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Die letzten Selektionen

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Die Namen dieser 20 Personen konnten bis auf eine Ausnahme bislang nicht geklärt werden186. Zu erraten, warum sie am Leben gelassen wurden, ist hingegen gar nicht so schwer. Es ist nämlich so, dass ab Mitte Mai 1944 massenweise ungarische Juden in Auschwitz ankamen. Die Zahlenstärke des Sonderkommandos nahm deshalb auf 873 bzw. 874 Männer zu (die 30 Mann nicht mitgerechnet, die mit dem Entladen von Koks oder Holz beschäftigt waren), unter ihnen rund 450 ungarische, 200 polnische, 180 griechische187, fünf deutsche, drei slowakische und ein holländischer Jude188 – außerdem 19 sowjetische Kriegsgefangene, fünf polnische Häftlinge und ein deutscher Kapo189.

Insgesamt gab es in Birkenau auf dem Höhepunkt der Ungarn-Aktion vier halbautonome Arbeitskommandos, die in Tages- und Nachtschichten rund um die Uhr mit der Einäscherung der Leichen beschäftigt waren – jedes mit einer Stärke von ungefähr 170 Mann, jedes mit einer eigenen Nummer: Das 57. arbeitete im Krematorium II, das 58. im Krematorium III, das 59. im Krematorium IV und das 60. im Krematorium V. Im Juni 1944 wurden ihre Unterkünfte unerwartet nahe an die „Arbeitsstelle“ verlegt. Wer die Krematorien II und III bediente, wurde buchstäblich über den Öfen untergebracht, auf dem Dachboden nämlich. Und wer in den Krematorien IV und V arbeitete, bekam eine noch symbolträchtigere Unterkunft: im Entkleidungsraum vor der Gaskammer des Krematoriums IV.

Zwischen den Mitgliedern der Sonderkommandos, die die vier Krematorien bedienten, gab es Unterschiede, die das aufmerksame Auge eines Pathologen festgehalten hat: Miklós Nyiszli betonte, im Krematorium IV etwa hätten größtenteils polnische, griechische und ungarische Juden gearbeitet; im Krematorium V seien dies größtenteils polnische und französische gewesen190.

Am 23. September 1944, nach dem Ende der Ungarn-Aktion, wurden 200 Angehörige des Sonderkommandos ausgewählt, angeblich, um in das Nebenlager Gleiwitz verlegt zu werden; tatsächlich aber wurden sie in die Desinfektionskammer im Effektenlager von Auschwitz I geschickt und dann in Säcken zur Einäscherung nach Birkenau gebracht – wobei diesmal die SS-Wachen selbst die Verbrennung vornahmen.

Die nächste „Dezimierung“ war für den 7. Oktober angesetzt: Es existierte bereits eine Liste mit 300 Namen, deshalb auch das Datum des Aufstands, an dem sich die Mitglieder der Sonderkommandos aus mindestens drei Krematorien beteiligten. Bei der Niederschlagung des Aufstands starben 250 Menschen, 200 weitere wurden noch am selben Tag erschossen. Am 9. Oktober waren 212 Männer noch am Leben.

Die Krematorien II, III und IV waren nicht in Betrieb; ein unternehmensfreudiger Kommandoführer stellte in einer der Gaskammern von Krematorium V übergangsweise Kaninchenställe auf. Nur das Krematorium V191 setzte seine Arbeit fort, wobei Mengele auch dort seine Versuche an Toten und Lebenden in einem verlegten Sektionsraum weiterführte.

Die nächste und letzte Selektion des Sonderkommandos fand am 26. November 1944 statt: 170 Männer wurden aus der „Zone“ gefahren, 100 von ihnen wurden in ein anderes Lager „verlegt“ um dort ermordet zu werden, die restlichen 70 im Abbruch eingesetzt. Sie wurden gar umbenannt (in „Abbruchkommando“) und wurden in den Lagerabschnitt B II d zurückgebracht, aber nicht in die alte Baracke des Sonderkommandos (Block 13), sondern in die gewöhnliche (Block 16).

Die verbliebenen 30 Männer hausten weiter im Krematorium V192. Endgültig gesprengt wurde das Krematorium V erst am 26. Januar 1945, buchstäblich einen Tag vor der Befreiung des Lagers. Zu diesen 30 zählten beispielsweise auch Eisenschmidt und Müller. Jetzt gaben die Mitglieder des Sonderkommandos ihre Dollar und Diamanten aus und tauschten sie bei SS-Wachen gegen Brot, Wurst und Zigaretten. Der Sektionsgehilfe Fischer ließ sich eine Methode zur Vermehrung des Tauschkapitals einfallen: Er goss falsche Goldzähne aus jenem Messing, das unter den Trümmern hervorgeholt werden konnte. So blieben am 18. Januar 1945, dem Tag der Evakuierung des Lagers, an die 100 Mitglieder des Sonderkommandos am Leben. An jenem Tag, dem 18. Januar, war überall Feuer und Rauch vom Verbrennen der Karteien und Unterlagen zu sehen. Das Sonderkommando des Krematoriums V ließ seine Chefs nicht aus den Augen: SS-Unterscharführer Gorges, Kurschuß und noch einen anderen. Niemand aber führte sie zur Erschießung. Stattdessen kam am Abend der Blockführer und befahl: „Alle ins Lager“. Dort trafen sie auf die anderen 70.

In der frostigen und schneereichen Nacht begann der Todesmarsch. Die Angehörigen des Sonderkommandos warteten nicht auf den Morgen, sondern krochen wie Schatten aus ihrer unbewachten Baracke und schlossen sich in der Morgendämmerung der Kolonne an. Mehrere Tage Fußmarsch bis zur Bahnstation Loslau und von dort aus noch einige Tage in offenen Waggons nach Mauthausen. Mindestens sieben Männern ist es gelungen, unterwegs zu fliehen: Tauber, Dragon, Jankowski, Buki, Eisenschmidt, Cyzner und Mandelbaum.

Es wäre logisch, anzunehmen, man hätte sie bei der Ankunft in Mauthausen gesucht, um sie zu beseitigen. Doch anfangs interessierte sich niemand für die Kenner eines der schrecklichsten Geheimnisse. Erst am dritten Tag gab ein Mauthausener SS-Unterscharführer den Befehl: „Alle Mitglieder des Sonderkommandos raustreten!“ – nicht einer von ihnen rührte sich. Später traf Müller auf Gorges: Statt ihn zu verraten, brachte der ihm Brot193. Dennoch fand in Mauthausen die letzte Liquidierung aus den Reihen des Sonderkommandos statt. Diesmal wurden aber nicht die Juden, sondern fünf polnische Mitglieder getötet: der Kapo Mieczysław (Mietek) Morawa194, Wacław Lipka, Josef Ilczuk, Władysław Biskup und Jan Agrestowski.

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