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ОглавлениеUngarn und Böhmen, noch Sommer 1974
Oh, Staatsgrenze, magischer Kreis, der du uns jahrelang eingeschlossen hast und viele ihr ganzes Leben lang einschließt wie eine Gefängnismauer, für die einzige Sünde, nicht zur rechten Zeit, nicht am richtigen Ort geboren zu sein! Oh, grenzenloser Westen, allein der erzwungene Aufenthalt auf der immergleichen Heimaterde würde viele deiner Kraftmeier in brave Buben verwandeln, damit sie zur Belohnung für gutes Betragen die Nase wenigstens in benachbarte Auen stecken dürfen!
Wie alle seine Inhaber berechtigte uns der neue Paß zum visumfreien Besuch des sozialistischen Balkan, mit Ausnahme des rebellischen Jugoslawien. Weil mir die Militärverwaltung aufgrund der geförderten Hamburg-Reise, über die sie offenbar instruiert war, auch die bislang verweigerte Bestätigung gab, mein Wehrpaß sei ordnungsgemäß bei ihr aufgehoben – meinen Rang führten sie in dem Schriftstück lieber nicht an –, entschlossen wir uns, diesen Zauber auszukosten, wie es uns gefiel.
Es gefiel uns, nach Budapest zu fliegen, wo ich zuletzt im Jahre 1958 mit meinem bemerkenswerten Vater war, zur Premiere von So eine Liebe, im riesigen Vig Szinhaz. In der Stadt klafften damals noch Wunden aus dem Herbst 1956; die in den Seelen waren noch tiefer. Bei der Reservierung der Flugtickets verschwieg ich den Vornamen, beim Abflug von Käfig zu Käfig wurde nicht groß kontrolliert, und am Abend des 10. Juli schauten wir von der Terrasse des altmodischen Hotels Gellert, das uns so sehr an das geliebte Karlsbader «Pupp» erinnerte, bei Zigeunermusik auf die Donau. Es war uns gelungen, und ohne «Verlust der Blume».
Die Stadt war wie ausgewechselt – fröhlich und freundlich. An den Wunden litten diesmal wir. Mein Theaterverleger, Eric Spiess aus Kassel, und mein Buchverleger, Jürgen Braunschweiger aus Luzern, kamen erst angeflogen, nachdem wir uns aus Budapest gemeldet hatten. Vorher wollten sie es nicht glauben. An drei Mittagen und drei Abenden aßen wir uns bei «Matyas Pince» durch die ganze Speisekarte, dazwischen erzählten wir den beiden auf der Terrasse bei kaltem Harslevelü all die unwahrscheinlichen Geschichten aus der Zeit, als sie keine Visa mehr zu uns bekommen hatten.
Wir regelten unsere und unserer Prager Freunde literarische Angelegenheiten, zur Sicherheit gleich für fünf Jahre. Als wir beim Rückflug in wolkenlosem Blau aus der Vogelperspektive zuerst Sázava und dann den Hradschin-Platz sahen, war unser Bedürfnis nach der Welt für lange Zeit gestillt. Dieser kleine Ausflug sollte meine allerwichtigste Reise bleiben. Er übertönte im Gedächtnis auch die lang vergangenen drei Monate China, und auch das spätere Amerika wird ihn nicht überschatten. Es war – auch in dieser bescheidenen Ausgabe – die Neuentdeckung der verschollenen Welt.
Wir landeten in Ruzyně – nicht weit entfernt vom gleichnamigen Gefängnis – am Nachmittag des 14. Juli und standen um halb sechs abends auf dem Rasen des Buquoy-Palasts, wieder einmal mit Drinks zu Ehren des Bastille-Sturms, unter den Freunden, die sich mit uns freuten. Die Kenntnis von unserer Ungarnreise verbreitete sich unter den Gästen des alljährlichen Festes, zu dem die Französische Botschaft nach wie vor alle einlud, die sie auch früher bewirtet hatte, immer noch heldenhaft die Proteste der neuen Machthaber ertragend, die uns nicht in die Augen sehen wollten. Diese Aufseher unserer Bastille, insbesondere die Vertreter der neuen Künstlerverbände, waren nach dieser Nachricht der Ohnmacht nahe. Wir konnten uns ausrechnen, daß sie sich von ihr bald erholen würden, doch auch solche Minierfolge luden uns für lange Zeit mit Energie auf.
