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Planung des Aufstands: die polnische und die jüdische Zentrale

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Wie bereits erwähnt, waren zwei Gruppen von Häftlingen bei den Ausbrüchen aus Auschwitz und Birkenau257 erfolgreicher als die Juden: die sowjetischen Kriegsgefangenen nämlich und der internationale Widerstand unter polnisch-österreichischer Führung. Die Art und Weise, wie sie die Flucht ergriffen, unterschied die beiden Gruppen jedoch in höchstem Maß. Die sowjetischen Gefangenen liefen meist auf gut Glück davon, anscheinend ohne Rücksicht darauf, was sie dabei riskierten. Geflüchtet zu sein oder zumindest eine Flucht vorzubereiten, war gewissermaßen ihr natürlicher Zustand. Wenn sie einen spontanen Versuch unternahmen, dann brachen sie im Alleingang aus oder je nach den Umständen auch zu zweit oder zu dritt – und einmal, am 6. November 1942, zu einem Dutzend258.

Hals über Kopf abzuhauen, kam für die Mitglieder des Untergrunds hingegen überhaupt nicht infrage. Sie bereiteten Ausbrüche von langer Hand vor, sorgfältig und mit aller gebotenen Umsicht. Und das auch erst, wenn die Kollektivverantwortung für die anderen Häftlinge für sie aus Gründen des sparsamen Umgangs mit Arbeitskräften aufgehoben war. Sie flüchteten meist zu den Widerstandskämpfern der Umgebung: Die Verbindung zu den Partisanen hatte der polnische Untergrund bestens aufgebaut259.

An dieser Stelle soll daran erinnert werden, dass die Untergrundbewegung in Auschwitz sich 1943 aus zahlreichen Nationalitäten zusammensetzte – und oft genug waren die nationalen Gruppen in politische Lager zersplittert. Bei den Polen zum Beispiel hatten die Kommunisten, die Sozialisten und die Nationalisten jeweils ihre eigene Untergruppe. Der Kopf des Untergrunds waren die polnischen Häftlinge Józef Cyrankiewicz, Zbyszek Raynoch und Tadeusz Holuj, die Österreicher Alfred Klahr, Heinrich Dürmayer, Ernst Burger und Hermann Langbein sowie die Deutschen Bruno Baum (löste Burger ab), Rudi Göbel und andere260. Juden und sowjetische Kriegsgefangene waren aber auch dabei. Bei den Sowjets sind solche Namen bekannt wie Kusma Karzew, Alexandr Lebedew, Petr Machura, Fjodor Skiba, Wladimir Sokolow und andere261. Bei den Juden: Joschua Eiger (einigen Angaben zufolge Schreiber in der Politischen Abteilung, laut anderen Quellen Elektriker262) oder auch Israel Gutman, der berühmte Historiker und Holocaust-Forscher, der vermutlich am 8. Juli 1943 von Majdanek nach Auschwitz gebracht wurde. Eiger und Gutman fungierten gewissermaßen als Verbindungsmänner zwischen zwei Widerstandsgruppen: der polnischen im Stammlager und der jüdischen Gruppe im Sonderkommando von Birkenau263. Bruno Baum berichtet zudem von einem Sowjetjuden namens Monek Majowitsch, der in derselben Wäscherei gearbeitet haben soll, in der auch er arbeitete264.

Bis März 1942, als es mit den ersten jüdischen Transporten losging, war Auschwitz fast schon ein rein polnisches Lager gewesen. So war denn der polnische Widerstand auch der stärkste und am besten organisierte – ungeachtet dessen, dass es 1943 dreimal und 1944 viermal mehr Juden als Polen in Auschwitz gab. Einen gesamtpolnischen Untergrund gab es wegen innenpolitischer Kämpfe innerhalb Polens im Lager freilich nicht und konnte es auch nicht geben. Wenn solche Widerstandsbewegungen aufkamen, dann nur in außerordentlichen Situationen wie dem Warschauer Aufstand. Eine gemeinsame Übereinkunft erzielten in Auschwitz Ende 1942 die „AK-isten“ und die „AListen“265. Möglich wurde diese jedoch nur – wie überall anders auch – unter der Federführung der Armia Krajowa, vertreten durch Witold Pilecki, und der von ihm in Auschwitz gegründeten „Vereinigung militärischer Organisationen“ (ZOW)266.

Jedenfalls hatte sich im Mai 1943 in Auschwitz eine Art Koordinationszentrum des Lageruntergrunds formiert, jene „Kampfgruppe Auschwitz“, die in die Geschichte eingegangen ist. Deren Kern bildeten polnische und österreichische Gruppen, doch schlossen sich ihr auch viele andere an. Nur die Belgier und die Franzosen zogen es vor, in ihrem jeweils eigenen kleinen Kreis zu bleiben. Weitere autonome Gruppen gab es offensichtlich bei den Tschechen sowie bei den Sinti und Roma.

