Читать книгу Briefe aus der Hölle - Pavel Markovich Polian - Страница 34
Verbrecher oder Helden Teuflische Versuchung
ОглавлениеIndem er die wenigen am Leben gebliebenen Mitglieder des Sonderkommandos fand und befragte, unternahm Gideon Greif den Versuch, „die Grenzen der moralischen Welt derer zu verstehen, die physisch dem Zentrum des Todes am nächsten waren – einem Ort, an dem die Deutschen alle humanitären Werte außer Kraft gesetzt hatten.“386 Die Methode, die einen Opfer zur Mitwirkung an der Ermordung anderer Opfer zu zwingen, charakterisiert er berechtigterweise als „dämonisch“387. Auch Gideon Hausner, der israelische Ankläger im Eichmann-Prozess, bezeichnete sie 1961 als satanisch:
„Wir finden auch Juden, die den Nazis zu Diensten standen, in der jüdischen Ghetto-Polizei, in den Ältestenräten, den Judenräten. Sogar am Eingang zu den Gaskammern standen Juden, denen befohlen war, die Opfer zu beruhigen und ihnen einzureden, es gehe in eine Dusche. Dies war der satanischste Teil des Plans: alles Menschliche im Menschen zu ersticken, ihn seiner Empfindungen und seiner Verstandeskraft zu berauben, ihn in einen seelenlosen, feigen Roboter zu verwandeln und auf diese Weise die Umwandlung der Lager-Häftlinge in ein Teilstück jener Maschinerie zu ermöglichen, die deren eigene Brüder vernichtete. Dadurch konnte die Gestapo die Anzahl ihrer Leute in den Lagern auf ein Minimum reduzieren. Doch am Ende konnten auch die Roboter ihrem bitteren Schicksal nicht entfliehen, wurden sie doch ebenso vernichtet wie ihre Glaubensgenossen …“388
Ja, das Wesen der Tätigkeit des Sonderkommandos war bestialisch. Und zwar derart, dass dessen Mitglieder wie Kollaborateure erster Güte – auf gleicher Stufe mit den jüdischen Polizisten im Ghetto – der direkten Beihilfe und fast schon der Mittäterschaft am Henkerdienst, der direkten Beteiligung am Mord beschuldigt wurden389. Den Anklägern das Recht abzusprechen, die Männer des Sonderkommandos zu Mittätern und Kollaborateuren zu erklären, wäre in der Tat ungerechtfertigt. Nahmen sie denn wegen der Aussicht auf die eigene, sei es auch kurzzeitige Rettung am Ethnozid eines Volkes, ihres Volkes nicht teil?
Aus demselben Grund forderte Hannah Arendt, das israelische Gesetz von 1950 über die Bestrafung von Naziverbrechern – jenes Gesetz, auf dessen Grundlage Adolf Eichmann verhaftet und verurteilt wurde – auf die Handlanger der Nazis anzuwenden390. Allerdings hatte Arendt weniger das Sonderkommando als die Judenräte der Ghettos und deren Beteiligung an der Katastrophe im Blick. Die Judenräte mit ihren Kasztners, Genses und Rumkowskis an der Spitze standen im Zentrum des gesellschaftlichen Diskurses in Israel in den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung. Mag es auch paradox erscheinen, doch begegnete man einem Holocaust-Überlebenden in Israel weniger mit Mitgefühl als mit Misstrauen und der skeptischen Frage: „Was hast du denn während des Holocaust gemacht?“391
Rudolf Kasztner, der Leiter eines zionistischen Hilfskomitees in Budapest, wurde beschuldigt, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und die Interessen der jüdischen Gemeinde in Ungarn verraten zu haben, um die Haut von etwa 1.700 prominenten Juden (einschließlich seiner selbst und seiner Verwandten) im sogenannten Kasztner-Zug zu retten, der aus Budapest in die Schweiz gefahren war. Er wurde zum Hassobjekt in Israel, seine Töchter wurden in der Schule mit Steinen beworfen. Kasztner selbst wurde 1955 verurteilt. Auf die Verurteilung folgte in der zweiten Verhandlung 1958 der Freispruch, den er selbst nicht mehr miterlebte, weil er 1957 von extremistischen Rächern erschossen worden war.
