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Ausbrüche und Selbstjustiz

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Mitglieder des Sonderkommandos, ins größte barbarische Geheimnis des Dritten Reiches unmittelbar eingeweiht, waren a priori zum Tod verdammt. Klare Anweisungen, die Männer des Sonderkommandos alle paar Monate oder einmal im halben Jahr auszutauschen, gab es aber nicht – sonst hätte die SS diese Anweisungen sorgfältig befolgt. Auch wäre der Austausch mit strengerer Regelmäßigkeit vorgenommen worden, als es der Fall war.

Höß zufolge hatte es jedoch eine Anordnung von Adolf Eichmann gegeben, die einfachen Mitglieder des Sonderkommandos nach jeder großen Aktion233 hinzurichten. In dem Wörtchen „groß“ lag deren Rettung, denn bemessen wurde das Ausmaß einer Aktion vor Ort. Aktionen gab es indes jeden Tag, sie wurden zur Routine: Da ergab es keinen Sinn, erfahrene Profis in den Krematorien gegen ungelernte Helfer auszutauschen. Im Gegenteil: Bei verstärkten Aktionen waren zusätzliche Arbeitskräfte erforderlich. Die SS schätzte natürlich die Erfahrung234 der Männer des Sonderkommandos, lebendig waren sie zweckdienlicher. Zumal im Eifer der Vernichtung der aus Ungarn deportierten Juden weder Zeit geblieben wäre noch es sich gelohnt hätte, neue Hilfskräfte einzuarbeiten. Rotationen, also massiver Austausch des Sonderkommandobestands, fanden trotzdem statt, jedoch aus ganz anderen Gründen und unregelmäßig. Dieser Gefahr waren die Männer täglich von Neuem ausgesetzt – jede Stunde, jede Minute.

Deshalb die Taktik und gleichsam die Strategie des Sonderkommandos: den richtigen Moment abwarten, aufbegehren, die Öfen und die Gaskammern zerstören, den Draht durchschneiden, sich den Weg aus dem Lager bahnen und dann ab über die Lagergrenze, in die Freiheit. In die Tatra, in die Beskiden … zu den Partisanen zum Beispiel. Mit anderen Worten: Das eigentliche Ziel eines Aufstands war für die Mitglieder des Sonderkommandos schlicht und ergreifend die erfolgreiche Massenflucht. Das gab es übrigens auch in anderen Todeslagern, in Treblinka und Sobibor.

Geglückte Ausbrüche hatte es vereinzelt schon gegeben, mit der Zeit aber wuchs und erstarkte die Entschlossenheit, einen Aufstand zu organisieren, der die Flucht einer größeren Anzahl von Häftlingen ermöglichen würde. Der Versuch, die Bedeutung des Aufstands durch derartige Behauptungen wie „Sie haben ja nur ihre Haut retten und bloß abhauen wollen“ herabzuwürdigen, ist deshalb überaus fragwürdig. Als ob andere Aufstände235 die Einnahme Berlins zum Ziel gehabt hätten …

Was die Ausbrüche angeht: Gezählt wurden laut Tadeusz Iwaszko insgesamt 667, davon 76 (etwas mehr als zehn Prozent) von Juden durchgeführt236. Dass Juden aus den Konzentrationslagern ausbrachen, war also durchaus selten – und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie praktisch keine Erfolgschancen hatten. Denn mit der Hilfe und dem Mitgefühl der polnischen Bevölkerung aus dem Umland rechneten selbst die polnischen Juden nicht. Eigenen Landsleuten halfen die Polen bei der Flucht ziemlich gern; russischen Gefangenen schon weniger, aber immerhin halfen sie ihnen. Flüchtige Juden lieferten sie aus. Oder sie raubten sie aus und töteten sie, wenn sie sich einen Nutzen davon versprachen.

