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Einschätzungen des staatlichen Sonderkomitees TschGK

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Die erste Schätzung der Opferzahlen in Auschwitz war untrennbar mit den Ermittlungen des von der Sowjetunion eingesetzten staatlichen Sonderkomitees TschGK verbunden, das seine Arbeit gleich nach der Befreiung des Lagers aufnahm. Eine technische Expertenkommission77 wurde eingerichtet, die rund 200 ehemalige Häftlinge und Mitarbeiter des Konzentrationslagers befragte. Unter den Personen, die bereitwillig mit der Kommission kooperierten, waren auch drei ehemalige Männer vom Sonderkommando: Tauber, Dragon und Mandelbaum78. Die Kommission untersuchte ebenfalls eingehend die erhaltenen Baupläne und die Dokumentation der Gaskammern und Krematorien von Auschwitz-Birkenau sowie deren Überreste vor Ort.

In der Presse, und zwar im „Krasnaja Swesda“ („Roter Stern“), wurden nur die Endergebnisse der Kommission hinsichtlich der uns interessierenden Frage veröffentlicht, übrigens am letzten Kriegstag, dem 8. Mai 194579. Über alle Maße bezeichnend ist der Umstand, dass die Juden in der Mitteilung des TschGK praktisch unerwähnt blieben. Dafür wurden rumänische und bulgarische Bürger erwähnt, die für das Häftlingskontingent von Auschwitz keineswegs typisch waren (wobei ein Teil rumänischer Juden aus Siebenbürgen, das 1940–45 zu Ungarn gehörte, tatsächlich zusammen mit den ungarischen Juden nach Auschwitz deportiert worden war).

Die Befunde der Kommission basieren allein auf den technischen Parametern der Tötungsanlagen und enthalten etliche kleinere und größere Ungenauigkeiten. Dies zu erkennen und zu verstehen hilft eine Gegenüberstellung mit den Untersuchungsergebnissen, die hier in Anhang 3 zusammengefasst präsentiert werden.

In ihrer ersten „Berechnung zur Bestimmung der Anzahl der von den Deutschen im Lager Auschwitz vernichteten Menschen“ kam die Kommission, nachdem sie die Tätigkeit des Vernichtungslagers in Etappen eingeteilt und die Etappenzahlen aufsummiert hatte, zu dem Schluss, dass in Auschwitz 4.058.000 Menschen vergast und verbrannt worden waren – abgerundet eben vier Millionen. Dabei unterliefen der Kommission einige grobe Fehler. Offenbar weniger an den tatsächlichen technischen Merkmalen der Anlage als an den Aussagen der Mitglieder des Sonderkommandos orientiert, hatten die Ermittler definitiv (im Schnitt um das Eineinhalbfache) überzogene Daten über die Einäscherungskapazität der Krematorien als Grundlage ihrer Berechnungen verwendet. Das Wichtigste aber: Der Umstand, dass die Arbeit der Krematorien immer wieder unterbrochen worden war, wurde zwar berücksichtigt (mithilfe von Korrekturkoeffizienten), blieb jedoch deutlich unterschätzt. Mit solchem Eifer wie während der Ungarn-Aktion wurde in den Krematorien nämlich weder vorher noch nachher gearbeitet80. Unpräzise waren auch die Angaben über die Betriebsdauer der Krematorien, mit einer Fehlertoleranz von einem, drei und bis zu elf Monaten.

Im Abschlussbericht der Kommission81 belief sich die Gesamtzahl sogar auf deutlich mehr als 4.058.000 Menschen, nämlich auf 5.121.000 – die Verbrennungsgruben an den Bunkern 1 und 282 nicht eingerechnet. Es besteht zwar weiterer Klärungsbedarf, doch als Hypothese äußern wir die Vermutung, dass die Korrekturkoeffizienten aus der ersten Berechnung, die die tatsächliche Auslastung der Krematorien zu unterschiedlichen Zeitpunkten einkalkulierten, hierbei nicht berücksichtigt wurden. Völlig unklar bleibt jedoch, wozu eine größere Anzahl angeführt wurde, wenn das offizielle Ergebnis ohnehin so wie in der vorhergehenden Berechnung ausfiel: nicht weniger als vier Millionen Menschen.

Gleich nachdem die Sowjetkommission ihre Arbeit beendet hatte, machte sich die polnische Untersuchungskommission ans Werk, die im Rahmen der Hauptkommission zur Untersuchung der deutschen Verbrechen in Polen eingesetzt worden war. Diese konnte bereits auf Material zurückgreifen, das im Winter und Frühjahr 1945 noch nicht verfügbar war, darunter die Aussage von Höß. Gleichwohl nahm auch die polnische Untersuchungskommission die Anzahl von mindestens vier Millionen Menschen zum Ausgangspunkt. Anders gesagt: Es gab nahezu keine Abweichungen zwischen der offiziellen sowjetischen und offiziellen polnischen Schätzung der Opferzahl.

