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Einschätzungen zu den Opferzahlen

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Die drei für das Schicksal der Juden maßgeblichen Praktiken von Auschwitz – die Selektion, die Nichtregistrierung61 und schließlich die Ermordung in den Gaskammern – nehmen also mit den sowjetischen Kriegsgefangenen, an denen herumexperimentiert wurde, ihren Anfang. Die gefangenen Sowjetsoldaten mussten aber auch als Deckmantel herhalten, um über die Ziele der Henker hinwegzutäuschen: Die Bezeichnung des Lagers in Birkenau (Auschwitz II) als Kriegsgefangenenlager diente, zumal bei einer Kapazität von 125.000 Personen, als förmliche Begründung dessen, dass gigantische Gaskammern („Entlausungskammern“) und monströse Krematorien62 gebaut wurden. Enthüllend wirkt hierbei jedoch der Umstand, dass nicht die Kommandantur (Abt. I) des Lagers Birkenau und nicht das Sanitätswesen (Abt. V) des Konzentrationslagers für die Verwaltung der Krematorien zuständig war, sondern die Politische Abteilung (Abt. II)63.

Obwohl die meisten Verwaltungsakten vernichtet wurden, bedeutet dies nicht, dass der Vorgang überhaupt nicht dokumentiert ist. Zahlreich sind etwa die Unterlagen über den Transport der Häftlinge nach Auschwitz (Transportlisten, Aufzeichnungen angekommener Züge etc.). Besonders ausführlich sind Auskünfte über die Deportation von 437.402 ungarischen Juden64 nach Auschwitz. Zudem wurden Meldungen über die Ergebnisse durchgeführter Selektionen angefertigt. Die Politische Abteilung des Konzentrationslagers berichtete dem RSHA in Berlin, die Abteilung Arbeitseinsatz rapportierte nach Oranienburg an die Abteilung D II der Inspektion der Konzentrationslager. Die Berichte der Politischen Abteilung sind nicht erhalten geblieben. Von den Letzteren aber sind uns mindestens drei überliefert. In einem davon, datiert 20. Februar 1943, sind drei Transporte verzeichnet, die am 21., 24. und 27. Januar 1943 aus Theresienstadt ankamen, bestehend aus 5.022 Juden. 930 von ihnen, darunter 614 Männer und 316 Frauen, wurden für den Arbeitseinsatz aussortiert; die restlichen 4.092 Menschen, 1.422 Männer sowie 2.670 Frauen und Kinder, wurden „sonderuntergebracht“65. Weitaus geläufiger als der Begriff „Sonderunterbringung“ waren Termini wie „Sonderbehandlung“ und „Sondermaßnahmen“. Der Sinn aber war stets derselbe: Liquidierung – sprich Mord.

Informationen über das Vernichtungslager, dessen temporäre Insassen und ihre ewige, sich Tag für Tag als Routine abspielende Tragödie erreichten die Alliierten zwar, wurden in deren Führungsstäben jedoch meist unter den Teppich gekehrt. An die Öffentlichkeit gelangten sie jedenfalls lange Zeit nicht.

Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Kriegsflüchtlinge der USRegierung veröffentlichte Informationen vom November 1943 über die Ermordung von rund eineinhalb Millionen Juden in Auschwitz. Walter Rosenberg alias Rudolf Vrba nannte im Eichmann-Prozess 1961 eine größere Anzahl zum Stichdatum 7. April 1944 – nämlich 1.756.000, ermittelt auf der Grundlage aller gezählten Transporte66. Sie ist die Summe aus der jeweiligen Anzahl jüdischer Bürger aus den folgenden Ländern: 900.000 aus Polen plus 300.000 Juden, die auf polnischem Gebiet interniert waren; 150.000 aus Frankreich; aus den Niederlanden 100.000; aus Deutschland 60.000; 50.000 aus Belgien; aus Jugoslawien, Italien und Norwegen 50.000; aus Griechenland 45.000; aus Litauen 50.000; 30.000 aus Böhmen, Mähren und Österreich sowie 30.000 aus der Slowakei67. Unter Berücksichtigung der Sterberate anderer in Auschwitz ermordeter Völker schätzten Angehörige der Widerstandsbewegung die Gesamtzahl der Opfer auf zwei Millionen Menschen. Auch wenn viele Schätzungen im Vergleich zu den Informationen, die sich durch die Wirklichkeit verifizieren lassen, überzogen sind, muss es erstaunen, mit welcher Sorgfalt die Anführer des Untergrunds solche Schätzungen und Zählungen betrieben, mit welcher Aufmerksamkeit jede neue Information von ihnen gesammelt und verarbeitet wurde.

