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Wer kam zum Sonderkommando?

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Wovon hing es ab, ob ein Häftling dem Sonderkommando zugeteilt wurde oder nicht? Man kann sagen: von der Verkettung vieler Umstände. Zunächst spielte die Selektion an der Rampe eine Rolle195. Und im Häftlingslager eine zweite Selektion für ein Arbeitskommando, in der bei Bedarf auch Männer für das Sonderkommando ausgesucht wurden. Entscheidende Kriterien waren die Gesundheit und die Statur. Danach stand den Kandidaten für das Sonderkommando eine weitere Selektion bevor: die ärztliche Kommission, die deren Eignung für diese Sklavenarbeit feststellte. Dabei wurde auch eine intuitivphysiognomische Prognose ihrer potenziellen Kollaborationsloyalität in Betracht gezogen.

Bist du kräftig und gesund, gibst dich bescheiden, schaust demütig statt aufsässig – dann bleibst du am Leben. Du wirst nicht auf einem Lastwagen in einen Vergasungsbunker gefahren, sondern in einer Kolonne zu einer Baracke eskortiert, in ein „Sauna“ genanntes Badegebäude geführt und unter eine echte statt eine falsche Dusche gestellt, danach wirst du drei bis vier Wochen in Quarantäne gehalten196, geschoren, fotografiert, registriert und bekommst auf deinem linken Unterarm deine Lagernummer197 eintätowiert. Wer eine solche Nummer bekam, dem war Leben und Arbeit erst einmal garantiert. Aber welche Arbeit? Wann überhaupt wurden Menschen für das Sonderkommando benötigt?

Immer nur dann, wenn das Sonderkommando zu dem Zeitpunkt nicht über genug Arbeitskräfte verfügte. Ein solcher Mangel entstand in zwei Fällen: Entweder wenn die Mitglieder des Sonderkommandos weniger wurden – mit anderen Worten: nachdem sie alle oder ein Teil von ihnen in die Gaskammer geschickt oder ein bestimmtes Datum dafür anberaumt worden war. Oder wenn es immer mehr und im wahrsten Sinn des Wortes waggonweise Arbeit gab – so wie im Frühling 1944, als die Transporte mit ungarischen und griechischen Juden einer nach dem anderen (und nicht selten mehrere an einem Tag) im Lager ankamen.

Ein Beispiel für die erste Variante ist das Schicksal Salmen Gradowskis oder auch der Brüder Dragon, Shlomo und Abraham, zweier Juden aus Żuromin, die am 6. Dezember 1942 mit einem Transport aus Mława198 nach Auschwitz kamen. Damals gab es noch keine Krematorien in Birkenau. Es brannten nur die Gruben an den zwei Bunkern: Dort roch es nach verbranntem Fleisch, ihre niedrigen Flammen – besonders gespenstisch bei Nacht – waren von Weitem zu sehen …

Wie auch Gradowski kamen die Brüder erst in den Quarantäneblock 25 des Lagerabschnitts B I b in Birkenau, aber nur für wenige Stunden, ohne die vorgeschriebenen drei Quarantänewochen dort zu verbringen. Am selben Tag wurden sie in den 2. Block verlegt, wo vor ihnen das vorherige Sonderkommando199 gewohnt hatte. Schon am Tag darauf, am 10. Dezember, wurden die Neulinge zur Arbeit an einen der Bunker geführt. Durch das Beobachtete zutiefst erschüttert, versuchte Shlomo sich die Pulsadern mit der Scherbe einer Glasflasche aufzuschneiden, weshalb er (und sein Bruder gleich mit) am nächsten Tag aus Mitleid als Stubendienst in der Baracke gelassen wurde. Danach wurde das gesamte Kommando in die Blocks 13 und teilweise 11 überführt (im Block 11 war zudem das Strafkommando untergebracht). Im Block 13 hausten die Brüder dann rund ein Jahr, bevor sie in den Block 11 und im Sommer 1944 dann unmittelbar in die Krematorien verlegt wurden.

