Читать книгу Briefe aus der Hölle - Pavel Markovich Polian - Страница 7

Vorbemerkung Über dieses Buch

Оглавление

Dem Entstehen und der Entwicklung dieses Buchs hat der Zufall gehörig nachgeholfen. Im Herbst 2004 entdeckten Nikolai Pobol und der Autor dieser Zeilen im Archivverzeichnis des Zentralen Wehrmedizinischen Museums in Sankt Petersburg, in dem sie nach Auskünften über sowjetische Kriegsgefangene suchten, einen Hinweis auf ein Notizbuch von Salmen Gradowski, einem Angehörigen des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau. Dieser rote Faden spann sich weiter, zum Sonderkommando als Phänomen an sich und zu seinen anderen Mitgliedern, die ebenfalls Aufzeichnungen hinterlassen hatten, die nach dem Krieg aufgefunden wurden.

Die Entdeckung dieser Manuskripte in der Erde und Asche auf dem Gelände der Gaskammern und Krematorien von Auschwitz-Birkenau ist ein für die Geschichte des jüdischen Volkes ähnliches Wunder wie die Funde in der Genisa der Synagoge von Kairo Ende des 19. Jahrhunderts oder wie die Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer 1947. Allerdings bedeuten diese „Schriften aus der Asche“ mehr, als dass sie einfach nur unseren Wissensstand erweitern: Sie haben unsere Selbstwahrnehmung, unsere Vorstellung vom Menschen umgekrempelt, wie Anna Schmaina-Welikanowa es ausdrückte1.

Die Übersetzung ins Russische und die Veröffentlichung der Texte Salmen Gradowskis in den Jahren 2008–11 als Zeitschriften-2 und als Bucheditionen3 gaben einerseits den Anstoß zur Überlegung, auch andere Texte mit ähnlichem Schicksal in den wissenschaftlichen Umlauf zu bringen, und regten andererseits zur Aufarbeitung des Sonderkommandos als eines historischen Phänomens an.

Dadurch ist der russischsprachige Vorläufer dieser Edition entstanden – ein Buch, das in Russland unter dem Kurztitel „Svitki iz pepla“ („Schriften aus der Asche“) bekannt geworden ist und unter verschiedenen Titeln und Untertiteln dreimal – 2013 im Verlag „Fenix“ in Rostow-Don, 2015 und 2018 im AST-Verlag in Moskau – veröffentlicht wurde. Davon ist die zweiteilige Struktur dieser Ausgabe geprägt. Die Herausgebersektion besteht aus einführenden Essays, die mit Einschätzungen zu den Opferzahlen und einem Überblick über die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee beginnen. Es folgt ein Kapitel über das Sonderkommando als beispielloses historisches und psychoethisches Phänomen. Im Anschluss daran wird rekonstruiert, wie der Widerstand und die Rebellion vom 7. Oktober 1944 unter den Lagerbedingungen von Auschwitz-Birkenau organisiert wurden und in welchem Fluidum die Suche, die Entdeckung und die Publikation der Manuskripte des Sonderkommandos in der Nachkriegszeit erfolgten. Auf die Besonderheiten der Manuskripte und ihrer Verfasser wird im zweiten Teil eingegangen, in den Einführungen zu den jeweiligen Texten.

Dabei ist der erste Teil keine Monografie im wahrsten Sinn des Wortes als vielmehr eine Serie kurzer Abhandlungen, die nicht einem streng kausalen Erzählstrang folgen, sondern freier, gleichsam fächerartig arrangiert sind: Jede Abhandlung nuanciert das zentrale Thema auf ihre Weise, stellt einen eigenen, zusätzlichen Aspekt heraus.

Der zweite Teil dieses Buches ist den Chronisten gewidmet oder besser gesagt: überlassen. Diese Sektion umfasst neun Texte jener fünf Mitglieder des Sonderkommandos, deren Manuskripte den Krieg überdauerten und in den Jahren 1945–80 entdeckt wurden – namentlich von Salmen Gradowski, Lejb Langfuß, Salmen Lewenthal, Herman Strasfogel und Marcel Nadjari. Als zehnter Text ist ihnen die Handschrift Abraham Levites hinzugefügt. Mit dem Sonderkommando in Birkenau hatte dieser Chronist nichts zu tun, doch war sein Text – das Vorwort zum Literaturalmanach „Dos zamlbukh Oyshvits“ – im Lager Birkenau nur wenige Hundert Meter von den Gaskammern und Krematorien entfernt geschrieben worden, wobei das Schicksal dieser Handschrift überaus problematisch und bemerkenswert ist.

Insofern liegt hier gewissermaßen eine innere Anthologie in einem Buch vor, das aus Texten besteht, die einst von der Vorsehung „auserwählt“ wurden – weniger für den Druck als allein für den physischen Erhalt. Als eine nunmehr für die Veröffentlichung bestimmte Komposition geben diese Texte meiner Ansicht nach die unmittelbarste Vorstellung und den einprägsamsten Eindruck davon, was in den Gaskammern und Krematorien von Birkenau geschah. Frei von jeder Übertreibung lässt sich sagen: Das sind die zentralen Egodokumente des Holocaust.

Angesichts der Bandbreite der Genres dieser Texte – von der Nachahmung der Prophetendichtung bis zum einfachen Alltagsbrief – könnte diese Ausgabe quasi einem wieder zum Leben erwachten Almanach gleichgesetzt werden, nur fürchte ich, dass der Ansatz der „Oyshvits“-Redakteure bei all der Kühnheit doch deutlich bescheidener war.

Jedem der sechs Chronisten ist im zweiten Teil ein eigener Abschnitt gewidmet, der mit einer kurzen Abhandlung über sein Schicksal, über die Entdeckung seiner Manuskripte sowie deren Übersetzung und Publikation eröffnet wird. Ferner folgen die eigentlichen Texte der Chronisten, die zumeist aus dem Original ins Russische und dann ins Deutsche übersetzt wurden, begleitet von Kommentaren, die ich mitunter gemeinsam mit den Übersetzern erstellt habe. Im Ergebnis steht der jeweilige Text im Mittelpunkt, umrahmt von einem eigenen kontextuellen Stoff.

Die Übersetzung ins Russische erfolgte aus dem Original. Alle Texte des zweiten Teils sind vorher einzeln unter den Namen ihrer Autoren in der Wochen- und Tagespresse4 erschienen. Für diese Buchedition wurden sämtliche Übersetzungen nochmals überprüft und überarbeitet. Jene Fragmente, die bedauerlicherweise unentziffert geblieben sind, werden mit Auslassungszeichen […] markiert.

Im Anhang sind zu finden: 1) die Chronik der Ereignisse im Zusammenhang mit dem Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau; 2) das Verzeichnis der Textausgaben der Mitglieder des Sonderkommandos; 3) eine Sammlung sowjetischer Quellen darüber, was die Befreier der Roten Armee im Konzentrationslager Auschwitz am Tag der Befreiung vorfanden; und schließlich 4) die Protokolle der Verhöre der Mitglieder des Sonderkommandos Shlomo Dragon, Henryk Mandelbaum und Henryk Tauber – die allerersten Aussagen in der Reihe der Zeugnisse. Eine Auswahlbibliografie und ein Abkürzungsverzeichnis runden das Buch ab.

Briefe aus der Hölle

Подняться наверх