Ihr Ziel sahen die Verschwörer der „Kampfgruppe“ vor allem darin, Posten von Funktionshäftlingen schrittweise zu übernehmen und ihre Gegner aus diesen Posten zu verdrängen – systematisch und um jeden Preis. Polen und deutsche Kommunisten arbeiteten gemeinsam auf dieses Ziel hin und entfernten Schritt für Schritt ihre Erzfeinde – die deutschen Berufsverbrecher267 – von allen lagerinternen Schlüsselpositionen. Ein anderes Ziel: die Fürsorge und die Erleichterung der Haftbedingungen für die eigenen Leute. Dazu gehörte die Unterbringung im Krankenbau bei eingeweihten Ärzten, manchmal auch die Fälschung von Papieren und sogar der Austausch von Häftlingsnummern. Außerdem wurden Waffen und Werkzeuge für den künftigen Aufstand aufgetrieben, Metallscheren zum Beispiel für das Durchschneiden des Stacheldrahts.

Ab 1943 hörten die Konspiranten regelmäßig Radio und verbreiteten einmal wöchentlich eine Art politische Mund-zu-Mund-Propaganda. Auch fanden sie Wege zu anderen Lagerbereichen und, besonders schwierig und wichtig, Möglichkeiten, um Kontakt zur Außenwelt herzustellen. In der ganzen Zeit, in der das Lager existierte, wurden an die 1.000 Kassiber in die Freiheit übermittelt. Das ist wohl das größte Verdienst, das man den Verschwörern anrechnen kann. Auf Grundlage dieser Kassiber erschien in Krakau sogar eine Zeitung, das „Auschwitzer Echo“268.

Man muss hierbei berücksichtigen, dass der Untergrund von Auschwitz I im Gegensatz zu den Mitgliedern des Sonderkommandos viele Mittel in der Hand hatte. Sogar Waffen konnten die Aufrührer der „Kampfgruppe“ auftreiben, wenn auch nicht kostenlos (zum Glück galten die Männer vom Sonderkommando als zahlungsfähig – besonders hoch im Kurs standen deren Dollars und Medikamente).

Außer solchen Geschäftsverbindungen bestanden zwischen den zwei Widerstandsgruppen auch Bündnisbeziehungen: Mitglieder des Sonderkommandos übermittelten an den Untergrund im Stammlager Transportlisten und sogar Fotos davon, wie die Vernichtungsmaschinerie funktionierte. Die Zentrale versorgte sie im Gegenzug mit Auskünften, die überlebenswichtig sein konnten: beispielsweise rechtzeitige Informationen über anstehende Selektionen innerhalb des Sonderkommandos. Die Funktion der V-Männer übernahmen Handwerker (Elektriker etwa) oder Häftlinge, die im „Kanada“-Lager arbeiteten und sowohl zum Stammlager als auch zum Sonderkommando269 Kontakt hatten.

Im Vergleich zu Birkenau und Monowitz war das Leben im Stammlager – wenn die Häftlinge es nicht gerade im Bunker der Lagergestapo oder in den medizinischen Versuchslabors verbringen mussten – geradezu geordnet und stabil. Das Lagerleben der Juden, die die Rampe überstanden hatten, wurde aber einigen Schätzungen zufolge nicht in Jahren, sondern in wenigen Monaten gemessen. Bei so einer Lebenserwartung reichte die Zeit nicht mal dafür, sich im Lager zu orientieren, geschweige denn dafür, Aufstandspläne zu entwerfen und reifen zu lassen.

Fast schon als Quelle der Hoffnung erschien da das sogenannte Familienlager, das größtenteils von deutsch- und tschechisch-jüdischen Familien aus Theresienstadt bewohnt wurde. Im Grunde war es die Nachbildung eines klassischen Ghettos, das gewissermaßen an seinen „richtigen Ort“ deportiert worden war. Nur wenige Schritte davon entfernt toste der Todesstrom, der über kurz oder lang jeden mitriss – diesem Schicksal zu entkommen, schien ein für alle Mal unmöglich. Doch wie das Leben (genau genommen aber der Tod) gezeigt hat, war es das Gefühl der eigenen Exklusivität, das den Handlungswillen der Juden aus Theresienstadt lähmte. Es war die Bindung an die Familien, deren Leben bei jeder Art von Aufsässigkeit aufs Spiel gesetzt worden wären. Und es war auch die irrationale, durch nichts zu begründende Ansicht, diese „Insel der Glückseligen“ werde auf ewig bestehen. Derweil wussten die Theresienstädter im Unterschied zu den Neuankömmlingen an der Rampe sehr wohl, was genau mit solchen Neuankömmlingen geschah. Unter ihnen waren auch viele junge und kräftige Männer – eine für den Aufstand bestens geeignete Truppe.

