Читать книгу Wo der Hund begraben liegt - Pavel Kohout - Страница 28
23
ОглавлениеBöhmen, Winter 1974
Die Freunde fingen an, sich zu interessieren, ob es auch dieses Jahr die traditionelle Neujahrskarte geben werde. Sie fragten besorgt, ob wir sie aus Prag oder aus Hamburg schicken würden. Der Antrittstermin in der Freien und Hansestadt näherte sich, und meine unerfüllbaren Forderungen wurden in der Tat eine nach der anderen erfüllt. Nach der Militärverwaltung überwand sich auch die Staatsagentur «Pragokoncert». Sie teilte uns mit, sie habe zwar nicht die Absicht, uns zu vertreten, doch erhebe man gegen unsere Tätigkeit im Ausland keine Einwände. Damit verzichtete sie auf ihr Monopol und sogar auf dreißig Prozent Provision, wenn wir nur fahren würden.
Ich war dazu entschlossen, falls wir bis Freitag, den 20. Dezember, nicht auf einen einzigen Beweis stießen, daß uns die Gegner unserer Rückkehr eine erkennbare Falle gestellt hatten. Ich sehnte mich nicht danach, mich monatelang wie ein Bergsteiger an der Eigernordwand zu sichern, um mir dann an einer übersehenen Bananenschale den Hals zu brechen. Das Datum hatten wir so gewählt, damit wir uns ein Weihnachten in Ungewißheit ersparten.
Der Geruch der Theaterbühne, den ich schon fünf unendliche Jahre entbehrte, lockte mich genauso wie dich der Gestank einer verschimmelten Wurst, mein feinfühliger Dackel, die du uns am vorletzten Sonntag von irgendwoher vorwurfsvoll vor die Tür geschleppt hast, als Zet dir aus Schlankheitsgründen einen Fasttag verordnet hatte; trotzig schlucktest du sie vor unseren Augen. Ich sehnte mich nach der Möglichkeit, meine Stücke leben zu sehen, doch zugleich weckte mich in den Nächten die Angst, daß ich dafür, wenn es schiefging, die Bühne meines Lebens für immer verlöre.
Diesen Geisteszustand drückte auch das Motiv des Neujahrsphotos aus, das wir schon Anfang Dezember aufgenommen hatten. Als wir dich, «Elite-Rekord», zum letzten Mal aus Písek abgeholt hatten, stießen wir auf einen Wegweiser mit der Kilometerangabe, die der Zahl des kommenden Jahres entsprach. Der erste Photoversuch, an dem auch unserrr Grrroßmeisterrr des rrr, Valtrr, teilnahm, gelang dem Freund Štěpán nicht. Unmittelbar vor dem zweiten begann es zu frieren, was uns zwang, nur den leeren Käfig mitzunehmen.
Auf dem Rückweg entschlossen wir uns, auf den Erfolg der Aktion im «Junior-Klub» anzustoßen, der am Nachthimmel Prags die von politischen Schädlingen desinfizierte «Viola» abgelöst hatte. Er interessierte mich schon deshalb, weil er im Hotel des wieder normalisierten Jugendverbandes lag, und zwar in demselben Raum, in dem ich Anfang der sechziger Jahre wegen meiner Kritik an seiner Tätigkeit vom Präsidium abgewählt worden war. Vor allem aber, weil er zum Treffpunkt tschechischer Popsänger wurde, die einstmals, als man es duldete, Ultraantikommunisten waren, danach, als man das gerade trug, Hurra-Patrioten, seit der «Normalisierung» jedoch nur noch brave Buben, die sich nach einer opportunen Tournee in die Sowjetunion drängelten und sich auf Befehl der Fernsehkommandatur sogar die lange Haarpracht stutzen ließen. Zu ihrer Rechtfertigung verbreiteten sie die Legende, ohne ihre seichten Sing-Songs wäre das Volk endgültig verstummt.