Wie die Polen gegenüber den Juden überwiegend eingestellt waren, kommt in einer ganz bestimmten Geste deutlich zum Ausdruck: eine Handbewegung entlang des Halses wie mit einem Messer – ritz, ratz. „Es ist aus mit euch, ihr Juden, es ist aus!“ – das bedeutete diese Geste. Eine „Warnung der Juden vor der Gefahr“, wie die Polen laut Lanzmann 30 Jahre später ebenso einstimmig wie unglaubwürdig beteuerten, war diese Handbewegung keineswegs237.

Wie diese Geste von denjenigen aufgefasst wurde, an die sie gerichtet war, beschreibt Gradowski:

„Doch wie schlimm ist das. Da stehen zwei junge Christinnen, schauen in die Fenster der Waggons hinein und führen die Hand am Hals entlang. Ein Schauder überkommt alle, die diese Szene sehen und dieses Handzeichen wahrnehmen. Stillschweigend weichen sie zurück wie vor einem Gespenst. Sie wahren das Schweigen, kraftlos, das soeben Gesehene zu schildern. Sie wollen das Unglück nicht verstärken, das ohnehin mit jeder Minute schwerer wird […]“

Trotzdem datieren die ersten Ausbruchsversuche von Juden aus Auschwitz-Birkenau schon aus dem Jahr 1942. Die Menschen versteckten sich auf Lastwagen, die Zement, Ziegelsteine oder Müll aus dem Lager abtransportierten. Da es notwendig war, sich im Vorfeld mit den Wachen zu arrangieren, war ein Ausbruch auf diesem Weg ein äußerst riskantes Unterfangen238. Noch riskanter und deshalb sehr viel seltener war die Flucht in Verkleidung und mit den Papieren von Zivilarbeitern.

Erfolgreicher waren indes Ausbrüche mittels sogenannter Malinas239: kleiner schmaler Verstecke, die in Kanalisationsschächten, Bretterstapeln oder (die sichersten überhaupt) unter der Erde, in Bewässerungsanlagen angelegt wurden. Joschua Eiger etwa schreibt, es sei trotz aller Risiken ein wahres Vergnügen gewesen, diese engen Verstecke zu bauen. Entscheidend war, dass die Malinas sich zwar außerhalb des rund um die Uhr bewachten Lagerareals, aber innerhalb der sogenannten großen Postenkette befanden. Dieser Bereich, in dem die Häftlinge tagsüber arbeiteten, wurde auch nur tagsüber bewacht. Die Flüchtigen entfernten sich vom „Arbeitsplatz“ und harrten zwei, drei Tage in den Malinas aus, bis die Suche nach ihnen eingestellt wurde. Dann krochen sie im Schutz der Nacht aus ihrem Versteck hinaus, hinterließen es dabei in völliger Ordnung und Sauberkeit für den nächsten Nutzer (falls es bereits eine Absprache darüber gab240) und gingen meist in den Süden oder Südosten, die Sola stromaufwärts, in Richtung der Beskiden und der nächstgelegenen Slowakei.

Manchen gelang die Flucht auf diese Weise. Jedes Mal aber, wenn ein Ausbruch aufflog, wurde Alarm ausgelöst: Die Sirenen heulten auf, die Suche fing an und letztlich wurden viele Flüchtige gefasst. Sie wurden entweder an Ort und Stelle hingerichtet oder ins Stammlager Auschwitz I verbracht, wo sie nach einer Befragung im Block 11 meistens ebenfalls hingerichtet wurden – manchmal zur Abschreckung anderer Häftlinge öffentlich.

Es ist kein Zufall, dass die meisten erfolgreichen Ausbrüche, die von Juden unternommen wurden, ins Jahr 1944 fallen. Am 5. April floh, als SS-Mann verkleidet, Vítězslav Lederer zusammen mit dem echten SS-Mann Viktor Pestek241. Lederer war im Dezember 1943 aus Theresienstadt nach Auschwitz gekommen. Er schaffte es bis in die Tschechoslowakei, nahm Kontakt zum Untergrund auf, zog heimlich von Stadt zu Stadt und besuchte mehrmals Theresienstadt, inkognito natürlich. Dort traf er den Judenrat und erzählte dessen Mitgliedern, was sie in Auschwitz erwartete. Die aber glaubten ihm nicht, schüttelten nur den Kopf und zeigten unentwegt auf die Postkarten aus dem sagenhaften „Neuberun“, die auf den 25. März datiert waren. Mit Lederers „wahnwitzigem Geschwätz“ wollten sie ihre 35.000 Juden offenbar nicht behelligen242.