Die zweite Variante verdeutlichen die Beispiele von Leon Cohen und Josef Sackar200. Ersterer wurde 1910 in Saloniki geboren, hatte eine bürgerliche Bildung erhalten, jedoch auch das Jiddische in der Sonntagsschule201 gelernt. Nach Auschwitz kam er wie Nadjari am 11. April 1944202. Er erhielt die Nummer 182492. Nach der Quarantäne wurde er in das Männerlager B II d überführt und dem Sonderkommando zugeteilt. Sein vorgegebener Beruf – Zahnarzt – erwies sich am neuen Ort als überaus gefragt: Er riss den Opfern nämlich die Goldzähne und Prothesen aus. Erst arbeitete er im Bunker, dann im Krematorium V und später im Krematorium III, weshalb er auch überlebte. Sein Arbeitsplatz als „Zahnarzt“ befand sich gerade einmal drei Meter vom nächsten Ofen entfernt. Den Mund öffnen (mit einer Zange), die Mundhöhle beschauen, die Zähne ausreißen, das war‘s – Kopfnicken: der Nächste! Und so bis zu 60–75 Leichen alle zehn Minuten203.

Josef Sackar, im griechischen Arta geboren, wurde am 24. März 1944 gefasst und ins Gefängnis in Chaidari bei Athen geschafft. Dort blieb er bis zum 1. April, als er mit seinem Vater, seiner Mutter und seinen Schwestern in einen Frachtwaggon gepfercht und am 11. April – dem Vortag des Osterfestes – nach Auschwitz gebracht wurde. Die Eltern sah er danach nie mehr wieder, von den Schwestern verabschiedete er sich später. Bei der Registrierung erhielt er die Nummer 182739. Am 12. Mai wurde in der Quarantänebaracke eine Nachselektion vorgenommen – jedoch eine strengere, mit einer oberflächlichen medizinischen Untersuchung, wonach etwa 200 Mann ausgesondert wurden204. Unter ihnen waren auch seine griechischen Landsleute: die Gebrüder Venezia, Cohen, Gabai, Shaul Chasan, Michel Ardetti, Joseph Giuseppe Baruch, Marcel Nadjari, Daniel Bennahmias, Menachem Litschi und andere.

Alle Neulinge wurden in den Block 13 des Lagerabschnitts B II d verlegt. Jene Häftlinge, die schon dort waren, hatten „Mitleid“ mit den Neuen und sahen davon ab, sie einzuweihen – sie sagten nur, an Essen und allem anderen werde es nicht mangeln, wohl aber werde es viel harte Arbeit geben. Welche Arbeit genau sie erwartete, wurde am nächsten Tag bei einem „Ausflug“ zu den Bunkern klar – zu den riesigen Scheiterhaufen unter freiem Himmel, wo jüdische Leichen lichterloh brannten.

Anders als Cohen hatte Sackar im Krematorium IV angefangen, wurde aber nach drei Tagen ins Krematorium III versetzt, wo er dann bis zum Abbruch des Gebäudes arbeitete. Über sich selbst sagte Sackar, er sei bald schon zu einem Automaten, einer Maschine geworden, „nur kleine Schrauben im Getriebe dieser Todesindustrie“205. Gebetsmühlenartig wiederholte er die eingeprägten Worte, um sich selbst zu beruhigen. Hätte er weinen können, er hätte geweint – unaufhörlich. So aber weinte er, sein Tränenmeer war ein für alle Mal ausgetrocknet. Und nach Auschwitz weinte er erst recht nimmermehr206.

Die von Sackar erwähnten Brüder Gabai aus Athen – Dario und Yakov –, allesamt übrigens italienische Bürger207, waren mit demselben Transport aus Athen gekommen, am Dienstag, dem 11. April. Von den 2.500 Menschen ihres Transports überstanden 650 die erste Selektion an der Rampe. Danach gleicht die Geschichte von Yakov Gabai (Nummer 182569) exakt jener von Sackar, bis hin zur Nummer des Krematoriums.

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