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Böhmen, noch Herbst 1974

Der Geist von Helsinki steckte noch in der Flasche, er sah ärmlich wie ein Embryo aus, doch war er schon ganz lebenslustig.

Die Schnepfen verließen Böhmen, Zet kam zurück. Die Paß- und Zollbeamten auf dem Flughafen Ruzyně überschlugen sich in Nichtbeachtung. Seit dem Frühlingstag, an dem mich Dr. Černý aus dem Kompost herausziehen ließ, hatte ich keinen Polizisten mehr gesehen, und meine Freunde allesamt ebensowenig. Es schien, daß der mit Wundermacht ausgestattete Mann uns wie eine besorgte Hausfrau jedes Steinchen, über das Zet und ich hätten stolpern und wodurch wir uns dann alles noch einmal hätten überlegen können, aus dem Weg räumte.

Er war sich, glaube ich, sehr wohl klar darüber, daß ich in dieser Zeit auch das geringste Symptom mit einer starken kollektiven Lupe untersuchte, um rechtzeitig herausfinden zu können, ob die Möglichkeit einer befristeten Reise wirklich Kennzeichen einer Wende zum Besseren oder nur eine List war. Und bestimmt war er sich meiner Solidarität mit den Freunden bewußt, die, wenn ich sie jetzt bezeugen müßte, das zarte Gewebe seiner Mühen unwiederbringlich zerreißen würde.

In der Unberechenbarkeit byzantinischer Regime, die am stärksten die Bürger bedrückt, welche in ihr Räderwerk geraten sind, liegt paradoxerweise auch die größte Hoffnung auf Befreiung. Zum Tauwetter, wie es seit dem Krieg fast alle, allgemein «östlich» genannten Gesellschaften erlebt haben – Polen sogar einige Male! –, genügt eine unerwartete tektonische Störung in der herrschenden Gruppe.

Um das System zu erhalten, sind dann die Regime oft zu weitreichenden Konzessionen bereit. Bei glücklicher Konstellation von Personen und Sternen, wie sie hier zuletzt Anfang der sechziger Jahre bestand, kann sich für längere Zeit eine atembare Atmosphäre herausbilden. Bedingung ist, eine solche Chance rechtzeitig zu erkennen, keine wesentlichen Fehler in der Einschätzung von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu machen, sich nicht auf den Fliegenfänger der listigen Macht zu setzen, aber auch den Schwan der Hoffnung nicht zu verpassen, der so schnell nicht wiederkommt. So verstand ich auch meine Reise nach Hamburg.

Doch ob es nun eine List war oder der Versuch des vorausschauenderen Teils der Machtgruppe in der sowjetischen Metropole wie auch der Unsrigen, das Odium politischen Ganoventums loszuwerden, das ihnen die Schlägertrupps unter ihnen angeklebt hatten: In diesem Sommer liefen die Interessen der zum Schweigen Gebrachten und der zum Schweigen Bringenden anscheinend parallel. Uns tat die Pause gut.

Das intensive Spiel auf den Tasten der Schreibmaschine konnte ich durch inständiges Üben auf den Saiten der Gitarre ergänzen. Ich erfüllte mir damit einen Kindertraum und konnte Zet bald ein Lied zum Beginn ihrer Christi-Jahre, womit in Böhmen das dreiunddreißigste Lebensjahr bezeichnet wird, komponieren. Eine fehlerhafte Sicherung in meiner Psyche, die oft Körperkraft mit Willensstärke verwechselt, brachte mir eine neue Sehnenentzündung im Handgelenk ein und verhinderte meine Konzertkarriere. Schade, ich wäre vielleicht – wie der Geiger Menuhin – dem Preis des deutschen Buchhandels nähergekommen.

Der einzige, der seine Chance restlos nutzte, warst du, mein begabter Dackel. Am Morgen des 6. Oktober schlug deine ruhmreiche Stunde. Die Ehefrau des Ing. Čech, dessen altes Herz so erregt war, daß sie ihn lieber zu Hause ließ, übernahm dich von uns, das letzte Mal, um dich offiziell zu dem entscheidenden Akt, der gefürchteten Musterung auf der Nationalen Zuchtschau, zu begleiten.

Sie fand unweit des Krankenhauses in Krč statt, wo wir nach den ersten drei Operationen mit sinkender Hoffnung den sterbenden Freund Jan Procházka besucht hatten, unter dem Wald bei Lhotka, der bald zum Teil einer neuen Prager Siedlung weichen sollte. Wir ahnten nicht, daß gerade dieser abgelegene Hügel dreißig Monate nach unserer Vertreibung vom Hradschin wie der Zauberberg versuchen würde, uns für immer an sich zu ziehen.

Heute jedoch bebte die Wiese vom erregten Gebell vieler deiner Stammesgenossen. Glatthaar-, Rauhhaar- und Langhaardackel, Jungen und Mädchen, mit zarter Haut wie Saffian und mit zerkraustem Schafsfell, von semmelbeige und pfeffergrau über kaffeebraun bis kohlrabenschwarz, Deutschdackel mit latschigen Pfoten, die aus der Brust zu wachsen schienen, verfeinerte Nachkommen der k. u. k. Dackeldynastien und auch hohe böhmische Dackelwalachen, das alles da capo al fine in Zwergenausgaben, ihr zerrtet ja, bäumtet euch an den Leinen der nicht weniger erregten Besitzer und Führer.

