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Böhmen, Winter-Sommer 1972

Siebenmal schneller als der Mensch lebt angeblich der Hund, siebenmal intensiver war unsere Freude an dir. Noch führte uns dein zittriges Kriechen vom Tatort unweigerlich zu den Pfützen auf dem Teppich, noch durften wir dich schütteln und an der Nackenhaut anheben, von der du soviel Reserve hattest, daß zu zweimal hineingepaßt hättest, noch liebtest du Milch mit geschlagenem Eigelb, an der du ein Jahr später verachtungsvoll vorbeigehen wirst, von verwesenden Knochen angezogen, noch entdecktest du die Geheimnisse der Spiegel und Treppen, noch machtest du beim Pinkeln die Beine breit wie ein Hundefräulein, doch deine Gene meldeten schon die vielhundertjährige Erfahrung der Sippe.

Schon begannst du dich auf deiner Decke in konzentrischen Kreisen zum Schlaf zu legen, mit denen dein Urvater das Steppengras niedertrat. Schon bemühtest du dich, in unsere steinharten Holzpfosten mit den weichen Pfoten eine Höhle zu graben wie deine Urmutter, als sie in der Taiga der Frost überfiel. Schon zeigte sich deine Eigenwilligkeit und deine Empfindlichkeit für Beleidigungen, dein zwiespältiges Bedürfnis nach Freiheit und Abhängigkeit, was in deinen rätselhaften Vorfahren die unerbittlichen Kämpfe auf Leben und Tod hervorbrachten, die ihr bis heute in dunklen und unbekannten Labyrinthen der Erdlöcher mit schrecklichen Gegnern ohne die Hilfe der Herren führt.

Du wurdest plötzlich zur Attraktion unseres Heims. In der Rangordnung der Lebewesen stiegst du schnell zu den höchsten Säugetieren auf. Unsere Freunde, die nicht gedemütigte crème de la crème des tschechischen Geistes, nahmen dich unter sich auf, sie erkannten die sich entwickelnde Hundepersönlichkeit. An deinem ersten Silvester, als wir es nicht sahen, stellten sie dir die Gläser mit dem letzten Tropfen Sekt auf den Boden. Deine gierige Zunge leckte sie auf höchsten Glanz, dann hast du zwei Tage geschlafen und nie wieder Alkohol angerührt. Allein in dieser Hinsicht bliebst du ein eingeschworener Griesgram.

Du hast uns Licht gebracht in das Jahr, in dem endgültig das Dunkel ausbrach. Doktor Husák war möglicherweise im Jahre 1968, als er noch mit der Gloriole des Reformators Interviews in gutem Deutsch gab, aufrichtig überzeugt, daß die gepanzerte Normalisierung nicht das Ende der Reformen bedeute, sondern die konsequente Überwindung der blutigen fünfziger Jahre. Er selbst war um ein Haar dem Strick entgangen, an dem Rudolf Slánský gestorben war.

Beide gehörten zu jenen brillanten Intellektuellen, die, empört über die Unfähigkeit des Kapitalismus, die Welt von Kriegen und Armut zu befreien, und begeistert von der Ouvertüre des sowjetischen Versuchs, sich weltweit an die Stelle der Linken stellten. In den relativ aufgeklärten Verhältnissen der Vorkriegsrepublik mußten auch sie als Kommunisten die Regeln des demokratischen Spiels einhalten und wurden deshalb auch selbst respektiert. Die Repressionen hatten ihre gesetzlichen Grenzen, ließen sich leicht ertragen und bescherten den jungen Revolutionären das süße Gefühl des Märtyrertums.

Die sträfliche Naivität der westlichen Verbündeten, die unter dem Druck ihrer Pazifisten dem Nazi-Drachen mit dem Palmzweig entgegentraten und glaubten, ihn mit dem Bissen der Sudeten zu sättigen, entfesselte Krieg und Terror ohnegleichen. Die führenden tschechischen Kommunisten emigrierten entweder oder haben sich an der Seite der Demokraten an dem ungleichen Kampf gegen die Okkupanten beteiligt, der zumeist im Konzentrationslager oder auf dem Richtplatz endete. Die Masse der Mitglieder überlebte in der Masse der Bevölkerung für den üblichen Preis abgestufter Kollaboration.