Auch wurde diese Zahl im Nürnberger Prozess gegen die Naziverbrecher bekräftigt83. Sie war im Grunde das amtliche demografische Endergebnis, das in die Gutachten internationaler und staatlicher Organisationen einging und sich darin verfestigte. Noch lange Zeit danach übte diese Zahl starken Druck nicht nur auf die Pflege der Erinnerungskultur in den Museen, sondern auch auf die Geschichtswissenschaft aus, insbesondere in den osteuropäischen Ländern. Insofern überrascht es nicht, dass ebendiese Zahl auf den Gedenktafeln festgeschrieben wurde, die am Ende der Rampe auf die Besucher der Gedenkstätte Birkenau warten. Deren Inschrift in 22 Sprachen lautete einst: „Märtyrer- und Todesort von 4 Millionen Opfern, ermordet von nazistischen Völkermördern 1940–1945“.

Solche Ungenauigkeiten sind an sich nachvollziehbar, sie sind sogar fast unvermeidlich und deshalb verzeihlich angesichts dessen, dass die Ermittler das Lager schon sehr früh – nur wenige Wochen nach dessen Befreiung – untersuchten. Schlimmer ist etwas anderes: Dieses nicht zuverlässige und damals schon fragwürdige Ergebnis von vier Millionen Opfern wurde ideologisch gutgeheißen, nahezu ohne zu zögern zur endgültigen Wahrheit erklärt und mit der Zeit überall verankert, wo es nur ging: in der Museumsausstellung, den Museumsbroschüren und sogar auf den Gedenktafeln.

Etwaige Alternativen oder auch nur Zweifel wurden schlichtweg ignoriert. Dabei wichen auch die Zahlen des Nationalen Obersten Gerichts Polens von den vier Millionen ab, also jenes Gerichts, das Rudolf Höß wegen Mittäterschaft an der Ermordung von 300.000 registrierten und einer unbestimmten Anzahl – mindestens jedoch zweieinhalb Millionen – von nicht registrierten, hauptsächlich jüdischen Auschwitz-Häftlingen und 12.000 sowjetischen Kriegsgefangenen zum Tod verurteilte. Interessant ist, dass in der Urteilsbegründung die Anzahl der Opfer mit mindestens drei und höchstens vier Millionen Menschen angegeben wurde.

Hinsichtlich dieser Zahlen gab das Gericht zwei Gutachten in Auftrag, eines bei dem bereits erwähnten Professor Dawidowski (sein Gutachten unterschied sich nur unwesentlich von seinen bisherigen Zählungen) und eines bei Nachman Blumental. Dieser wandte einen ganz anderen Ansatz an, stützte er sich doch auf die Gesamtzahl polnischer Juden, die während der Shoah getötet worden waren. Hierbei galt in Polen die Anzahl von drei Millionen Menschen. Nachdem er die Angaben zu den getöteten polnischen Juden in den anderen fünf Vernichtungslagern und den deportierten Juden aus anderen europäischen Ländern ausgewertet hatte, schlussfolgerte Blumental, dass in Auschwitz zwischen 1,3 und 1,5 Millionen Juden ermordet worden seien, darunter rund eine Million europäische Juden einschließlich der 450.000 ungarischen84.

Von der hypnotischen Wirkung der einmal geäußerten Zahl waren westliche Forscher deutlich weniger gefangen. Daher rühren auch die großen Differenzen in ihren Einschätzungen: von 770.000 bei Gerald Reitlinger bis 2,5 Millionen bei Aaron Weiss und Yehuda Bauer. Eugen Kogon ist der Einzige unter ihnen, dessen Einschätzung – 3,5 bis 4,5 Millionen Menschen – sich mit den Berechnungen der sowjetisch-polnischen Demografen deckte85.

Reitlingers Schätzung ist, wie sich gezeigt hat, nicht nur die kleinste, sondern auch die präziseste – und überdies die früheste: Die englische Erstauflage seines Werkes „Die Endlösung“ erschien 195386. Wir erlauben uns, diejenige Stelle zu zitieren, auf die sich alle späteren Forscher stützten:

„Was die Gesamtzahl der Juden, die zu dem Selektionsplatz Auschwitz gebracht wurden, betrifft, ist es möglich, sie für die westlichen und mitteleuropäischen Länder sowie für den Balkan ziemlich genau abzuschätzen; das gilt aber nicht für Polen. Es gibt keinen richtigen Anhaltspunkt für den Prozentsatz der Vergasten. Dieser war vor dem August 1942 und wiederum nach dem August 1944 niedrig, doch in der Zwischenzeit mag er einmal auf 50 gesunken, und dann wieder auf 100 emporgeschnellt sein. Die nachstehende Liste berücksichtigt eine Anzahl von Transporten aus Frankreich und Griechenland, die nach Majdanek geschickt wurden, 34.000 holländische Juden, die nach Sobibor gingen, sowie verschiedene Transporte nach Theresienstadt, Belsen und Ravensbrück:

