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Europa und Böhmen, Herbst 1974

Anfang September sah Zet die österreichische Premiere meines Stücks Armer Mörder in Wien. Mitte Oktober sah sie sich mehrere leere Wohnungen in Hamburg an, bis es ihr mit unserem sprichwörtlichen Wohnungsglück gelang, die richtige in der malerischen Milchstraße an der Alster zu finden, von wo man mit dem Boot ins Theater fahren konnte; sie sollte unser sein, wenn wir sie bis zum 31. Dezember mieteten. Und Hundehalten war erlaubt! Ende September meldete sich Zet schon aus Luzern, wo sie über die Einzelheiten der Uraufführung von Roulette für den nächsten Sommer verhandelte. Es war wie ein Traum aus einem anderen Jahrhundert.

Auch zu Hause lebten wir inzwischen wie in guten alten Zeiten, wir wurden so gut wie nicht festgenommen, fast jeder der Verbotenen holte zweiten Atem und schrieb mit voller Kraft. Der literarische Salon hatte ausgedient, weil er akustisch nur kleine Ausschnitte der neuen Arbeiten vermitteln konnte, unter denen sich umfangreiche Romane von Hrabal, Klíma, Šotola, Kliment und Gruša befanden. In dem Bedürfnis, das alles in Ruhe selber lesen zu können, fertigte sich einer der verfemten Autoren mit der Erlaubnis anderer von einigen Manuskripten Schreibmaschinenabschriften an.

Um die Kosten zu senken und weil es eine Sünde gewesen wäre, es nicht zu tun, bot er den nächsten Schriftsteller-Freunden Durchschläge an; eine ordentliche Schreibmaschine schaffte bis zu sechzehn. Die ersten «Ausgaben» zeichnete er auf einem selbstgemalten Neujahrsgruß hinter Schloß und Riegel. Die Edice Petlice, also Edition Schloß und Riegel, war geboren, höchstwahrscheinlich Europas bedeutendste verlegerische Tat der siebziger Jahre.

Ohne Redaktion und Administration, ohne feste Adresse und Distribution, ohne moderne Technik, selbstverständlich auch ohne Autorenhonorar begann eine seltsame Einrichtung zu funktionieren, die bald zum alternativen Großverlag avancierte. Dieser paßte in eine Aktentasche, unter deren Gewicht ihr Besitzer mehr und mehr stöhnte, der Vater und Sklave all dessen, Ludvík Vaculík.

Ein stattlicher Fünfziger mit dicker Brille und einem mächtigen Schnauzer, Walachenjunge aus Mähren, Lehrling in Baťas Schuhfabrik, Kommunist der ersten Stunde, Student, Erzieher, Redakteur im Rundfunk und endlich in Literární Noviny, der berühmten Wochenzeitung, die im Jahre 1968 auch dank seiner Beiträge eine Auflage von über 300000 erreichte, kam er gleich mit zwei Paukenschlägen in die zukünftigen Lesebücher: im Jahre 1966 mit dem autobiographischen Roman Das Beil über den tödlichen Schock, der den ideellen Altkommunisten durch die blutige Realisierung ihres Traumes in Form der Terrorprozesse versetzt wurde, und ein Jahr später mit der Rede auf dem IV. Schriftstellerkongreß, der den Prager Frühling mit eingeleitet hat. Der endete eigentlich mit dem Manifest der 2000 Worte, das wiederum Vaculík im Namen einer Gruppe von Wissenschaftlern formuliert hatte.

Der skrupellose Moralist, der aufhörte, taktische Gesichtspunkte in der Politik, Literatur und auch in der Liebe anzuerkennen, koste es, was es wolle, schrieb sich zum großen Stilisten empor. Seien es Zeitreportagen, sei es der zweite Roman Meerschweinchen, seien es die späteren kurzen Feuilletons, die er ein Jahrzehnt lang mit der Regelmäßigkeit des Vollmonds schreiben wird, sie alle gehören zu den eindringlichsten, geistvollsten und sprachlich ausgefeiltesten Texten, die in der tschechischen Sprache je geschrieben worden sind.

Dieser bemerkenswerte Mann, ständig von eigenen persönlichen, bürgerlichen und schöpferischen Stürmen hin- und hergeschleudert, im Nu gesellig und wieder verschlossen, konzentriert und zerstreut, bezaubernd und widerwärtig, liebenswürdig und rauh, kompakt und gespalten wie nur wenige große Persönlichkeiten, denen ich begegnet bin, wurde für Jahre freiwillig und ohne Bezahlung zum öffentlichen Dienstboten der tschechischen Literatur.

Diener seiner ebenso verbotenen Kollegen, deren neue Werke er abschreiben, zuerst nur broschieren, später dann – damit auch ihr Äußeres der Bedeutung entspreche – binden und schließlich sogar mit Originalillustrationen der besten verbotenen Graphiker schmücken ließ, doch ebenso auch Diener des ständig wachsenden Abnehmerkreises, dem er neue Bände in seiner schweren Tasche bis in die Wohnung zustellte und bei denen er meist lange die Schulden eintrieb: den Beitrag für Papier, Farbbänder, Kohlepapier, das Abtippen und das Binden.

Dank seiner furchtlosen Unermüdlichkeit wuchs der Akt geistiger Selbstverteidigung einer kleinen Gruppe zu einer nationalen Institution heran. Er versetzte der Macht einen Schock im kulturellen Bereich, von dem sie sich eigentlich nie erholt hat: Sie fand nicht einmal einen Paragraphen dagegen. Weil es nicht um Pamphlete ging, sondern nachweislich um Kunstwerke, von denen so manches bald darauf im Ausland erschien, weil alles von Hand und nicht mechanisch vervielfältigt war und vor allem, weil jedes Exemplar die Unterschrift des Autors trug, die ihm den Rechtsstatus eines Manuskripts garantierte, kam es dazu, daß die Bände der Edice Petlice bei Hausdurchsuchungen zwar häufig beschlagnahmt, aber dann auch oft zurückgegeben wurden.