Bei der Redaktion der Zeit entschuldigte ich mich, ich würde auf den Brief von Grass antworten, sobald es möglich sei. Ihn selbst informierte ich auf Umwegen darüber, daß unsere Konfrontation mit der Macht einen kritischen Punkt erreicht hatte und wir uns derzeit bemühten, ein wenig Zeit zum Atemholen zu gewinnen. Die versuchten wir allesamt optimal zu nutzen.
Ich schrieb das Stück Gott in Frankreich nach Romain Rollands Roman Meister Breugnon. Mein Leben lang habe ich hauptsächlich für mich geschrieben. Nach der grausamen Ballade Andrejevs brauchte ich das Thema des Kampfes eines Burgunder Weinbauern mit dem Krieg, den Krankheiten, der Liebe und dem Tod geradezu physisch; es gab mir Hoffnung, daß auch ich meine Kriege heil überstehen werde.
Das Stück sollte auch ein Geburtstagsgeschenk für meinen alten Freund, den Schauspieler Valter Taub, sein. Er war fast der letzte der legendären Prager deutschen Juden, erzogen in drei Kulturen. Nach dem Krieg kehrte er aus der Emigration zurück, begann tschechisch zu spielen, und ich habe für ihn einige Hauptrollen geschrieben, vor allem die des Herrn im Talar in So eine Liebe. Nach 68 durfte man über seine hervorragenden Leistungen nicht mehr in der Presse berichten. Aus diesem Bann befreite ihn erst Willy Brandt, sein Freund aus dem Exil, als er ihn als Bundeskanzler bei seinem Staatsbesuch auf die Prager Burg einlud und an seinem Tisch sitzen ließ. Schau an, auch ein Spitzenpolitiker kann sich wie ein Mann von Ehre betragen!
Unser Valtrrchen konnte inzwischen schon fünfunddreißig Worte, der Karikaturist Liďák lehrte ihn innerhalb weniger Tage an der Sázava den besonders papageienhaften Satz:
«Mám rrrád ministrrra vnitrrra!» – Hab den Ministerrr fürrr Innerrres gerrrn!
Der Laut, von dem der Vogel so freudetrunken Gebrauch machte, quälte dagegen Václav Havel. Das brachte uns auf die Idee, gemeinsam eine Groteske zu schreiben, genannt Rr, über einen Logopäden, der seinen verzweifelten Patienten von diesem Sprachfehler heilt. Da die Post unsere Briefe immer noch beförderte und der Inhalt des Einakters recht unschuldig war, verfaßten wir den Text auf dem Korrespondenzwege, so wie man auch Schach spielt. Den Freunden führten wir das Opus in Hrádeček persönlich vor. Den Wissenschaftler spielte Havel, und das Rätsel seiner plötzlich fehlerlosen Aussprache mußten wir dem staunenden Publikum nachträglich verraten: Im ganzen langen Text seiner Rolle waren wir ohne ein einziges «r» ausgekommen.
Der Sommer gehörte einfach allen Freuden des Lebens, von der Arbeit bis zu Zet, Valtrr und dir natürlich, mein eifersüchtiger Dackel! Er verdient es, daß für uns und alle zukünftigen Gourmets die drei erfolgreichsten Rezepte festgehalten werden:
Pfarrerkoteletts (Zet): In die gefettete, mit geriebenem Hartkäse ausgelegte Pfanne werden vorgebratene Schweinekoteletts gelegt, darauf Zwiebelringe, wieder Reibkäse und Butterflocken; alles mit einem Viertelliter Weißwein übergießen und im Backofen zu einer dicken Sauce backen, etwa 20 Minuten. Als Beilage rohe Kartoffeln, in nicht zu dünne Scheiben geschnitten und auf beiden Seiten gefettet; kommen gleichzeitig mit den Koteletts auf ein Blech in den Backofen; einmal wenden.
