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Doppelfunktion: ein Konzentrations- und ein Vernichtungslager

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Im Fachjargon der Henker würde es heißen, in Auschwitz-Birkenau sei jedem sechsten Opfer der Shoah das Leben entzogen worden (in Anlehnung an den verharmlosenden Begriff „Lebensentziehung“19). Nachfolgend betrachten wir, welche Einschätzungen zu den Opferzahlen dieses möglicherweise schaurigsten Ortes auf unserem Planeten im Verlauf der Jahrzehnte vorgenommen wurden. Aufschlussreich ist diese Betrachtung allemal.

Entsprechende Quellen werden in den zahlreichen Abhandlungen aufgeführt, die in allen Sprachen und auf der ganzen Welt bis heute erschienen sind. Umfangreiche Primärquellen auf Grundlage von erhaltenen Archiven des Konzentrationslagers können dem Schriftenreihe „Hefte von Auschwitz“ entnommen werden wie auch anderen Herausgeberschriften, die von den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Gedenkstätte Auschwitz veröffentlicht wurden. Eine kompakte, aber recht vollständige Übersicht dieser Quellen hat Franciszek Piper in seiner Monografie „Die Zahl der Opfer von Auschwitz aufgrund der Quellen und der Erträge der Forschung 1945–1990“ gegeben20.

Befreit wurde Auschwitz am 27. Januar 1945 von Truppen der 1. Ukrainischen Front. Auf dem Territorium des Lagers arbeitete bald eine ganze Reihe sowjetischer Behörden und Kommissionen. Bevor die Deutschen das Lager evakuierten und verließen, hatten sie die systematische Vernichtung der Lagerarchive betrieben. Dennoch konnten die Befreier eine große Menge an Archivmaterial sicherstellen21. Am 26. März 1945 waren die sichergestellten Unterlagen der Hauptarchivleitung des NKWD der UdSSR übersandt worden, wo sie geordnet, systematisiert und teilweise analysiert wurden. Der Teil des Lagerarchivs, der in die Sowjetunion gelangt war, wurde mit der Zeit auf drei Magazine verteilt: das Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), das Russische staatliche Militärarchiv (RGWA) und das Wehrmedizinische Museum (WMM). Der Großteil der Unterlagen bezog sich auf die Zentralbauleitung der Waffen-SS und der Polizei Auschwitz, die im Lagerinteressengebiet ansässig war. Diese Dokumente gingen zwecks Analyse, Katalogisierung und operativer Verwendung beim sogenannten Sonderarchiv des NKWD der UdSSR ein, wo diverse Archivfunde gesammelt wurden (später ist das Sonderarchiv in das RGWA eingegangen).

Ein anderer, kleinerer Teil der Dokumente stellte sich als das Archiv der Lagerkommandantur von Auschwitz heraus. Diese Originale sind an das WMM in Sankt Petersburg übermittelt worden – zur Erforschung medizinischer Aspekte von Leben und Tod in dem Konzentrationslager. Später wurde diesen Akten Salmen Gradowskis Manuskript in jiddischer Sprache hinzugefügt. Gradowski war ein polnischer Jude aus der Gegend von Grodno, Mitglied des Sonderkommandos und einer der Anführer des Aufstands vom 7. Oktober 194422.

Letztlich sind in das Korpus des staatlichen Sonderkomitees (TschGK)23 und schließlich in den Bestand des GARF hauptsächlich Unterlagen eingegangen, die während der Tätigkeit unterschiedlicher sowjetischer und sowjetisch-polnischer Ausschüsse zur Feststellung der Verbrechen des Nationalsozialismus im ehemaligen KZ Auschwitz sichergestellt wurden. Diese Ausschüsse hatten zur Vorbereitung ihrer Berichte die vor Ort entdeckten Archivunterlagen herangezogen, die nachfolgend als Kopie im GARF und dann im RGWA und WMM archiviert wurden. Darunter befinden sich auch Dokumente, die unmittelbaren Bezug zur demografischen Bewertung von Auschwitz haben – nämlich die allerersten Schätzungen der Opferzahlen von Auschwitz, datiert vom 16. März 194524.