Das Regime durfte keine weiteren Berge von Porzellan zertrampeln, wenn es sich gleichzeitig um einen neuen Eintritt in den europäischen Salon bemühte, was der Große Bruder gerade zu brauchen schien. Noch immer war die Kulturwelt bereit, eher Solschenizyn und Böll zu glauben als Hermlin und Engelmann. Das beeinflußte weiterhin sowohl das Denken der Entspannungspolitiker wie auch die öffentliche Meinung Europas.

Die Straflosigkeit der Edition war höchstwahrscheinlich von der gleichen Zauberküche garantiert, die für Zet und mich frische Reisepässe gebacken hatte. Die Zeit sollte bald verraten, daß sich die slowakotschechischen Falken, ob sie wollten oder nicht, an der allöstlichen Brautwerbung beteiligen mußten, mit der man den Westen soeben an den Verhandlungstisch der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa lockte. Von ihr versprach sich die Breschnew-Gruppe, daß sie die militärisch-politische Teilung des gefährlichen Kontinents zumindest für jene sprichwörtlich ewigen Zeiten gesetzlich verankern würde.

Von den vorhergehenden Tauwetterperioden sollte sich diese sicherheitshalber darin konsequent unterscheiden, daß sie keine riskante Erwärmung bewirken, sondern nur ein weiteres Fallen des Quecksilbers verhindern wollte. Die Edition Schloß und Riegel war deshalb nicht im geringsten ein Sproß gesellschaftlicher Bewegung, eine Frühlingsschwalbe, wie es etwa die Filme der tschechischen neuen Welle Anfang der sechziger Jahre waren. Sie war und bleibt ausschließlich Kind ihrer Väter, der tschechischen Schriftsteller der siebziger Jahre, die sich weder als Bürger noch als Künstler entmündigen ließen. Und vor allem Kind ihres Pflegevaters Ludvík Vaculík.

Als Mitte des vorigen Jahrhunderts die tschechische Sprache und Literatur dank der nie totgeschwiegenen Kralitzer Bibel der böhmischen Protestanten nach zweihundert Jahren Germanisierung von den Toten auferstand, verlegte der legendäre Kramerius sechs Dutzend Bücher, die er allerdings auf Gutenbergs praktischer Maschine druckte. Aus der tschechischen Geschichte ragt er bis heute wie ein Denkmal heraus.

Vaculík mit seinen maschinenschriftlichen Auflagen von sechzehn bis zweiunddreißig Exemplaren – ein- oder zweimal von Hand getippt – verbrannte unvergleichlich viel mehr Energie unter unvergleichbar schlechteren Bedingungen: Im Unterschied zum geschätzten Unternehmer Kramerius war er ein Geächteter. Weit über zweihundert Neuerscheinungen von Prosa und Poesie, die er so herausgegeben hat, werden ihm einen Platz in der tschechischen Kulturgeschichte auch dann noch sichern, wenn das Wort «husák», das «Gänserich» bedeutet, wieder nur ein Begriff aus der Naturkunde sein wird.

In der ungleichen Konkurrenz ließ der Ein-Mann-Verlag Vaculík, was die Qualität der veröffentlichten Arbeiten anlangt, alle Verlage des Regimes weit hinter sich. Eigenhändig holte er die tschechische Literatur aus dem Grab, indem er ihre Kontinuität wiederherstellte und den verbotenen Autoren das Gefühl des Publiziertseins wiedergab. Er war es, der als erster das Leben auf den Kulturfriedhof zurückbrachte und den schwierigen und langwierigen Prozeß seiner Auflösung in Gang gesetzt hat.

In jenem Herbst pflegten wir uns beide mit der uns angeborenen Pünktlichkeit mindestens einmal in der Woche an der öffentlichen Sauna vor dem Nationaltheater zu treffen, um dann drinnen eine Stunde lang miteinander, jeder über etwas anderes zu schweigen, oder zuzuhören, wie sich die Mitschwitzer über Versammlungen unterhielten, über Auslandsreisen und andere Erlebnisse aus einer für uns fremden Welt. Nackt und schnurrbärtig blieben wir unerkannt.

Im Schwimmbecken, klein wie ein Spucknapf, in die träge dahinfließende Moldau eingetaucht, teilten wir uns dann knapp und leise mit, was das weitreichende Ohr des Regimes nicht hören sollte. Dort antwortete Vaculík mir einmal auf die Frage, wie es ihm gehe, mit dem Satz, den ich selbst weiterhin dankbar anwenden werde, weil er die ganze Einsamkeit von Verfemten ausdrückt:

«Ich kann mich nicht beschweren. Ich wüßte nicht, bei wem.»

Im Jahre 1980 wurde er von führenden deutschen Schriftstellern für den angesehenen Preis des deutschen Buchhandels vorgeschlagen, der ihm, neben anderem, eine wichtige Immunität hätte verleihen können. Statt seiner bekam ihn der Geiger Yehudi Menuhin, dessen Schreibbemühungen sich niemals mit Vaculiks Geigenspiel vergleichen lassen. Vaculík spielt auch ziemlich gut Geige.

Vielleicht wird es mal in der Zukunft für einen schönen deutschen Musikpreis reichen?

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