Sie und die Sternenbündel junger Journalisten ohne Furcht und Tadel, Janoušek, Tvrzník, Šmíd und wie sie alle hießen, waren vor einigen Jahren vehement mit berechtigter Kritik an der vorhergehenden Generation angetreten. Mich fragten sie immer wieder, wie ich meine frühen Oden hatte ernst meinen können, und waren nicht bereit, mir zu glauben, daß es sich um ein intellektuelles Versagen gehandelt habe, das jedoch nie ins Moralische entgleiste; die Buße habe ich soeben das sechste Jahr bezahlt.
Sie alle zusammen dagegen sangen und schrieben jetzt für schweres Geld gegen ihre einst so brennende Überzeugung, dachten sich eine Philosophie aus, daß ein Streit unter Kommunisten sie nichts angeht, und betranken sich, damit sie das selbst glauben konnten. Der «Junior-Klub» war ihr allabendlicher Stützpunkt. Der Untergang anderer Lokale zog hin und wieder auch die Geächteten hierher, die eigenartigerweise gern gesehen waren, vielleicht als Touristenattraktion. Der bizarren Menge, von der goldenen Nachtigall Karel Gott auf der Licht- und dem derzeit in einer Brauerei schuftenden Václav Havel auf der Schattenseite flankiert, zwischen denen Devisenwechsler, Polizeiagenten, Photomodelle, Zuhälter und vor allem Neugierige aller Art sich drängelten, präsidierte donnernd der Schauspieler Pavel Landovský, damals noch als Godfather, überzeugt, daß er sich alles erlauben konnte.
«Ich lade euch morgen in den ‹Revisor› ein», sagte er uns an diesem Tag befehlshaberisch, «es spielt ihn wieder der Oleg!»
Oleg Tabakow, der jüngere meiner beiden russischen Olegs und nach dem Weggang von Jefremov zum Thalia-Tempel Mchat jetzt selbst der Chef des berühmten Moskauer Theaters «Sovremennik», hatte bereits vor sechs Jahren im Prager Schauspielclub Gleiches gespielt. In jener Zeit, in der die heutigen «Junior»-Jungs ihre Progressivität durch Ablehnung alles Russischen genauso vehement demonstrierten, wie sie jetzt kollaborierten, war dieses russische Solo inmitten einer jungen tschechischen Truppe ein riskantes Unternehmen. Daß es so vollendet gelang, war das Verdienst des ganzen Ensembles, doch vor allem zweier gottbegnadeter Schauspieler – Tabakow als Chlestakov und Landovský als Hauptmann.
Jetzt, als auch Böhmen durch das Verdienst eigener Hauptleute wiederum periphere Provinz des russischen Reiches geworden war, wiederholte sich der Triumph auf andere Art und Weise: Die Groteske war diesmal von grausamer Wirklichkeit durchtränkt. Sie wurde zur Hommage für den unsterblichen Genius der Kunst, der weder so zerstörbare Völker wie das tschechische noch so alles- und selbstzerstörerische wie das russische geistig verkümmern läßt. Ein Sternabend des Theaters.
Der berühmte sowjetische Künstler lockte die erste Garnitur der Kulturbeamten des Regimes zu der Premiere. Landovský setzte seine Freunde neben sie. Zum ersten Mal trafen hier außerhalb diplomatischen Bodens diejenigen, deren Schicksale die sowjetischen Panzer überrollt hatten, mit denen zusammen, die diese Panzer gerufen oder zumindest willkommen geheißen hatten.
In dem winzigen Kellerfoyer des Theaters «Činoherní klub» konnte man sich nirgendwo verstecken, und wenn man sich durch die engen Reihen der Sessel drängte, war es nicht möglich, auszuweichen. Nicht einmal wegtreten konnte man: Die Staatsmannschaft durfte dem sowjetischen Gast nicht den Rücken zeigen. Daß sie ihn uns jetzt nicht einmal technisch zukehren konnte, deprimierte sie zutiefst.