Weder die rauhen Berufsförster noch die hohen militärischen und polizeilichen Ränge, die Paradeuniformen angelegt hatten, um so die Autorität ihrer Lieblinge zu verstärken, weder die Zivilpotentaten, welche akademische Titel, politische Funktionen oder sogar das allmächtige Szepter des Leiters eines Geschäfts mit Mangelware in die Waagschale werfen konnten, noch gar die abgebrühten politischen Unpersonen wie Zet und ich konnten das Beben der Glieder und der Seele verbergen, als ihr jetzt vereinzelt einer minuziösen Untersuchung unterzogen wurdet, vor der Personalfragebogen, gerichtliche Verhöre und militärische Schwanzparaden geradezu verblaßten.

Einige Männer, deren Inneres sich während der Jahre ihres Schiedsrichterns bei Hundewettbewerben und Ausstellungen, von Klagen und Händeringen erfolgloser Besitzer begleitet, gepanzert hatte wie einst das Herz der Inquisitoren, leierten über jeden von euch eine Litanei herunter, ähnlich dem Start-Check eines Jumbojets.

Schon bei der lauten Aufzählung der jeweiligen Eltern, Großeltern und Urgroßeltern sahen wir, wie sich die Nüstern der Richter lobend oder ablehnend blähten. Sie ähnelten Vorkostern, denen Namen und Jahrgänge der Reben präsentiert werden. Wie wir angenommen hatten, rief dein Stammbaum Aufmerksamkeit hervor, die der Name des Führers noch verstärkte. Ein Dackel, der das Vertrauen von Ing. Čech höchstpersönlich gewonnen hatte, schien hier den Respekt eines vom Herzog von Edinburgh gesattelten Rosses zu genießen.

Sie begannen, aus den amtlichen Zeugnissen die Noten deiner Prüfungen vorzulesen und nickten anerkennend bei den Anmerkungen der Kommissare «laut auf der Spur» oder «apportiert aus dem Wasser». Dann kam der große Augenblick der Wahrheit, vor dem sogar die Förster und ebenso die Offiziere des Staates und der Partei zitterten, denn wie bei Menschen gilt auch bei Hunden: Nobody is perfect! Sie hoben dich auf den Tisch, um deine Fehler zu entdecken.

Einen Fehler, obwohl verborgen, hattest auch du, ruhmvoller Edi! Und wir wußten davon und warteten, ob er entdeckt werden würde. Du wurdest gewogen und gemessen, betastet und gewendet, dein Blick geprüft und dein Schwanz, oder besser deine Rute, wie wir Züchter eigentlich nach Jägerart sagen sollten, taktloserweise hat man sogar deine Männlichkeit streng geprüft!

«Dünnes Unterhaar ...», verkündete einer der Auguren, wobei er dein Fell zwischen den Fingern drehte, und uns blieb das Herz stehen, bevor er hinzufügte – «aber samt Deckhaar in der Norm.» Dann stellten sie dich auf den Boden und ließen dich im Kreis gehen. Und gerade das war der riskante Moment, das Hazardspiel um die zukünftige Spielbank voller Welpen. Aber schon war es auch vorbei. Der Hauptschiedsrichter leitete aus den Bewegungen der übrigen Köpfe ein übereinstimmendes Urteil ab, das er jetzt zu Protokoll verkündete.

«Edison Venor, Besitzer Ing. Čech, E. R., Zhd.»

Dieser einzigartige Ausspruch, vom neidischen Klatschen der Konkurrenz begleitet, bedeutete, übersetzt in Menschensprache, daß du die höchste Klassifikation, «Elite-Rekord», zugestanden bekommen hattest und das Prädikat «Zuchthund der Tschechischen Sozialistischen Republik».

Du warst nun der dritte Akademiker in unserer Familie, und der einzige summa cum laude. Und auf der ganzen Welt wußten nur vier Eingeweihte, daß du zu häufig erregt den Schwanz hebst, was ein erstklassiger Dackel keineswegs darf. Vor der Kommission allerdings zeigte sich, daß auch du das wußtest. Du hast deine Schau mit der Gelassenheit eines Vollprofi-Rüden abgezogen.

Frau Čechová wehrte den Ansturm der ersten kaufwilligen Interessenten ab, notierte sich aber die ersten Bewerber um deinen Samen und Stamm. Aus dem Klosterrestaurant beendeten wir telephonisch die Qualen des in Písek wartenden Ing. Čech. Beim Kaffee wurde in deinen Rassehundausweis die neue Besitzerin eingetragen: Jelena Mašínová.

Da sie bei der Heirat ihren Mädchennamen behielt, wurde die strenge Hundepolizei des Staatsverbandes für die Zusammenarbeit mit der Armee getäuscht: Zet fiel nicht auf, ihre Mitgliedschaft hat man nicht abgelehnt. Dein Liebesleben war nun erlaubt und vom gesamten sozialistischen Lager garantiert.

Bis auf Widerruf.

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