Von grundlegender Bedeutung war das System der Auswahl und der Registrierung der Häftlinge dieses Konzentrationslagers, ein System, das unter der Bezeichnung „Selektion“ in die Geschichte eingegangen ist. Auschwitz hat diesen an sich positiven Begriff, der in der Vorkriegszeit eher mit Agrarwissenschaften assoziiert wurde, mit einer anderen Konnotation aufgeladen, die jede sonstige Nebenbedeutung in den Hintergrund gedrängt hat.

Häftlinge, die für Zwangsarbeit, medizinische Versuche und andere den Köpfen der Nazis entsprungene Ziele herhalten mussten, wurden nach ihrer Ankunft auf einer Seite der Rampe25 aufgestellt – Alte, Kranke, Behinderte, Kleinkinder auf der anderen26.

Es war keineswegs so, als wäre es für die Ersten ein Glücksfall gewesen, auf diese Weise „auserwählt“ worden zu sein: Sie wurden nicht etwa willkommen geheißen, sondern registriert, mit einer Häftlingsnummer am Unterarm versehen und in die Quarantäne gebracht. Es war so, als würde man ihnen sagen: „Wir werden dich noch brauchen. Du wirst arbeiten, wir geben dir sogar etwas zu essen. Also bleibe noch ein bisschen am Leben, aber verhalte dich ruhig.“

Den anderen, die auf der Rampe normalerweise die große Mehrzahl stellten, gab man etwas anderes zu verstehen: „Wozu sollen wir euch überhaupt registrieren? Ihr kommt ja auch gar nicht zu uns, sondern in ein ganz anderes Lager. Wir werden euch jetzt belügen, dass sich die Balken biegen. Wir werden euch etwas über Arbeitslager im Osten erzählen, über Duschen und Desinfektion. Ihr seid bitte so freundlich, ruhig zu bleiben. Geht einfach weiter in den Entkleidungsraum und macht, was man euch sagt.“

Wer die Selektion nicht überstanden hatte, auf den wartete, gleich um die Ecke gelegen, tatsächlich ein ganz anderes Lager. Dieses Lager war nicht so weitläufig, bestand es doch eigentlich nur aus einer Rampe, einem Weg, der in die Gaskammern führte, und dem Qualm, der aus den Schloten der Krematorien aufstieg.

Die anderen Häftlinge kamen gleichsam auf eine Durchgangsstation. Denn in den Baracken von Auschwitz, Birkenau, Monowitz und den dutzenden Nebenlagern warteten auf die Elendsgestalten – zumindest auf die Juden und die „Muselmänner“27 – laufende Selektionen mit anschließender Überführung in den Krankenbau des Männer- oder Frauenlagers und daraufhin in die Gaskammern und Krematorien28. Lebend verbrachte ein Häftling in Auschwitz im Schnitt circa neun Monate. Seine Sklavenarbeit, seine persönlichen Gegenstände, Zähne und Haare brachten den Henkern durchschnittlich 1.631 Reichsmark ein. Die aus einem Häftling gewonnene Asche ist in diesen Betrag nicht eingerechnet, obwohl die Lagerverwaltung auch dafür Verwendung fand29.

Das Todeslager Auschwitz-Birkenau war ein durchaus innovativer Betrieb, der wie eine Fließbandfertigung funktionierte – das Ergebnis der höchsten ideologischen und ingenieurtechnischen Anstrengung der besten nationalsozialistischen Köpfe. Selbst die wirtschaftsgeografische Lage stimmte: Das Konzentrationslager befand sich an einem Eisenbahnknotenpunkt. Die von Krakau nach Kattowitz und Gleiwitz verlaufende Querachse trifft dort (jenseits der Sola, näher an Birkenau) auf die Längsstrecke Warschau–Ostrau.