Gradowskis Andeutungen, es habe zwischen dem Sonderkommando und den Juden aus Theresienstadt eine Art Absichtserklärung bestanden (wenn die einen rebellieren, schließen sich die anderen ihnen an), werden von Vrba und Wetzler270 bestätigt. Jedenfalls fanden Verhandlungen statt, bei denen Vrba selbst als Verbindungsglied fungierte, war er doch Schreiber im Quarantänelager B II a, das ans Familienlager B II b angrenzte. Unterhändler der Theresienstädter war der Lehrer Fredy Hirsch271, für das Sonderkommando verhandelte vermutlich Oberkapo Kaminski. Als sich dann die Anzeichen einer anstehenden Liquidierung des Familienlagers häuften, glaubte er es nicht: Wozu sollen die Deutschen denn dann die jüdischen Kinder ein halbes Jahr lang mit Milch und Brot verköstigt haben? Und als das Familienlager in die Quarantäne verlegt wurde und kein Zweifel mehr an der Absicht der Deutschen blieb, da hatte Hirsch seine Zeit schon mit Zweifeln und Zaudern vergeudet. Da er es letztlich weder geschafft hatte, die Kinder zu schützen, noch, einen Widerstand auf die Beine zu stellen, nahm er sich selbst das Leben272. Was mit dem Familienlager geschah und wie das Sonderkommando vergeblich auf den Aufstand der Theresienstädter wartete, beschreibt Gradowski.

Die Möglichkeit, sich im Lager zu orientieren, hatten die Mitglieder des Sonderkommandos schon – die Gewissheit, was der morgige, ja der heutige Tag bringen würde, hatten sie nicht. Auch waren sie familiär nicht eingebunden. Nach der reibungslosen Vernichtung des Familienlagers – sie waren ja mindestens deren Zeugen – kamen sie zu der Einsicht, dass sie außer sich selbst niemanden mehr hatten, auf den sie sich hätten verlassen können. Dies einte sie zu einer Gruppe, die überaus daran interessiert war, einen Aufstand zu organisieren – je früher, desto besser273.

Das unabdingbare Element ihrer Pläne war die Vernichtung des Dreh- und Angelpunkts der Todesfabrik: der Krematorien – selbst wenn sie die Vernichtung mit dem eigenen Leben bezahlen sollten274. Überhaupt war das Sonderkommando offenbar die einzige Kraft auf der ganzen Welt, die sich dazu entschlossen hatte, wenigstens einen Teil der Holocaust-Infrastruktur zu zerstören. Den Alliierten mit ihren Bomberarmadas kam das offenkundig nicht in den Sinn275.

Wie auch immer der Aufstand ausgegangen wäre, allein die Vorbereitung darauf bot den Mitgliedern des Sonderkommandos schon die Chance, die ganze Bestialität des Geschehens auf den Boden des ethisch Verträglichen zurückzuführen. Schon die Vorbereitung war für die Männer eine Möglichkeit, die Schuld und den Horror zu sühnen, die auf ihrem Gewissen lasteten. Das allein wäre schon ein Erfolg: eines zumindest menschlichen, wenn nicht gar heldenhaften Todes zu sterben – in einem Kampf, mit erhobenem Haupt. In dieser Hinsicht ist der Aufruhr des Sonderkommandos mit den zwei Warschauer Aufständen vergleichbar: Die Erfolgschancen lagen hier wie dort gleichsam bei null, doch den Kampfgeist und die Selbstachtung haben sie durchaus gestärkt.

Der polnischen Führung der „Kampfgruppe Auschwitz“ war diese Entschlossenheit definitiv zuwider. Ihre Verhaltenstaktik bestand darin, keinerlei Verdacht zu erregen und um jeden Preis zu überleben. Aus ihrer Sicht musste erst die Außenwelt informiert werden. Der Aufstand hätte demnach erst stattfinden dürfen, wenn klar geworden wäre, dass die SS zur Vernichtung aller Gefangenen fest entschlossen sei, oder wenn die Rote Armee vor den Toren des Lagers gestanden hätte. Letzten Endes organisierte der Untergrund des Stammlagers bekanntlich keine Rebellion. Bruno Baums Beschreibung des polnischen Plans ist derart unklar, dass zumindest an seiner Rolle bei der Erarbeitung dieses Plans gezweifelt werden darf. Die ganze Kraft verpuffte in der geistreichen Organisation ausgeklügelter Ausbrüche, die jedoch ganz banal an Pech oder Verrat scheiterten. Oder auch daran, dass die Deutschen bestimmte Personen, die ihnen verdächtig erschienen, präventiv in den Westen deportierten276.

