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Böhmen, Herbst-Winter 1971

Am Donnerstag, dem 21. Oktober, wurde, etwa drei Kilometer Luftlinie von uns entfernt, in der Wohnung eines gewissen Ingenieurs Novák ein halbes Dutzend nasser Mäuse geboren, die ihrer Blindheit wegen das Licht der Welt noch nicht erblickten. Bevor sie sehen konnten, zitterten sie noch ein paar Tage. Ihr dünnes Pfeifen hörte nur auf, wenn sie sich am Körper der ermatteten Mutter Pandora festsaugten.

In dieser Zeit überlegten Zet und ich ganz ernsthaft, ob wir uns einen Schäferhund anschaffen sollten, der uns bewachen, eine Bulldogge, die uns rühren, einen Foxterrier, der uns unterhalten, einen Labrador, der mit uns spielen sollte oder vielleicht einen Yorkshire, der selbst ständigen Schutz brauchte. Doch die geheimnisvollen Sterne leiteten unsere Wege zu dir, kleine Maus – zukünftiger großer Rauhhaardackel.

Den Tag deiner Geburt verbrachte ich wieder auf dem Friedhof. Für Jans Grab legten zum letzten Mal seine Schauspieler – schon heimlich – zusammen, bevor sie sich endgültig den neuen Prinzipalen unterordneten. Gratis entwarf den Stein keiner der Prager Künstler, deren Werke er ebenso gern zu kaufen pflegte wie Fußballstürmer, sondern ein Bildhauer vom Lande, der das als seine Bürgerpflicht ansah. Zu zweit stellten wir mühsam die schwere Marmor-Pieta auf, unmittelbar vor Allerheiligen. Eine alte Frau, die als erste unterhalb des Namens den Titel «Tschechischer Schriftsteller» las, seufzte selig:

«Hierhin werde ich zum Beten kommen!»

Wie selbstverständlich wurde ich zum Vormund der minderjährigen Töchter. Die Familie des verbotenen Autors hatte kein Geld. Meine Funktion trat ich in einer Sondermission an. Die letzten Drehbücher hatte Jan unter dem Namen der jeweiligen Filmregisseure geschrieben. Zusammen mit den hervorragenden Texten bot er ihnen als Kavalier die Hälfte seines Honorars an. Regisseur K. K. zahlte das Geld sofort aus. Dafür sagte er sich bald öffentlich von seinem mit Abstand besten Film los: Jetzt wollte er plötzlich Jans politische Irrtümer im Drehbuch übersehen haben. Erwachsene Männer fingen an, sich wie verführte Jungfrauen zu benehmen.

Regisseur Karel Steklý versuchte klarzumachen, daß er seinen letzten Film selbst geschrieben habe. Ich schaute diesen alten Mann mit dem Gefühl unaussprechlicher Scham an, als ich ihm Jans Originalmanuskript vorlegte, das ihn politisch wie moralisch vernichten konnte. Ein bißchen kam ich mir wie ein Erpresser vor, doch er nahm ohne Zögern zehntausend Devisen-Kronen aus der Schublade, fehlte nur noch, daß er wie ein diebischer Ober gesagt hätte:

«Versuchen kann man’s ja mal!»

Das Jahr verging im Zeichen wachsender Angriffe der Medien und Behörden. Kein Wunder, daß die Struktur der menschlichen Beziehungen erschüttert wurde. Der Deserteur bei Procházkas Begräbnis war die erste Schwalbe. Im Herbst schwirrten über Böhmen bereits Schwärme von Überläufern. Das Regime hatte sich bis zu den Wurzeln des Apparats und der Institutionen durchgefressen. Wer von dort her die Verfemten noch warnte, war schon ein Held. Wie meine Kinderliebe, als sie mir mit bebenden Händen die Liste Nr. 1 überreichte, eine geheime Aufstellung der Werke von zweihundertzwanzig tschechischen Autoren der Vergangenheit und Gegenwart, die aus den Buchhandlungen und Bibliotheken, also aus dem Gedächtnis verbannt werden sollten, Dilia, die staatliche Theater- und Literaturagentur, begann, alle ausländischen Verlage zu boykottieren, welche die Totgeschwiegenen weiter herausgaben. Es war völlig gleichgültig, was das den Staat kostete.