Wer der Macht täglich ins Auge schauen mußte, hatte damit keine Probleme. Schon während meiner Selbstverpflegungs-Mittagessen im Schriftstellerklub erlernte ich einen Blick, den ich «Krawattenblick» nannte. Jan Pilař, der Direktor des Schriftstellerverbands-Verlags, war es, dessen Schamlosigkeit mich zum erstenmal zwang, mit einem auf den Knoten seiner Krawatte geheftetem Blick an ihm vorbeizugehen. Die starren und doch nicht sehenden Augen nötigen unliebsame Bekannte zu bemerkenswert komischen Reaktionen, einem unvollendeten Niesen ähnlich.
Es war, als ob ein umkämpfter Schützengraben durch den Zuschauerraum liefe. Die einen fesselte sowohl das mitreißende Spiel als auch die reizvolle Situation, die anderen schluckten vor Wut und vor augenblicklicher Ohnmacht. Sie zeugte vom schlechten Gewissen und von der Angst, die Renegaten auch in Epochen bedrückt, welche sich als tausendjährig betrachten.
Als sich Tabakow abgeschminkt hatte und ins Foyer kam, wählte er Zet für die erste Umarmung aus. Dann zog er uns beide in den schummrigen Zuschauerraum und ließ sich unsere Geschichten erzählen, während die Funktionäre des neuen Theaterverbandes am Buffet immer wütender warteten. Seine frische Präsidentin, Jiřina Švorcová, die einst in meinem Erstling Das gute Lied den verfrühten Höhepunkt ihrer Karriere gefeiert hatte, rächte sich jetzt an allen Kollegen, die sie wegen ihres nachlassenden Talents und ihrer zunehmenden Einfältigkeit in den Schatten stellten. Ihre Hauptrivalin Vlasta Chramostová hatte sie ganz persönlich auf dem Gewissen, andere Konkurrentinnen aus meinem alten «Weinberger-Theater» rettete nur bedingungslose Kapitulation.
Sie verließ diese erniedrigende Premieren-Party türenknallend, um dann nach einer Weile doch zurückzukehren und zu versuchen, sich den illustren Gast zu erkämpfen. Sie kam im Zuschauerraum auf uns zumarschiert, vor Erregung grüßte sie mich sogar zuerst. Mit der gekränkten Stimme des Ewigen Mohren, dem schon wieder Unrecht geschieht, fragte sie Tabakow, wann er Zeit für sie habe.
«Morgen, Irinka!» sagte er lieb und wandte sich wieder uns zu; sie ging fast weinend, während die Direktion zitterte, das Ensemble sich in die Fäustchen lachte und Landovský strahlte.
Am nächsten Tag ging Tabakow mit uns ins Klosterrestaurant essen, beteuerte uns sein Vertrauen und seine Freundschaft und versprach, obwohl von mir gewarnt, zum Zentralkomitee seiner Partei zu gehen, um dort offen über die Schweinereien zu berichten, die hier im Namen und auf Kosten seines Vaterlands geschahen. Er lud uns auch zu seiner Abschiedsfeier nach der letzten Vorstellung ein: Einmal im Leben aß Zet Kaviar mit dem Suppenlöffel. Weder das eine noch das andere werde ich ihm je vergessen. Und wer weiß, ob ihm nicht auch seine Heimat einmal dankbar sein wird, daß er zu den ersten Mutigen gehörte, die ihren schlechten Ruf zu verbessern suchten? Auf den Abgang der Eismänner sollten die Sowjetunion und die Welt noch ganze zehn Jahre warten ...
Als er abreiste, hinterließ er in uns ein Gefühl, für das er sogar den Beifall Dr. Černýs verdient hätte: daß die Welt fast in Ordnung und nichts zu fürchten sei, so daß wir auch unbesorgt nach Hamburg reisen könnten.