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„Sonderkommando“: Begriff und Einsatzgebiet

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Getötet wurde in Auschwitz immer. Immer grausam, kaltblütig, auf sadistische Art. Anfangs aber, zu Routinezeiten des alten Konzentrationslagers, tötete man noch untechnologisch: Einen Insassen totzuschlagen oder im Hof des Lagergefängnisses Block 11 zu erschießen, einem geeigneten Todeskandidaten im Krankenhaus Phenol in den Herzmuskel zu spritzen – das war doch irgendwie allzu individualisiert, überzogen amateurhaft und übermäßig irrational.

Selektionen fanden damals noch nicht statt. Jeder Häftling wurde registriert und trug dann keine andere Bezeichnung als „Schutzhäftling“113. Ob nun er unter Schutz stand oder vor ihm geschützt wurde, blieb offen. Die geschichtliche Ironie dieser oxymoronesken Wortbildung entging auch jenen nicht, die davon direkt betroffen waren:

„Ein ‚Schutzhäftling‘ im größten Vernichtungslager zu sein, ist paradox; es ist eine Ironie des Schicksals, eines wissentlichen Schicksals. Mörder, Sadisten schützen uns! Wir stehen unter Schutz, was so viel bedeutet, dass wir der Willkür solcher Menschen, solcher Erzieher ausgeliefert sind, die selbst eine solcherart Ausbildung durchlaufen haben: Sie haben in höchstem Wissen des Sadismus promoviert. Und alles nur, um die Möglichkeit zu haben, uns auf entsprechende Weise zu ‚schützen‘!“114

Die Insuffizienz und die inakzeptable Romantik des personifizierten Todes wurden augenfällig angesichts der dem Lager eines Tages gestellten Aufgabe: bei der Lösung der Judenfrage in Europa nach Kräften zu helfen und auf eine grundlegend neue Art des Tötens umzuschalten: eine massenhafte, namenlose und – auf die einzelne Leiche umgerechnet – wirtschaftlichere. Sogleich wussten sie in Auschwitz auch, welches das beste Tötungsmittel dafür sein würde, nämlich die Chemie: Zyklon B war wie dafür geschaffen – dieses billige Schädlingsbekämpfungsmittel, das zur Desinfektion und Entlausung von Kleidung und Räumen bereits verwendet wurde.

Nach einer Reihe „erfolgreicher“ Versuche im Bunker des Blocks 11 sowie in der Leichenhalle des Krematoriums I im September 1941 wurde Zyklon B als optimales Tötungsmittel ausgewählt115. Dieses Gift lag als sogenannte Kieselgur vor, als grünliches oder bläuliches Granulat einer inerten porösen Substanz, von Blausäure durchtränkt. Wurde das Granulat in die Gaskammern hineingeworfen, verdunstete die Blausäure. Am wirksamsten setzte die Verdunstung bei einer Temperatur von 26 Grad Celsius ein (Siedepunkt), größtenteils bereits bei Zimmertemperatur. Deshalb wurden die Gaskammern häufig etwas beheizt: So breitete das Gas sich besser aus und erledigte seine Arbeit schneller.

Um 1000 Menschen durch die Blausäuredämpfe des Zyklon B zu ersticken, genügten gerade mal vier Einkilodosen der Substanz. Das farb- und geruchlose Zyklon B kannte keine Gnade: Die Dämpfe der Blausäure schnürten den menschlichen Zellen den Sauerstoff buchstäblich ab; ihre Wirkung begann mit einer unerträglichen Bitterkeit im Mund, dann verursachten sie Kopfschmerzen, Brechreiz, Krämpfe und Atemnot.

Deshalb konnten sich diejenigen Menschen glücklich schätzen, die sich sehr nahe am herabfallenden Granulat befanden: Nach kurzen Krämpfen verloren sie das Bewusstsein und spürten nicht mehr, wie eine Lähmung das gesamte Atmungssystem befiel. Der Tod trat unter Konvulsionen ein, menschliche Körper wurden zu rosarot verfärbten Leichen, teilweise mit grünlichen Flecken und verkrampft.

Die Leichen – vor Schmerzen gekrümmt, ineinandergekrallt, blutbeschmiert und von Exkrementen beschmutzt – wurden herausgenommen, auf Förderwagen verladen und in riesige Feuergruben geworfen. Natürlich ohne zu vergessen, ihnen vorher in den Mund zu schauen, um die Goldzähne zu ziehen – und den Frauen noch die Ohrringe rauszureißen und die Haare abzuschneiden.

Deshalb überrascht es nicht, dass in Einzelfällen noch ein anderer Ausdruck für „Sonderkommando“116 im Umlauf war: das Wort „Gaskommando“. Die SS-Wachen benutzten es ebenso wie Auschwitz-Häftlinge. Unter diesem „Pseudonym“ wurden die Mitglieder des Sonderkommandos auch im Nürnberger Prozess erwähnt. Der Begriff „Sonderkommando“ kommt zwar in den Prozessunterlagen rund 30 Mal vor, gemeint sind damit aber hauptsächlich die Sonderkommandos der Sicherheitspolizei und des SD, die in den besetzten Gebieten selbst legitimierten Mord und Raub verübten.

In jener Bedeutung, in der es in Auschwitz-Birkenau verwendet wurde, kommt das Wort „Sonderkommando“ nur einige Male vor: erstmals in der Morgensitzung vom 28. Januar 1946 als „Gaskommando“. Marie-Claude Vaillant-Couturier beschrieb recht ausführlich den Block 25 als den Vorraum des Todes, erzählte über die Selektionen an der Rampe, die sich vor ihren Augen vollzogen hatten (sie hatte den Block 26 im Frauenlager bewohnt), und über die eigentlichen Vergasungen. Rudenko, der Hauptankläger der UdSSR, berührte die Frage nach dem Sonderkommando beiläufig am 8. Mai 1946. Erwähnt wurde dieses Wort auch in einem Zitat aus der Ansprache des Komitees ehemaliger Auschwitz-Häftlinge117.