Einer der notorischen Alkoholiker, die jetzt massenweise in hohe Funktionen avancierten, ein gewisser Genosse Sedláček aus der Zentrale der normalisierten Partei, schwankte gern in der Weinstube «Viola» zu dem Tisch, an dem ich mich oft mit Havel traf.

«Wir haben euch aus den Lesebüchern gestrichen!» rezitierte er freudig mit schwerer Zunge.

Ach du schönes Böhmen, mein Böhmen, was kann man von dir auch verlangen, wenn dir in dreißig Jahren zweimal von treuen Verbündeten das Genick gebrochen wurde, einmal um den Frieden zu erhalten, das andere Mal, um den Sozialismus zu retten. Dem geht es nach dem Jahre 1968 ähnlich wie nach 1938 dem Frieden. Bis auf weiteres ist es aus mit ihm.

Das Regime hatte jetzt nicht mehr nur ein Häuflein unzuverlässiger Stützen, die sich am Zipfel des Uniformrocks des großen Bruders festhielten. Unter seiner Schutzherrschaft verwandelte sich das Land in eine große Verpflegungsanstalt, zu der – wie zum Schriftstellerklub – allein diejenigen zugelassen wurden, die bereut und sich gebessert hatten. Nur eifrige Reue konnte die gestrigen Verirrungen ungeschehen machen, denen hier in jenem verführerischen Frühling fast alle erlegen waren. Und sie alle beeilten sich, die eigenen Verfehlungen auf diejenigen abzuwälzen, die bisher töricht an dem Schwur der Solidarität festgehalten hatten.

So manche weiteren Repressionen hatten groteske Züge. So wurde ich auf die Militärverwaltung Prag 1 geladen. Zweck: Kontrolle des Wehrpasses. Ein gewisser Major Hanzal wollte meine Unterschrift, bevor er ihn mir zurückgab. Bieder scherzte er, doch gleichzeitig schwitzte er verdächtig an den Händen. Also schaute ich mir das Dokument vorher an. Anstelle eines Hauptmanns der Reserve war ich darin wieder nur einfacher Soldat.

Er lief vor mir in das Büro des Dienststellenkommandanten, Oberst Hruška, der schon aufstand und befahl:

«Habt acht!» Der Major nahm Grundstellung ein wie bei einer Parade, und sein Vorgesetzter stotterte einen Befehl des Verteidigungsministers herunter, wonach «der Dienstgrad demjenigen aberkannt werden kann, der im Widerspruch zu den moralischen und politischen Anforderungen handelt». Als er damit fertig war, schien es ihn geradezu zu jammern, daß er mir statt der fehlenden Schulterstücke nicht wenigstens den Kragen an meiner Jacke abreißen konnte.

Ich wollte die konkrete Anschuldigung wissen, und da verlor er die Beherrschung.

«Sie haben Stalin verraten!»

«Nein», sagte ich, «Stalin hat mich verraten.»

Da waren sie wieder, die zu allem Fähigen, Stalins altneues Aufgebot, seine Brut, aufgestellt zur nächsten Jagd. Ich legte den ungültigen Wehrpaß auf den Tisch und sagte, daß ich mit seiner Annahme in keinem Fall meine ungesetzliche und demütigende Degradierung anerkenne. Der Oberst schien einem Schlaganfall nahe und brüllte bis auf den Flur, er werde gegen mich eine Strafverfolgung einleiten lassen.

