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Böhmen, Vorfrühling 1973

Unser Kampf um das Leben des Wellensittichs war bisher nur insoweit erfolgreich, als er noch am Leben war. Deine Fangzähne jedoch, mein vogelfeindlicher Dackel, zerrten weiter am Gitter, und es schien, als würde er immer und ewig nur zu den Zeiten deines Gassigehens ausfliegen können. In solchen Situationen kommt die Phantasie zu Wort: Wir entschlossen uns, ihm das Sprechen beizubringen.

Einerseits versprachen wir uns Freude davon, zum anderen Nutzen: Vielleicht beginnst du ihn dann zu schätzen? Die Aktion, «Pygmalion» genannt, wurde hauptsächlich von mir betrieben. Wegen Ausdauer und Konsequenz – so Zet über sich selbst – würde man sie nie bestrafen können. Ich redete mit der mir angeborenen Beharrlichkeit auf ihn ein. Zwei Sätze, die die Barriere des Sprechens öffnen sollten, wiederholte ich hauptsächlich in toten Zeiten, etwa während ich eine Telephonnummer wählte und auf Anschluß wartete. Oft wunderte sich der Angerufene, wenn er zuallererst von mir den Kampfruf meines Theater-August hörte:

«Das ist prrrrima!»

Daß unser Telephon abgehört wird, haben wir immer für selbstverständlich gehalten. In der Tschechoslowakei dachte sich das jeder, doch nicht einmal Spitzentechnik kann einen lebendigen Auswerter ersetzen. In acht Stunden Arbeitszeit kann er höchstens acht Stunden Aufzeichnungen abhören: Für «hot hearing» sind also drei Tagesschichten erforderlich. Deshalb ist nur ein Bruchteil der Bevölkerung abhörbar, und davon nur der Bruchteil eines Bruchteils heiß.

Bis zum Ende dieses Februars konnte ich annehmen, nicht dazuzugehören. Ich war schon fast der letzte, den des Doktor Husáks Macht noch nicht der Polizei freigegeben hatte. Meine Premieren und Veröffentlichungen erreichten gerade jetzt einen Kulminationspunkt. Das Tagebuch eines Konterrevolutionärs und das Weissbuch in Sachen Adam Juráček erschienen in einem Dutzend Sprachen. Für das Tagebuch bot man aus Hollywood meinem Verleger 500000 Dollar und eine Starbesetzung an, womit leider die Bedingung verknüpft war, gegen das Drehbuch keine Einwände zu erheben. Die Gefahr, daß unter meinem Namen ein plumper Kalter-Krieg-Schinken entstehen könnte, überwog sowohl die Habgier als auch die Neugier, wie Zet von Mia Farrow und ich von Dustin Hoffman dargestellt werden würden. Den Roman Weiss-Buch über den armen Studienrat, der es allein Kraft seines Willens schaffte, auf der Zimmerdecke spazierenzugehen, was man ihm mit geballter Staatsgewalt erst dann aus dem Kopf schlug, als bereits die gesamte Menschheit auf der Decke spazierte, plante das Zdf als aufwendigen Fernsehfilm. Bei der Uraufführung in Düsseldorf erlebte der Arme Mörder vierzig Vorhänge. Anfang März meldete sich telephonisch ein Produzent vom Broadway.

Unmittelbar danach besuchte ich unsere Sprengelärztin, um mir von ihr etwas gegen Aphthen verschreiben zu lassen. Ich bin ein Kind der Wirtschaftskrise und Kriegsunterernährung, und ich litt schon immer unter allen möglichen Erscheinungsformen von Vitaminmangel. Sie verschrieb mir irgend etwas zum Gurgeln. Ich gurgelte und erfüllte dabei einen Teil meiner Tagespflichten. Zu denen gehörte seit vorigem Herbst auch die Aufsicht bei der Renovierung unseres kleinen Hauses in Sázava, wobei ich mich mit Zet abwechselte. Als ob wir geahnt hätten, daß diese leichte, bei Frost unbeheizbare Villa aus dünnem Beton und Glas einmal unser letzter Stützpunkt in Böhmen sein würde.