Versuchen wir nun, den Begriff „Sonderkommando“118 zu klären. Der Zweite Weltkrieg hat dieses Wort untrennbar mit der SS verknüpft und gleichsam seinen Inhalt auf wenige spezifische Varianten reduziert. Seine Kernbedeutung: Fronteinheiten der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, also Kampfgruppen des Sicherheitsdienstes. Diese waren im rückwärtigen Armeegebiet tätig. Dort machten sie Jagd auf feindliche Funktionäre und Untergrundkämpfer, hoben Archive aus, organisierten Lager und Gefängnisse; Massenmorde an der Zivilbevölkerung verübten sie aber nicht – dafür gab es die SD-Einsatzkommandos und andere Jäger. Namhaft war das „Sonderkommando 1005“ – gegründet im Januar 1942 unter dem Oberbefehl von Paul Blobel –, dessen Aufgabe es war, einen 1941 weit verbreiteten Fehler der Henker zu korrigieren und die Spuren der Massenhinrichtungen, wo und wie auch immer sie stattgefunden hatten, auszuradieren. Die Exhumierung und die Verbrennung der Leichen oblagen den Leichenkommandos, die meist aus sowjetischen Kriegsgefangenen bestanden, seltener aus Juden selbst.

Derselbe „Fehler“ ist auch in Auschwitz-Birkenau passiert, wo zudem wegen des hohen Grundwasserspiegels die reale Gefahr bestand, dass Trinkwasserquellen durch Leichengift119 verseucht werden. Deshalb war es notwendig – wie in Babi Jar auch –, die Leichen auszugraben, zu verbrennen und die Asche loszuwerden. Wer in Babi Jar als „Leichenkommando“ bezeichnet wurde, hieß hier eben „Sonderkommando“. Die überwiegende Mehrheit waren kräftige Juden, die die Selektion an der Rampe überlebt hatten. Sie zeichneten sich dadurch aus, dass sie ihre Tätigkeit im Geist der „Aktion 1005“ – diese dauerte nicht lange, von Ende September bis Anfang Dezember 1942 – mit einer anderen, ihrer eigentlichen Aufgabe vereinbarten, einer physisch und moralisch weitaus schwereren. Nämlich mit der Aufgabe, die Deutschen bei dem Massen-, bei dem Fließbandmord von Hundert- und Aberhunderttausenden Juden und Nichtjuden in den Gaskammern, bei der Kremierung ihrer Leichen und der Verwertung von Totenasche, Goldzähnen und Frauenhaar zu unterstützen.

Dies war wahrlich ein Sonderkommando. Es bestand nahezu vollständig aus jüdischen Häftlingen, die die Funktionskette des Mordes fast vom ersten Glied an bis zum Ende bedienten. Es waren die Mitglieder des Sonderkommandos, die sich Gasmasken anzogen und die Leichen aus den Gaskammern herausholten, ihre Knochen zerstießen, die Asche durchsiebten und begruben – die Totenasche Hunderttausender Menschen, die in dieser Todesfabrik ermordet worden waren.

Diese Zuarbeiten konnten ganz unterschiedlich sein. So waren der friedliche Zustand und das ruhige Verhalten der Opfer kurz vor deren Tötung für die SS überaus wünschenswert. Deshalb zählten auch beruhigende Maßnahmen zu der Täuschungsmethode und den Aufgaben des Sonderkommandos. Heute würde man diese Maßnahmen wohl als Verschleierungstaktik bezeichnen, weshalb man sie denn auch dem Sonderkommando als den „Ihren“120 auftrug. So war es aber nicht immer. Die Funktion und die Anzahl – selbst die ethnische Zusammensetzung – dieser Sondereinsatzgruppen konnten mit der Zeit variieren.

Das allererste Sonderkommando war im Krematorium I des Stammlagers Auschwitz I tätig. Es entstand, als das ursprünglich aus Polen bestehende Heizerkommando mit jüdischen Häftlingen auf das Vierfache vergrößert wurde, hatte ausschließlich mit Leichen zu tun und hieß begründeterweise Krematoriumskommando. Wer an improvisierten Gaskammern in den Bunkern und an Massengräbern eingesetzt war, zählte zum Räumungs- und Begräbniskommando. Und wer gezwungen war, Massengräber aufzubrechen und die Überreste in Feuergruben zu verbrennen, hieß schlicht „Exhumierungs- und Verbrennungskommando“.

Ab März 1943 war der Begriff „Krematoriumskommando“ wieder im Umlauf, wobei die Anzahl solcher Kommandos stieg, je mehr Krematorien121 in Betrieb genommen wurden. Und dann die allerletzte Begriffsinnovation: „Abbruchkommando Krematorium“. Das alles sind, nominell gesehen, Nachfolgevarianten unterschiedlicher Arbeitskommandos. Zwar kommt der Begriff „Sonderkommando“ im Verwaltungsapparat von Auschwitz-Birkenau offiziell vor (nachweislich spätestens seit Dezember 1942), doch eher als Metapher oder Euphemismus, als linguistische Täuschungstaktik, aber auch als Sammelbegriff für die beschriebene Vielfalt. Eben deshalb hat sich der Begriff vor allem im Lagerjargon, im Sprachgebrauch von SS-Wachen und Häftlingen, eingebürgert.

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