Chaim Rumkowski – Vorsitzender des Judenrates im Ghetto von Lodz (Litzmannstadt), der sich nicht einmal seines Abbilds auf der Ersatzwährung schämte – führte die Ghettobevölkerung mit eiserner Hand und hatte keine Scheu, gegen den Leibhaftigen persönlich Schach zu spielen. Der Einsatz war das Leben der Juden: Ohne mit der Wimper zu zucken, gab er die Schachfiguren her, lieferte Abertausende jüdische Seelen immer und immer wieder ans Messer. Doch am Ende verlor er: Von dem 158.000-köpfigen Ghetto blieben einige Hundert Menschen übrig. Chaim Rumkowski hatte sich offensichtlich verspielt in der trügerischen Gewissheit, alle geschriebenen und ungeschriebenen Regeln des teuflischen Treibens zu kennen. Sein Gegenspieler aber änderte die Regeln und setzte die Züge nach Belieben: Mit einem Fingerschnalzen schlugen die Nazis dessen königlichen Hochmut ab und schickten ihn zusammen mit den Läufern und Bauern in die Vergasungsbunker von Birkenau.
Dasselbe Spiel – sich bei den Henkern durch immer neue Judenopfer freizukaufen – spielte Jacob Gens in Wilna. Nur ist dieser Fall dadurch gekennzeichnet, dass der Spieler eine Alternative hatte, eine klare und deutliche: Der organisierte kommunistische und zionistische Untergrund stand zum Aufstand im Ghetto und zum Exodus in die Wälder bereit. Allerdings waren diese Untergrundkämpfer in den Augen des Vorsitzenden des Judenrats Gens gefährliche Verrückte und Provokateure, die mit dem Feuer spielten. Ihr sinnloser Heldenmut und Drang nach Heldentat riefen nichts als Ablehnung und Protest bei ihm hervor, hätten sie doch seine Strategie der kleinen Zugeständnisse, Rochaden und der Nützlichkeit für die Henker zum Scheitern bringen können. Es war so, als ob Gens seine mutigen Opponenten fragte: „Und? Haben denn viele Juden nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto überlebt?“ Jedoch hätten auch die Helden, wenn sie und er am Leben geblieben wären, sich die gleiche Frage gestatten können.
Im wirklichen Leben gab es solche Extreme nicht, besser gesagt: Sie waren miteinander verwoben, sie koexistierten in einem jeden Juden – entscheidend war, welche Plastizität, welche Proportion des einen und des anderen zu welcher konkreten Zeit plausibel erschien. Im Kampf gegen die Alternative, die jüdische Vereinigte Partisanen-Organisation unter ihren Kommandeuren Wittenberg und Kovner, versuchte Gens gleichwohl, sich mit derselben einzulassen. Das Beispiel Glasmans, des ehemaligen stellvertretenden Leiters der Ghettopolizei, veranlasste sicherlich auch ihn, über die verpasste Möglichkeit nachzudenken, alle jüdischen Hebel – Judenrat, Ghettopolizei und Partisanenstab – in einer, und zwar sehr viel mächtigeren Hand zu konzentrieren. Doch gingen Gens‘ Rochaden viel zu weit: Seine Polizisten waren es, die in Aschmjany die Juden nicht nur in deren Malinas392 ausräucherten, sondern sie auch für deren Erschießung selektierten. Und jede neue Aktion im Ghetto und jede neue Auswahl der SS war im Grunde wie die Selektionen an der Rampe in Auschwitz. Statt Birkenau war es in Wilna Ponary, statt Gas wurden Kugeln eingesetzt. Das Ergebnis war identisch: jüdische Leichen, von Erde bedeckt oder in Gruben brennend.
Wenn einer überlebte, dann in den Partisanenwäldern oder in den Arbeitskommandos, wo man von Erschießungen nicht betroffen war. Allerdings hat ja noch niemand die jüdischen Überlebenden nach der Art ihres Überlebens gezählt: Wie viele waren es in den Wäldern und Verstecken wirklich? Wie viele waren es auf den Brandstätten der Ghettos und der KZs? Doch schon die Tatsache des Widerstands allein gab jedem die Würde und die Hoffnung zurück, erfreute und ermutigte ihre gepeinigten Seelen.