Am Donnerstag, dem 1. März, übernahm Zet den Außendienst. Ich durfte in unserer kleinen Stadtwohnung auf dem Hradschin bleiben, korrigierte die englische Fassung des August, lehrte den Gefiederten sprechen und machte beim Telephonieren mit meinem liebsten Freund Alexander einen unschuldigen Witz. Auf die Frage, wie es mir gehe, antwortete ich, sehr gut, wenn man meine Maul- und Klauenseuche nicht rechne; deshalb sei Zet heute an meiner Statt aufs Land gefahren, damit ich das Vieh nicht anstecke.

Gegen fünf Uhr nachmittags ging leicht die Türglocke. Zet, die alle Formen des Alarms haßt, vom unschuldigen Teekessel bis zum für sie unheimlichen Wecker, hatte schon vor vielen Jahren in Nürnberg für bescheidene Devisen ein zartklingendes Engelsläuten gekauft. Es war angenehm, doch verwirrend wie ein Irrlicht im Moor, genauso zärtlich würde es auch den Teufel ankündigen.

Das Guckloch benutzte ich erst nach meiner ersten Verhaftung, jetzt öffnete ich noch in bürgerlicher Unschuld die Tür und starrte auf drei Männer in weißen Kitteln. Der Älteste stellte sich mir als Dr. Drašar vor, Haupthygieniker der Hauptstadt. Er erklärte mir, er müsse mich aufgrund seiner gesetzlichen Vollmacht untersuchen lassen, ob ich nicht Infektionsträger sei.

Es war das fünfte Jahre nach der Invasion, das Regime log wieder, daß sich die Balken bogen, und ich glaubte ihnen kein Wort. Mir lief es kalt den Rücken hinunter: Die Männer schienen aus dem Irrenhaus in Bohnice zu kommen. Ich kämpfte um Zeit, bat um die Ausweise. Statt mich zu packen, wühlten sie verwirrt in den Taschen, an sich ein beruhigendes Zeichen. Einzig Dr. Drašar fand ein derart zweifelhaftes Dokument, daß er schon wieder fast vertrauenswürdig wirkte: einen Kantinenausweis des Krankenhauses «Na Bulovce».

Dann sprach er noch die Worte «Maul- und Klauenseuche» aus, und mir ging ein Licht auf. Noch keine fünf Stunden waren seit meinem telephonischen Scherz vergangen. Wer ihn alarmiert habe, wollte ich wissen. Er sagte, die Meldung sei aus der Gemeinde Sázava gekommen, wo man wahrscheinlich um die Viehbestände fürchte. Jedenfalls sei er amtlich befugt, mich mitzunehmen, und ich hätte sicherlich soviel Verantwortungsgefühl, um freiwillig mitzukommen. An Sachen brauche ich nichts, es ginge ja bloß um einen Test, ich käme umgehend zurück.

Die Lüge dieses Gesundheitssheriffs enthüllte ich erst im Käfig. Es war die wenig bekannte Infektionsstation des Großspitals, deren Gitter und Panzerglas besonders gefährliche Bazillenträger vom Leben isolieren sollten. Die mir zugedachte Ansteckungsgefahr genügte zur Isolation ersten Grades. Zu der abgeschlossenen Einheit, bestehend aus Schlafzimmer, Vorzimmer, Bad und Wc, gehörte auch eine Leibschwester, die gleichzeitig für strenge Diätverpflegung und Sauberhaltung sorgte. Nach jedem Besuch bei ihren Patienten mußte sie sich offenbar einer Desinfektion unterziehen – jedenfalls sah sie so aus. Zur Strafe lähmte sie mich sogleich mit der Nachricht, die kürzeste Beobachtungszeit dauere hier zwei Wochen.

Meine Sorge, wie ich aus diesem Glasbunker Verbindung mit Zet aufnehmen könnte, war dagegen nicht von langer Dauer. Nach zwei Stunden erschien sie. Der Hygieniker aus der Kreisstadt Kutná Hora kam mit dem Krankenwagen zu uns nach Sázava. Er hatte auch nach den Haustieren gefragt. Geistesgegenwärtig erklärte Zet dich zum Hund unseres Nachbarn, schaffte es auch noch, diesem zuzuflüstern, dich einstweilen bei sich unterzubringen. Sie fürchtete, du würdest ihre Tests kaum überstehen.