Rudolf Slánský und seine Frau Josefa, bis heute «Špaček», der Spatz, genannt, verlebten die Kriegsjahre als Redakteure des Moskauer Rundfunksenders für die besetzte Tschechoslowakei. Sie zweifelten nicht daran, daß die Vorkriegsprozesse den Sowjetstaat vor der fünften Kolonne von Spionen und Verrätern gerettet hatten. Bald sollten sie darüber mehr wissen. Der Münchner Verrat und das allzulange Warten auf die zweite Front der Westalliierten bewirkten, daß nach dem Abzug der verbündeten Armeen aus der Tschechoslowakei in den ersten und letzten freien Wahlen die Linke gewann. Als die Kommunisten im Februar 1948 nach der unklugen Demission demokratischer Politiker die Macht gekonnt an sich rissen, war Rudolf Slánský bereits Generalsekretär der Partei, neben Gottwald der Mächtigste der Mächtigen. Wenn die Archive in Zukunft vielleicht einmal geöffnet werden, wird die Frage zu beantworten sein, in welchem Maße er selbst dazu verholfen hat, die hysterische Spionomanie zu entfesseln, mit deren Hilfe im frisch stalinisierten Mitteleuropa die innerparteilichen Machtkämpfe ausgetragen wurden. Sicher ist, daß er eines ihrer höchstgestellten Opfer wurde.

Am Vorabend des dritten Jahrestags der Machtübernahme war er zusammen mit seiner Frau, die zufälligerweise Geburtstag hatte, zu einem Staatsbankett geladen. Die führenden Genossen, die sie ihr Leben lang begleitet hatten, gratulierten ihr besonders herzlich. Von der Burg wurde das Paar in seiner Staatskarosse plötzlich von einem fremden Fahrer chauffiert. Die riesige Villa war ohne Strom – genau so, wie es später Jan Procházka in seinem Drehbuch Das Ohr beschreibt. In der dunklen Halle wurden sie von einem Zivilkommando überfallen. Als man die Frau mit der Pistole auf die Toilette drängte, bat sie: «Lassen Sie mich mit den Kindern sterben!»

Noch in der Wochenendhütte am Rande Prags, wo sie dann Rudolf junior und ihre kleine Tochter verschreckt fand, glaubte sie wochenlang, in den Händen imperialistischer Geheimdienste zu sein, welche die Regierung aller Werktätigen erpressen wollten. Die Wahrheit begriff sie erst, als sie mit den beiden Kindern in eine befestigte Herrschaftsvilla mitten im Herzen Böhmens überführt wurde. Der junge Rudi, der ein Vierteljahrhundert später in diesem Buch eine wichtige Rolle spielen wird, ging viele Monate nicht zur Schule. Niemand wagte ihn zu vermissen. Für ihn war sein Vater wie vom Erdboden verschluckt.

Ein Jahr später, im Sommer, vergaß irgendein pflichtvergessener Wächter, die Zeitung zu verbrennen, in die ein schlampiger Metzger die Fleischlieferung eingewickelt hatte. Aus den blutgetränkten Seiten erfuhren sie die blutige Wahrheit, daß der jüdische Judas Slánský schon vor Weihnachten erhängt worden war. Einige Zeit danach wurden sie in ein verfallenes Haus im Grenzgebiet gebracht und ihrem Schicksal überlassen. Sie fristeten ihr Leben mit Aushilfsarbeiten. Die Leute fürchteten sie oder gönnten ihnen ihr Schicksal. Dann starben Stalin und Gottwald, und das Eis taute. 1956, nach der Rede Chruschtschows, der das Geheimnis der manipulierten Prozesse lüftete, durfte Josefa Slánska mit ihren Kindern nach Prag zurückkehren. Sie bekamen eine kleine Wohnung, und Rudolf junior durfte Maschinenbau studieren. Damals habe ich sie das erste Mal besucht und kennengelernt.