Schnitzel à la Berry (Havel): Kurz angebratene Kalb- oder Schweinefleischscheiben werden in eine Bratpfanne gelegt. In einer zweiten Pfanne werden geschnittener Schinken, Champignons und geschmorte Zwiebel mit Mehl bestreut, mit kalter Milch übergossen und gegart. Alles zusammen 20 Minuten lang backen und mit kalter süßer Sahne und Bratkartoffeln oder Kartoffelauflauf servieren.
Linsen mit Reis (ich): In zwei Töpfen werden Reis und nicht eingeweichte Linsen gesondert etwa 25 Minuten in 2½ Teilen Wasser gekocht, bis sie weich sind, auf einem Teller nebeneinander angerichtet und kräftig bestreut mit gerösteten Zwiebeln samt Schmalz und Grieben – es gibt nie genug davon! Zu dem Ostrauer Essen der armen Ureltern fügten meine besser situierten Eltern Spiegeleier hinzu, der Enkel-Dramatiker dann «kanadische Rose», wie in Böhmen eine angeschnittene und gebratene Speckwurst heißt, mit süßsauren Gurken garniert und mit süßem Senf bestrichen.
Hinter all diesen Vergnügungen aber tickte der Wecker des Dr. Černý unablässig weiter. Vorgeladen, um den Stand der Vorbereitungen zu erläutern, handelte ich mir eine Rüge des ungeduldigen Daněk ein.
«Was erlauben Sie sich! Wir geben Ihnen einen Paß, und Sie machen damit Ausflüge!»
«Wenn ich nach Hamburg reisen soll, ohne daß ich nach Budapest fahren darf, dann ist das die Fortsetzung der Diskriminierung, und wir können alles abblasen!» konterte ich.
Dr. Černý beeilte sich, mir recht zu geben. Er tat alles, damit ich den ursprünglichen Antrittstermin zum 1. August einhielt. Das alarmierte mich natürlich. Von Budapest aus hatte ich mit dem Theater telefonisch vereinbart, ich werde mich erst bis zum 1. Januar 1975 entscheiden: Ich wollte dem Zeitdruck entgehen und hatte gut daran getan. Unmittelbar vor dem ursprünglichen Termin, dem 1. August dieses Jahres, spielte sich etwas Seltsames ab.
Der Redakteur Peter Grubbe vom Hamburger stern, der mich im Februar besucht hatte, um mit mir für die Serie Dichter suchen ihre Paradiese eine Reportage über Südböhmen zu vereinbaren, veröffentlichte plötzlich unter dem emphatischen Titel Ich kenne alle Schleichwege ein Gespräch mit mir. Ich prahlte darin wie ein vollkommener Idiot, wie ich im Falle einer Ausbürgerung heimlich über die Grenze zurückkehren würde.
Seit dem Jahre 1963, als ich anfing, für westeuropäische Medien Interviews zu geben, hielt ich mich an ein strenges Gebot: Es darf nicht ein einziges Wort gedruckt erscheinen, dem ich nicht zugestimmt habe. Diese Fälschung war umso unerhörter, als ich Grubbe ein politisches Interview ausdrücklich verweigert hatte.
Seines war von der Art, daß es zur Aberkennung der Staatsbürgerschaft gereicht hätte und außerdem dazu, mich zu blamieren, wäre ich schon, wie anfangs geplant, im Westen gewesen. Doch ich saß vorausschauend in Prag und teilte dem stern wie auch Dr. Černý mit, daß ich mich von hier nicht wegrühren würde, solange dieser Vorfall nicht aufgeklärt wäre.
Ich konnte mir gut vorstellen, wie sowohl hier wie dort jemandem der Kopf gewaschen wurde. Wir vier – Menschen wie Tiere – genossen weiterhin den gnadenvollen Sommer.