Am 7. April 1944 – einen Monat nach der Liquidierung des tschechischen Familienlagers – flohen die slowakischen Juden Rudolf Vrba (alias Walter Rosenberg) und Alfred Wetzler, die in Birkenau als Schreiber beschäftigt gewesen waren243. Nachdem sie drei Tage lang in einer Malina ausgeharrt hatten, gingen sie die Sola stromaufwärts über die slowakische Grenze und erreichten mithilfe von Fremden, die sie zufällig trafen, das Örtchen Sillein. Eine Zeit lang wurden sie in Liptau-Sankt-Nikolaus am Fuß der Tatra versteckt244.

Die beide Nächsten waren Czesław Mordowicz und Arnoszt Rosin, ehemaliges und ältestes Mitglied des Sonderkommandos und einer der wenigen, denen es gelungen war, sich von dieser „ehrenvollen Aufgabe“ freizukaufen245. Geflohen waren sie am 27. Mai 1944 nach dem gleichen Muster wie Wetzler und Vrba auch. Am 6. Juni wurden sie im slowakischen Nededza verhaftet. Man hielt sie jedoch für Schmuggler, weil sie Dollars bei sich hatten, und ließ sie frei bzw. man erlaubte es der örtlichen jüdischen Gemeinde, beide aus dem Gefängnis freizukaufen und im besagten Liptau zu verstecken246.

Von Zeit zu Zeit versuchten die Mitglieder des Sonderkommandos, von ihren Arbeitsposten zu fliehen, jedes Mal erfolglos. Besonders eindrücklich war der gescheiterte Fluchtversuch des französisch-jüdischen Kapos Daniel Obstbaum, des Blockschreibers eines Nachbarblocks, Fero Langer, der den ihm aus seiner Heimat bekannten SS-Wachmann Dobrovolny bestochen hatte, sowie von drei weiteren Häftlingen. Auch sie wurden gefasst und erschossen. Möglicherweise diente dieser Ausbruch als zusätzlicher Vorwand für eine weitere Selektion innerhalb des Sonderkommandos – jene vom Februar 1944, die Gradowski im Kapitel „Abschied“ beschreibt247.

Außer den Ausbrüchen gab es im Lager noch andere dokumentierte Formen des jüdischen Widerstands und kollektiven Ungehorsams. Reaktionen ließen nicht auf sich warten. So wurden in der Nacht des 5. Oktobers 1942 rund 90 französische Jüdinnen ermordet: Die SS und die deutschen Kapofrauen (aus der Reihe der Strafgefangenen) hatten in dem Frauenblock der Strafkompanie in Budy, einem Nebenlager von Auschwitz nahe Birkenau, ein Blutbad veranstaltet. Sechs der besonders eifrigen Mörderinnen wurden sogar am 24. Oktober selbst hingerichtet, nachdem die Politische Abteilung eine Untersuchung248 vorgenommen hatte.

Auch bei den Juden kam Lynchjustiz vor, die sich aber nur gegen die „eigenen“ Leute, die jüdischen Kollaborateure, richtete. In der Neujahrsnacht 1945 etwa fielen dieser Selbstjustiz auch einige Häftlinge des Stammlagers zum Opfer – nämlich der Kapo Schulz und ein belgischer Jude, der Dutzende seiner Landsleute bei der Gestapo denunziert hatte249.