Es ist erstaunlich, doch Bruno Baum genierte sich nicht, den Männern des Sonderkommandos Untätigkeit vorzuwerfen, wenn sie den Menschen ihre Unterstützung verweigerten, die vor den Türen der Gaskammern plötzlich begriffen, dass ihre Vernichtung bevorstand, und sich spontan auflehnten. Andererseits spricht er davon, Mitglieder des Sonderkommandos von einem Aufstand abgehalten und andere Häftlinge vor der Beteiligung an einem solchen gewarnt zu haben277. Die drei jüdischen Mitarbeiterinnen der Union-Werke, die unter Einsatz ihres Lebens Schießpulver für die Granaten auftrieben, es unter anderem über die Bekleidungskammer mithilfe von Roza Robota ins Krematorium einschleusten und dann – weil alles aufgeflogen war – eines heldenhaften Galgentodes starben, spricht Baum derweil „seiner“ Organisation zu, wobei er das Sonderkommando nur nebenbei und zähneknirschend erwähnt278.

Die folgende Passage aus dem Manuskript von Salmen Lewenthal ist ein vielsagender Ausdruck der Gewissheit darüber, dass die Deutschen schon dafür sorgen würden, die Wahrheit nicht ans Tageslicht kommen zu lassen:

„Die Geschichte von Oyshvits-Birkenau als eines Arbeitslagers im Allgemeinen und als eines Orts der Vernichtung von Millionen von Menschen im Besonderen wird, wie ich denke, der Welt nur unzureichend überliefert werden. Ein wenig durch zivile Personen und ich denke, dass die Welt jetzt schon von diesen Schrecken weiß. Die Übrigen, womöglich, wer von den Polen noch am Leben bleibt dank irgendeinem Zufall, oder von der Lagerelite, die die besten Placowkas einnehmen […]“279

Dadurch, dass sie den Juden Versprechungen machten, an deren Erfüllung sie gar nicht dachten, bezweckten die Polen nur eines: die Aufschiebung des Aufstands auf so lange Zeit wie nur möglich. Dennoch gelang es den beiden Zentralen eines Tages, eine Abmachung zu erzielen. Dabei hätten die polnischen Partisanen allerdings beträchtliche Geldsummen im Gegenzug für die Unterstützung des Aufstands gefordert280. Abgestimmt wurde auch das Datum des Aufruhrs: an einem der Freitage im Juni 1944 sollte es so weit sein, höchstwahrscheinlich am 16. Juni. Verhandelt hatten (über V-Männer) auf polnischer Seite offensichtlich Cyrankiewicz und Burger, auf jüdischer der Kapo Kaminski281.

Doch haben die Polen den Termin buchstäblich in letzter Minute und im Alleingang verschoben. Vielleicht war der Grund dafür, dass der SS-Obergruppenführer Pohl an exakt jenem Tag das Lager besuchte. Oder es lag vielleicht daran, dass Armeeeinheiten durch das Lager befördert wurden. Auffällig jedoch ist, dass der polnische Untergrund an den gleichen Tagen – um den 20. Juni herum – wieder einmal die Flucht von Cyrankiewicz vorbereitete. Der Fluchtversuch scheiterte und kostete drei junge Untergrundmitglieder, die den Ausbruch in der Freiheit vorbereitet hatten, das Leben282. Ob es einen direkten Zusammenhang zwischen der Terminverschiebung und der Fluchtvorbereitung gab, ist schwer zu sagen. Den Kampfgeist der Juden hat die Verschiebung jedenfalls gedämpft. Mehr noch: Dadurch hatten die Polen die Verschwörung ein Stück weit bloßgelegt. Ohne Folgen konnte das natürlich nicht bleiben. Vielleicht kostete die Verschiebung des Aufstands den Leiter des jüdischen Untergrunds, Kapo Kaminski, das Leben: Anfang August wurde er von Moll persönlich erschossen.

Nach diesem Fiasko schwiegen die Juden, jedoch – um es mit den Worten von Salmen Lewenthal zu sagen – zähneknirschend. Und nach der Septemberselektion innerhalb des Sonderkommandos283 wollten sie von der Zusammenarbeit mit den Polen endgültig nichts mehr wissen.

Diese Enttäuschung hatte hauptsächlich zwei Konsequenzen. Die erste: Auf die Weitergabe von Informationen an die „Kampfgruppe Auschwitz“ wurde von nun an verzichtet. Stattdessen wurden sie der Erde überantwortet. Dem Untergrund wurde dadurch das Monopol auf die Übermittlung der Kassiber in die Freiheit genommen. Die Mutter Erde wurde zur Vermittlerin. Wer die Informationen finden wollte, der würde sie schon finden. Und die zweite Konsequenz: Das Sonderkommando war von nun an umso entschlossener zum alleinigen Aufstand284.

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