Das Wehrgesetz der Čssr verpflichtet jeden Bürger, seinen Wehrpaß zu Hause zu haben. Verlust wird streng bestraft. Mit der Rückgabe hatte der Gesetzgeber nicht gerechnet. Ich fand diese Lücke, als ich mir unverzüglich – wie von jetzt an immer wieder – in einer Art juristischer Selbstbedienung die betreffende Amtsliteratur besorgte. Ohne Nachweis, daß meine Wehrpaßangelegenheiten vorschriftsmäßig geregelt sind, konnte mir höchstens die Ausreise in das Ausland verweigert werden, doch diese Gefahr bestand für mich nicht, da mir der Reisepaß längst entzogen worden war.

Ich wartete nicht auf ihre Attacke, ich überfiel sie selbst. Meine Beschwerden regneten auf alle Instanzen herab, bis zum Minister und dem Präsidenten als Oberbefehlshaber. Sie titulierten mich als Soldat der Reserve, ich signierte als Reservehauptmann. Schließlich hörten sie auf zu schreiben. Auch die Zivilstaatsanwaltschaft gab auf. Die Pointe sollte erst in vier Jahren das Leben schreiben.

Auch die besten Freunde fragten mich verlegen, warum mir an diesem blöden Dienstrang so viel liege. Weil er meiner ist, sagte ich ihnen, einer meiner erdienten Bürgermale, und weil ich diese aufgeblähte Macht von Anfang an daran gewöhnen will, daß ich in dieser verlorenen Schlacht beabsichtige, zumindest meinen privaten Graben zu verteidigen und voll hinter jeder meiner Entscheidungen und meinem Wort zu stehen. Nach den trotzigen Mittagessen im Schriftstellerklub war dies mein zweiter wichtiger Schritt zu mir selbst in dieser sumpfigen Zeit.

Weihnachten nahte, und wir wollten wieder unter dem Weihnachtsbaum als Hauptgeschenk einen Hund finden. In Gedanken umrundeten Zet und ich den ganzen Hundeplaneten und gelangten abermals bei euch Dackeln an. Wie der Herr, so’s Gescherr, also auch der Köter. Uns lockte nach wie vor die eigensinnige Individualität und Treue, die Anspruch auf absolute Liebe erhebt. Irgendwer verwies uns an den Züchter Ingenieur Novák.

Zu der Zeit trugst du schon den stolzen Namen Edison Venor als Sohn der in der Zucht berühmten Pandora Venor, deren Großvater Dust 11. sogar dreimal Champion des Cacib war, dieses internationalen Hundeschönheitswettbewerbs, und väterlicherseits als Sohn des nicht weniger glorreichen Kasper von der Kettwigshöhe, des Nachkommen eines angesehenen Quartetts von Großeltern: Muck von der Dachsluft, Exe von der Hornchenbande, Batzel vom Falknerhaus und Daxi von der Forst-Brickwedde. Ein Hundeadel par excellence!

Der Glanz all dieser Titel fiel auch auf uns, als wir dich am 18. Dezember auf meinen alten, vom Vater ererbten Schreibtisch stellten. Sofort hast du auf die frische erste Seite meines Romans Die Henkerin gepinkelt, den ich dann neben dir dein ganzes Leben lang schreiben sollte. Als wir sie getrocknet hatten, kam der Photograph Štěpán, und wir stießen auf dich an. Nach der zweiten Flasche Sauvignon überkam uns die Lust, den Freunden in aller Welt zum neuen Jahr das in Böhmen traditionelle P. F. – pour féliciter – zu schicken, damit sie sehen konnten, wie wir den nationalen Polarwinter meisterten. Du paßtest glatt in den Trichter des uralten Grammophons, ein Geschenk des Moskauer Theaters «Sovremennik», als es seinen Autor noch lieben durfte.

Die Angewohnheit, jährlich eine photographische Nachricht über den Stand unseres gemeinsamen Lebens zu versenden, ist uns allen dreien geblieben. Daß sie zu den Stützpfeilern eines memoiromans werden sollten, wußten nicht einmal die Sterne.

Wo der Hund begraben liegt

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