Zur Morgenvisite kam höchstpersönlich der große Häuptling, Hauptepidemologe der Čssr, Professor Kredba. Die Einleitung klang hoffnungsvoll: Die menschliche Form der Maul- und Klauenseuche, deren ich verdächtigt war, würde mir größeren Ruhm einbringen als mein ganzes Œuvre; es handele sich um eine rein theoretische Krankheit, die bislang noch kein einziges Mal registriert wurde. Der Schluß war deprimierend: Wir müßten trotzdem hier bleiben. Warum? Die strenge Spielregel: Jeder Verdacht mußte lückenlos durch negative Laborversuche ausgeschlossen werden. Und wer hatte diesen so fragwürdigen Verdacht ausgesprochen? Die Spur verlor sich im Dickicht der Hygieneämter. Unser Speichel wurde irgendwelchen entfernt grasenden Kühen eingeimpft, und wir waren verurteilt zu warten, was mit ihnen geschähe.

Ein Luxusgefängnis ist nicht weniger Gefängnis, es kann um so unerträglicher sein. Der Traum des Häftlings – die Internierung mit einem geliebten Wesen – verwandelt sich rasch in einen Alptraum. Ohne den Sauerstoff der Freiheit erstickt auch die innigste Beziehung. Prag unter dem Fenster glich einer Fata Morgana. Wir teilten das sterile Aquarium vierundzwanzig Stunden täglich, gesund wie Fische – meine Aphthen waren längst verschwunden –, und waren inzwischen auch schon informiert, daß der einzige tschechische Aussätzige hier jahrelang vegetieren mußte, bevor er in einem geheimen sowjetischen Leprosorium aufgenommen worden war.

Nach einer Woche sprach uns der zunehmend grantiger werdende Professor plötzlich gesund. Offenbar wollte er seinen guten Namen nicht länger aufs Spiel setzen. Während des Abschieds wurde er dringend ans Telephon gerufen. Er zog es vor, nicht mehr zurückzukehren. Das Gesundheitsministerium verbot nämlich ausdrücklich unsere Entlassung. Allmählich verloren wir Humor und Sprache. Wir hörten auf, Würfel zu spielen, Kreuzworträtsel zu lösen, Radio zu hören, fast auch zu lesen. Zum ersten Mal im Leben nahm ich Schlaftabletten.

In der neunten Nacht hatte ich aus lauter Verzweiflung eine Idee. Am Morgen erstattete ich Meldung: In Sázava sollte am Samstag der alljährliche große Ball stattfinden, und da ich dort in der kritischen Zeit bei den Umbauverhandlungen mit etlichen Stadtfunktionären persönlich zusammengetroffen war, hielte ich es für meine Pflicht, präventiv zu melden, daß diese ein Gesundheitsrisiko darstellten.

Der erste Assistent begriff das sofort und hetzte blitzschnell den Kreishygieniker auf. Dem blieb nichts anderes übrig, als der Gemeinde zu erklären, es sei ein Gebot der Stunde, öffentliche Veranstaltungen abzusetzen, solange unsere Untersuchung nicht beendet sei. Es geschah, wie gehofft.

Zusammen mit der Glaswerkbelegschaft lehnten sich auch die Frauen der Funktionäre auf, die schon ihre Kleider nähen und sich beim Friseur hatten anmelden lassen. Am Samstag früh bekamen wir eines unserer besten Zeugnisse ans Bett gebracht:

«Der Verdacht, das Ehepaar J. M. und P. K. sei an Maul- und Klauenseuche erkrankt, hat sich nicht erhärtet, was durch einen Versuch am Tier als bewiesen gilt.»

Wir aßen in dem einzigen, dafür jedoch luxuriösen Prager China-Restaurant zu Mittag die würzigsten Speisen, fuhren nach Sázava, um den tanzhungrigen Freunden die frohe Botschaft zu verkünden, und dann ging es gleich zu dem guten Nachbarn, Dr. Pilař, um dich abzuholen, mein verdatterter Dackel. Du warst über unser so langes Verschwinden äußerst beleidigt. Zet versuchte, dir die Entschuldigung einzukraulen. Ich konnte mich nicht richtig freuen. Mir kam der Gedanke, daß sich jemand unserer persönlich angenommen hatte, den auch Phantasie trieb. Mich bedrückte deren Abartigkeit.

Wo der Hund begraben liegt

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