Ich hatte den Geständnissen geglaubt, weil ich sie im Rundfunk aus dem Mund der Angeklagten gehört hatte. Damals ahnte ich nicht, daß es möglich ist, mit Amateuren elisabethanische Dramen bis hin zu echten Galgen zu inszenieren. Eduard Goldstücker, der berühmte Kafkaforscher, hat mir den Vorgang im Jahre 1967 erklärt: Die einen wurden mit der falschen Behauptung gebrochen, sie seien kläglich hereingefallen auf Spione, als Spitzengenossen aus dem Westen getarnt; in diesem Licht erschienen ihnen ihre ganz normalen Verbindungen und Tätigkeiten als Verrat. Die anderen gestanden, als sie das ununterbrochene Stehen ohne Schlaf zwischen den Verhören nicht mehr aushalten konnten, die unmöglichsten Verbrechen, um damit die politische Führung zur Wachsamkeit aufzurütteln; diese jedoch drehte ihnen um so erbarmungsloser einen Strick daraus und entfesselte neue Schauprozesse.

Trotzdem besuchte ich die mir persönlich unbekannte Familie, um mich zu entschuldigen. Keiner der Teilnehmer jenes letzten Burg-Abendmahls vor der Festnahme, der auch in der nachfolgenden Ära an der Macht blieb, hat das je in irgendeiner Form getan. Das macht den Unterschied zwischen Dichtern und Politikern aus. Darin wird mein zukünftiger Streit mit den Literaten des Westens bestehen, wenn sie wie Bernt Engelmann, als er an der Spitze des Verbandes deutscher Schriftsteller stand, beginnen, Politiker zu spielen und die Taktik der Moral vorziehen.

Die völlige Rehabilitierung und die Untersuchung des makabren Justiztheaters wurden durch die Invasion des Warschauer Pakts gestoppt und verhindert. Initiiert und provoziert haben die Bruderhilfe vom August 68 vor allem die Autoren und Regisseure des verbrecherischen Spiels, die die Gerechtigkeit fürchteten. Statt dessen durften sie jetzt der Tragödie Zweiten Teil anheizen; zu ihrem Leid und unserem Glück war der Galgen momentan unerwünscht.

Mein Mißtrauen gegenüber Doktor Husák drückt der letzte Eintrag im Tagebuch eines Konterrevolutionärs aus. Schon im April 1969 hat er als der neue Führer der Partei in seiner ersten Rede seiner Überzeugung Ausdruck gegeben, daß es keinem Bürger schade, mindestens einmal das Gefängnis zu erleben. Überrascht jedoch haben mich die übriggebliebenen Reformpolitiker im Zentralkomitee der Kpč, die zu seinen Gunsten Alexander Dubček abgewählt haben. Freilich gehörten zu ihnen Husáks engste Freunde, die ihm vor zehn Jahren auf dem mühseligen Weg vom Kerker in das öffentliche Leben entscheidend geholfen haben. Sie behaupteten mir gegenüber, gerade deshalb könne er nicht zulassen, daß nach ihm noch andere jenen Rutsch in die Hölle erleiden müßten.

Politiker ohne die Kenntnis der Lehre Machiavellis ähneln Ingenieuren und Schriftstellern, die das Einmaleins und die Rechtschreibung nicht beherrschen. Schon im Herbst ließ Gustáv Husák seine gestrigen Verbündeten und Gönner aussperren, zuerst aus der Partei, dann aus dem öffentlichen Leben. Als sie, seinem nicht lange zurückliegenden Beispiel entsprechend, vor den Wahlen legale bürgerliche Aktivitäten zu entwickeln begannen, damit – wie er selbst von den Tribünen des Prager Frühlings zu sagen pflegte – «uns nie wieder jemand zu Schafsböcken machen kann», ließ er auf sie dieselben Hunde los, die einst beinahe ihn zerfleischt hätten. Er ließ sie einsperren.

Im Juni 1972 schrieb ich an die Generalstaatsanwaltschaft ein Gesuch, in dem ich höflich darum bat, die Strafsache gegen meinen kranken, lebenslangen Freund, den Journalisten Karel Kyncl, in Freiheit weiterzuführen. Ein gewisser Dr. jur. Prokop lehnte das strikt ab und verwies mich auf das baldige Gerichtsverfahren. Wie immer wurde es für Juli angesetzt, wenn Prag menschenleer ist und diejenigen, die dort geblieben sind, lieber zu den Moldaubädern als auf die Barrikaden gehen.

Wo der Hund begraben liegt

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