ich!»

«Aber erst, wenn Sie mich rechtmäßig verhaften», sagte ich, stand auf, ging zu der sattgrünen Couch, legte mich darauf und schloß die Augen.

Ich hörte, wie er fast irre aus dem Raum lief. Die Tür knallte zu. Der Eleve war offenbar geblieben, doch er blieb mausestill. Mein Herz hämmerte vor Aufregung, versteht sich. Ich zwang mich dazu, langsam und tief zu atmen, damit meine Schultern sich nicht bewegten. Ich versuchte daran zu denken, wie schön ich mit Klíma Kafkas rätselhaften Roman adaptieren würde. Das Bewußtsein, daß dies höchstwahrscheinlich das Schlüsselmoment meiner bisherigen Konfrontation mit der Macht war, wich dem belustigten Staunen, daß es im Genre Hašeks verlief. Mit diesen Gedanken bin ich dort tatsächlich ganz fest eingeschlafen.

Prošek weckte mich, als er die beiden Fensterflügel öffnete. In den Raum drang der Frost herein. Ich war sofort bei der Sache.

«Soll ich selbst hinausspringen, oder wollen Sie mir helfen?»

Verstört versuchte er, mir zu erklären, daß er nur lüften wolle. Meiner Erklärung, ich werde ihm kein Protokoll unterschreiben, setzte er keinen Widerstand mehr entgegen. Um halb ein Uhr nachts schubsten sie mich auf die leere, dunkle Straße. Als ich, ganz verfroren, endlich ein Taxi bekam, fuhr der Wagen hinter mir her, der mich hergebracht hatte. Bauerntölpel eben. Zu Hause stellte ich fest, daß sie mich freigelassen hatten, kurz nachdem der unermüdlich wartende Ard-Rosenbauer mit Zet eine Flasche Müller-Thurgau geleert und endlich gegangen war, um sich den fehlenden Kommentar selbst zu dichten.

Ich ging dich noch Gassi führen, mein straßenlüsterner Dackel, um das vibrierende Gehirn auf normale Touren zu bringen, bei denen ich nochmals einzuschlafen vermochte. Vor dem Toskana-Palais fingst du ganz gegen deine Gewohnheit an zu knurren und zu bellen. Hinter der Säule stand, blöde grinsend, der finnige Eleve.

«Ist das ein Niveau!» sagte ich angewidert auch in deinem Namen, und ging mit dir zu Bett.

Wir haben ihn nicht gebissen, obwohl er es verdiente. Der Advent hatte begonnen.

Wo der Hund begraben liegt

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