Ähnliche Zahlen wurden auch in der zweiten Widerstandszentrale in Auschwitz kolportiert, nämlich innerhalb des jüdischen Sonderkommandos. Sowohl Salmen Gradowski als auch Salmen Lewenthal erwähnten in ihren herzzerreißenden Notizen „Millionen“ von Juden, eine Schätzung aus buchstäblich erster Hand. Andere Männer des Sonderkommandos gaben abweichende Schätzungen ab: Stanislaw Jankowski alias Alter Feinsilber sprach von mindestens zwei Millionen Menschen; Jakob Kaminski von zweieinhalb Millionen (Stand August 1943, überliefert durch Jakub Gordon); Henryk Tauber sprach von vier Millionen Menschen und Shlomo Dragon von mehr als vier Millionen; Henryk Mandelbaum von viereinhalb Millionen68. Ähnlicher Größenordnung sind auch die Schätzungen nichtjüdischer Auschwitz-Häftlinge. Der Pole Kazimierz Smoleń, als Schreiber in der Registratur der Politischen Abteilung tätig, behauptete, von den registrierten Häftlingen seien mindestens 300.000 Menschen gestorben, während die Anzahl nicht registrierter Opfer sich auf zweieinhalb Millionen Menschen belaufen habe – macht 2,8 Millionen Menschen insgesamt. Dort arbeitete auch Stanisława Rachwałowa. Sie habe gehört, die Opferzahl habe vier bis fünf Millionen Menschen betragen. Witold Kula schätzte die Anzahl auf dreieinhalb bis vier Millionen Menschen, Erwin Olszówka auf vier bis viereinhalb Millionen. Kazimierz Cieszewski nahm an, es seien vier bis fünf Millionen gewesen. Hans Roth sprach von vier Millionen, mit der Anmerkung, dies sei ja wohl allgemein bekannt gewesen. Bernard Czardybon, Kapo69 des Kanada-Kommandos im Stammlager Auschwitz I, gab die höchste Schätzung dieser Art ab: fünf bis fünfeinhalb Millionen Menschen70. Ähnliche Zahlen nannten zwei ungarische Zeugen: Bela Fabian sprach von 5,1 Millionen Menschen (11. April 1945)71, Dr. Djula Gal von fünf Millionen – dreieinhalb Millionen Juden sowie eineinhalb Millionen Polen und Russen (22. März 1945)72.

Und mag es auch verwundern, doch gaben die meisten Vertreter der Henkerriege ähnliche Schätzungen ab. Pery Broad und Friedrich Entress sprachen von zwei bis drei bzw. zweieinhalb Millionen, Wilhelm Boger von mindestens vier, Włodzimierz Bilan von fünf Millionen73, der Leiter der Politischen Abteilung des Konzentrationslagers, Maximilian Grabner, von drei bis sechs Millionen74.

Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang das Geständnis des am besten informierten Zeugen: des Kommandanten Höß. Im Nürnberger Prozess bezifferte er die Anzahl der nach Auschwitz zur Vernichtung eingelieferten Juden unter Berufung auf Eichmann auf insgesamt zweieinhalb Millionen Menschen, wobei Höß diese Zahl zugleich relativierte: „Die Möglichkeiten der Vernichtung hatten auch in Auschwitz ihre Grenzen.“ Als er versuchte, sich die länderbezogenen Zahlen jüdischer Opfer ins Gedächtnis zu rufen, nannte er die folgende Auflistung, die in der Summe 1,13 Millionen Menschen ergibt und offenbar unvollständig ist: 250.000 aus Oberschlesien und dem Generalgouvernement; aus Deutschland und Theresienstadt 100.000; 95.000 aus den Niederlanden; aus Belgien 20.000; aus Frankreich 110.000; aus Griechenland 65.000; aus Ungarn 400.000; 90.000 aus der Slowakei75. Eichmann bestätigte diese Angaben im Jerusalemer Prozess nicht – dementierte sie aber auch nicht76.

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