Belgien 22 600
Kroatien 4500
Frankreich 55 000
Großdeutsches Reich (einschließlich Konzentrationslager und Protektorat, nur direkte Transporte) *20 000
Großdeutsches Reich und Protektorat (via Theresienstadt) 41 500
Griechenland 50 000
Niederlande 62 000
Ungarn (Grenzen während des Krieges) 380 000
Italien 5000
Luxemburg 2000
Norwegen 700
Polen und baltische Staaten 180 000
Slowakei (Grenzen von 1939) 20 000
[GESAMT] 843 300

* ungenaue Angaben

Von dieser Riesenzahl sind heute nur wenige am Leben, und mindestens 770.000 müssen in den Lagern von Auschwitz vor der Evakuierung im Januar 1945 zugrunde gegangen sein. In den Gaskammern von Auschwitz starben etwa 550–600.000 sofort nach ihrer Ankunft, aber auch von den mindestens 300.000, die erst nach ihrer Einlieferung in eines der Lager starben, müssen viele den Tod in der Gaskammer gefunden haben.“87

Trotzdem ist der Text auf den Gedenktafeln erst 1990 korrigiert worden: Statt an vier erinnern sie heute an eineinhalb Millionen Menschen. Doch auch diese Zahl erschien vielen Forschern als überzogen. Wissenschaftler wie Raul Hilberg, Wolfgang Scheffler und Edward Crankshaw gingen von einer Million jüdischer Opfer in Auschwitz aus88 und Georges Wellers von 1.352.00089. Martin Gilbert errechnete indes eineinhalb Millionen90; die „Encyclopedia of the Holocaust“ spricht von 1,6 Millionen91; Leon Poliakov, Lucie Dawidowicz und Josef Billig von zwei Millionen92; Yehuda Bauer von zweieinhalb Millionen93 und Aharon Weiss von einer bis zweieinhalb Millionen94. Hinter den genannten Zahlen stehen jedoch eher selten eigene Nachforschungen. Vielmehr sind sie eine Art Positionierung hinsichtlich der Angaben amtlicher Demografen oder der vorangegangenen Einschätzungen. Billig beispielsweise erhält seine Zahl von zwei Millionen als mittleren Wert aus den Angaben von Höß und Eichmann (schließlich zählt er 230.000 registrierte jüdische Häftlinge hinzu, die damals starben).

Wirklich originell war die 1983 veröffentlichte Arbeit von Georges Wellers. Sie erweckte den Eindruck, als ob Wellers in die methodischen Fußstapfen von Reitlinger getreten wäre. Wellers analysierte nämlich die Deportationsströme nach Auschwitz aus den einzelnen Ländern. Sich auf die größtenteils bereits präzisierten Daten stützend, hat er insgesamt 1,6 Millionen Deportierte gezählt (siehe Tabelle 1)95.

Tabelle 1: Anzahl der Personen, die in den Jahren 1940–45 nach Auschwitz deportiert wurden, sowie der in Auschwitz getöteten und gestorbenen Personen (nach Wellers)


Quelle: Wellers, 1983. S. 125–159.

Einen anderen Ansatz verfolgte Raul Hilberg, der wie Blumental davon ausging, dass in den sechs Vernichtungslagern auf dem Territorium des gegenwärtigen Polen drei Millionen Juden starben – über eine Million in Auschwitz, 750.000 in Treblinka, 600.000 in Bełżec, 200.000 in Sobibor, 150.000 in Kulmhof und 50.000 in Majdanek.

Ausgerechnet Piper, einer der polnischen Forscher, die sich ehedem fest an den demografischen „Kanon“ von 1945/46 gehalten hatten, bezweifelte die Ergebnisse von Wellers und Hilberg. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, schon in den 1990er Jahren die Quellen aufs Neue zu studieren und den Mut zur kritischen Prüfung sowie zur eigenen Einschätzung aufzubringen (siehe Tabelle 2)96.

Nachdem Piper die Ungenauigkeiten von Reitlinger und Wellers korrigiert (aber leider nicht erläutert) hatte, gab er die Anzahl der in Auschwitz ermordeten Juden mit einer Spanne von 960.000 bis zu einer Million an. Doch Christian Gerlach und Götz Aly haben durch jüngste Erkenntnisse gezeigt, dass rund 105.000 ungarische Juden, die nach Auschwitz deportiert worden waren, nicht ermordet, sondern von dort in andere Lager verlegt wurden97. Deshalb braucht auch die Gesamtzahl der jüdischen Opfer in diesem Lager eine entsprechende Korrektur: Dieter Pohl schätzt sie auf circa 900.000 Menschen98.

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