Nichts ist dem Zufall überlassen, alles ist bis ins kleinste Detail durchdacht und technisch höchst raffiniert gelöst. Die Anlage zur Luftbeheizung in den Gaskammern beispielsweise hatte den Zweck, die Blausäure im Granulat dieses ganz speziellen „Desinfektionsmittels“ schneller verdampfen zu lassen, auf dass der Tod nicht lange auf sich warten ließ. Oder die Abflussrinnen zum Sammeln des Menschenfetts in den Verbrennungsgruben zum Beispiel. Oder die Siebe für die Asche und die Werkzeuge zum Zerstoßen und Zermahlen unverbrannter Knochen. Oder die ganz besonderen Sanitätswagen mit den roten Kreuzen an den Seitenwänden, die die Dosen mit dem Granulat und die Mitarbeiter (Sanitätsdienstgrade) mit den Gasmasken transportierten, die täglich aufs Neue ihr Leben heldenhaft riskierten – für das höchste und edelste Ziel des Dritten Reichs: die Entjudung Europas30.

Anfänglich fiel das KZ Auschwitz in der Reihe ähnlicher SS-Einrichtungen nicht weiter auf. Es mag erstaunen, doch fanden hier bis Herbst 1941 keine Massenmorde statt und die erste Gruppe todgeweihter Häftlinge musste aus dem Lager sogar abtransportiert werden. Dies geschah am 28. Juli 1941, als ein Transport mit 575 kranken und invaliden meist polnischen Häftlingen nach Pirna-Sonnenstein geschickt wurde. In der sächsischen Kreisstadt Pirna lag eine der Zentralen der sogenannten Aktion T4 oder – wenn wir einen Euphemismus der Nazis gebrauchen – der Euthanasie („Aktion Gnadentod“). Alle 575 Menschen wurden dort vergast und ihre Leichen eingeäschert. Ihre Verwandten erhielten gefälschte Sterbeurkunden31. Mit diesen mehreren Hundert Polen beginnt die eigentliche Geschichte Auschwitz-Birkenaus als Vernichtungslager. Die Fortsetzung mit den Tausenden sowjetischen Kriegsgefangenen und den Hunderttausenden Juden ließ nicht lange auf sich warten.

Auschwitz war fast das einzige Lager, das seine Funktion eines Konzentrationslagers sehr erfolgreich mit einer anderen Aufgabe vereinte – einer Aufgabe, die im Grunde seine wesentliche war, auch wenn administrativ nirgends erfasst: mit der Mission der „Lebensentziehung“ der Juden, ALLER Juden! Weitere Glieder dieses kleinen, aber überaus wirksamen Todesnetzes waren neben Auschwitz und Majdanek vier provisorische Vernichtungslager: Kulmhof, Treblinka, Bełżec und Sobibor32. Vermutlich ab Juni 1944 wurde die im KZ Stutthof installierte Gaskammer für die Desinfektion der Bekleidung zeitweise auch für die Ermordung von Menschen verwendet33.

Von nun an stach der Vernichtungskomplex Auschwitz-Birkenau in jeder Hinsicht hervor. Dieses Lager im Lager eignete sich besonders zur Todesfabrik. Die Türen seiner Gaskammern waren es, die die brodelnden Reihen noch atmender Menschen in seinen Drachenleib hineinsogen; seine Scheiterhaufen und die Schlote seiner Krematorien waren es, die Tag und Nacht brannten und qualmten, sodass kein Birkenhain entlang des fernen Saums des Riesenlagers dieses schaurige Flimmern verbergen und vor dem süßlichen, Brechreiz erregenden Geruch von verbranntem Menschenfleisch schützen konnte. Das Ritual der Selektion mussten alle durchmachen. Und wenn die arbeitsfähigen und noch lebenden „Glückspilze“ – die mit den gestreiften Arbeitsanzügen und den eintätowierten Nummern – endlich den Zusammenhang zwischen diesen Einzelphänomenen erkannten, dann fragten sie nicht mehr nach dem Schicksal ihrer Liebsten und Verwandten, von denen sie sich auf der Rampe für immer verabschiedet hatten …

Briefe aus der Hölle

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