Hier sei noch eine Geschichte geschildert, die im ganzen Lager einst in Windeseile die Runde machte (Dutzende von Häftlingen erzählten sie mit kleinen Abweichungen). Am 23. Oktober 1943 war in Auschwitz ein Transport mit sogenannten Austauschjuden aus Bergen-Belsen angekommen – hauptsächlich wohlhabende Juden aus Warschau. Sie wurden gezwungen, sich auszuziehen. Und dann hat eine gewisse Franziska Mann – eine wunderschöne Schauspielerin – dem SS-Oberscharführer Quakernack den gerade erst ausgezogenen Büstenhalter ins Gesicht geklatscht, den Revolver entrissen und mit zwei Schüssen den in seiner Nähe250 stehenden Rapportführer Schillinger tödlich verwundet sowie den SS-Oberscharführer Emmerich schwer verletzt. Sogleich stürzten sich auch andere Frauen auf die SS-Männer in dem Versuch, ihnen die Waffen aus den Händen zu reißen. Doch sie alle wurden an Ort und Stelle niedergemetzelt. Eine Art Masada inmitten des Holocaust.

Keine zahmen Lämmer waren auch die Alten und die Frauen mit Kindern, die die Selektion an der Rampe nicht überlebten, sondern baldig in den Gastod geschickt wurden. Im Eifer der Ungarn-Aktion, als die Bahntransporte einer nach dem anderen einrollten, wurden Selektionen schon einmal in solch einer Eile vorgenommen, dass nahezu alle Neuankömmlinge, ohne hinzuschauen, zum Tod verurteilt wurden. Umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass vereinzelt Juden bereit waren, Ungehorsam und spontanen Widerstand zu leisten und sich zu weigern, zum Entkleiden hineinzugehen. In Ausnahmefällen suchten einzelne Opfer sogar Versteckmöglichkeiten auf dem Krematoriumsgelände und streuten den Nazis so Sandkörner in deren durchdachtes Getriebe der Judenvernichtung. Letztlich musste ab dem 3. Juni 1944 der Elektrozaun auch tagsüber eingeschaltet bleiben251.

Spontanen Widerstand leisteten manchmal auch die Mitglieder des Sonderkommandos. Das eindrücklichste Beispiel: der Soloaufstand von Alberto252 Errera, einem kräftigen Lebensmittelhändler aus Saloniki, der auch an der Vorbereitung des kollektiven Aufstands des Sonderkommandos teilnahm. Es gibt zwei Versionen seiner Heldentat. Wie Eisenschmidt berichtet, fuhren einst zwei griechische und drei polnische Juden Asche zur Weichsel, unter der Aufsicht von nur zwei SS-Männern. Die Griechen, unter ihnen Errera, fielen über ihre Aufpasser her, versuchten, einen von ihnen zu ertränken, und schwammen ans andere Flussufer. Dort wurden sie bald gefasst. Die drei polnischen Juden blieben währenddessen stehen und beobachteten das Geschehen teilnahmslos253. Laut der Darstellung von Shlomo Venezia waren es jedoch nur die zwei Griechen, einer von ihnen Hugo Venezia. Errera war es gelungen, einen der zwei Wachmänner zu überwältigen und zu neutralisieren – Venezia schaffte es nicht. Deshalb konnte der zweite SS-Mann auf Errera schießen, der gerade die Weichsel überquerte. Eine Kugel traf den Griechen in den Oberschenkel, sodass er verblutete. Venezia wurde in den Bunker geführt. Die entstellte Leiche Erreras wurde auf einem Tisch im Hof des Krematoriums II ausgestellt: Jedes Mitglied des Sonderkommandos musste an dem Tisch vorbeigehen und dem Toten in die leblosen Augen blicken.

Griechische Historiker datieren dieses Ereignis auf den Zeitraum zwischen dem 21. und 29. September254. Andreas Kilian hatte zunächst angenommen, die Selektion des Sonderkommandos am 23. September 1944 könne auch eine Reaktion auf Erreras Flucht gewesen sein255. Doch die neuesten Funde von Igor Bartosik legen das Datum dieses Vorfalls eindeutig auf den 9. August 1944 fest256.

Briefe aus der Hölle

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