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Das Phänomen „Sonderkommando“

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Worin bestand nun das Phänomen „Sonderkommando“? Eine vielschichtige ethische Problematik begleitete jedes seiner Mitglieder buchstäblich das gesamte Lagerleben lang. Man stelle sich vor, ein Häftling N ist bei der Selektion als Mitglied des Sonderkommandos ausgesucht worden – natürlich ohne auch nur ein Wort über seine künftige Tätigkeit gehört zu haben: Diese undankbare Aufklärung übernahmen meist Alteingesessene, Überlebende von Rotationen und Selektionen, nachdem die Aufseher die Neulinge in ihre gemeinsame Baracke gebracht hatten.

Der Neuankömmling wird also mit der Lage vertraut gemacht. Letztlich begreift er, dass seine Verwandten – Frau, Vater, Mutter, Kinder – nicht mehr am Leben sind. Und sollte es bei deren Ermordung irgendwie eine Verzögerung gegeben haben, so ist nicht ausgeschlossen, dass er auch deren Mord wird „abfertigen“ müssen! Er ist erschüttert, betäubt, verstört und paralysiert … Aber was jetzt? Wie soll er auf diesen ganzen unvermittelbaren Horror reagieren? Schließlich wäre jede Form von Verweigerung oder auch nur Empörung sicherer Selbstmord. Solche Selbstmorde oder auch Selbstmordversuche kamen natürlich vor, waren aber die absolute Ausnahme208. Yakov Gabai berichtete von Menachem Litschi, der an seinem ersten Tag doch tatsächlich ins Feuer gesprungen war209. Dasselbe tat auch Lejb Herszko Panicz, allerdings am letzten Tag, am Tag des Aufstands210. Eisenschmidt berichtet gleich über drei ihm bekannte Fälle: Zwei waren jüdische Ärzte während des Aufstands im Oktober 1944, der dritte war ein gewisser Expolizist aus Makow, der 20 Tabletten Phenobarbital geschluckt hatte und dennoch gerettet werden konnte211. Einen ähnlichen Vorfall im Krematorium V mit einem Offizier der griechischen Armee schildert auch Miklós Nyiszli212, dessen Retter. Kalmin Furman, Gradowskis Landsmann aus Lunna, versuchte, sich zu erhängen, nachdem er sich an der Einäscherung der Leichen seiner Verwandten beteiligt hatte – aber auch er wurde gerettet213.

Es gibt weitere Zeugnisse über unverwirklichte Absichten, Selbstmord zu begehen – nach dem harten Schock bei der allerersten Berührung mit der monströsen Wesensart der Arbeit, die den Neulingen von nun an bevorstand. So wollte Filip Müller sich den Opfern anschließen, wurde von ihnen jedoch, wie er schreibt, überredet, am Leben zu bleiben und alles zu erzählen214.

Die Erzählung von Daniel Bennahmias hingegen über mehr als 400 griechische Juden aus Korfu und Athen, die dem Sonderkommando zur „Abfertigung“ ungarischer Juden im Krematorium II zugeteilt worden seien und auf diese Ehre einmütig verzichtet hätten, wonach sie selbst hingerichtet und verbrannt worden seien – diese Erzählung ist nicht vertrauenswürdig215. Denn so, wie es keine Regel ohne Ausnahme geben kann, kann es umso mehr keine Regel geben, die allein aus Ausnahmen besteht. Wäre ein derart eindrücklicher Fall wirklich passiert, wäre er unweigerlich auch anderen Überlebenden aus dem Sonderkommando bekannt geworden, erst recht den Griechen unter ihnen.

Weitaus glaubwürdiger ist die Erzählung von Marcel Nadjari, der mit demselben Transport in Auschwitz ankam wie Bennahmias:

„Die Hitze am Feuer [gemeint sind hier die Verbrennungsgruben] war unerträglich. Das Feuer, der Regen, die Tötung so vieler Frauen und Kinder […] und Molls Schüsse ließen es gar nicht zu, dass man vollends begriff, was passierte. Moll hat schon einen von uns, den Griechen, erschossen, weil dieser seinen Befehl nicht verstanden hatte. Ein weiterer, der das Ganze nicht mehr aushalten konnte, warf sich in das Feuer216. Der Oberscharführer Steinberg hat ihn erschossen, damit er keine Qualen erleidet, und so hörten wir seine Schreie nicht. An dem Abend waren wir alle entschlossen, zu sterben, um dem ein Ende zu setzen. Doch der Gedanke, dass wir einen Angriff, eine Flucht organisieren und uns rächen könnten, obsiegte. In dem Moment hat unsere Verschwörung angefangen …“217

Das moralische Dilemma kam auch in den Entkleidungsräumen auf, schon beim ersten Kontakt mit den Opfern: Soll man ihnen sagen, was sie erwartet, oder nicht? Und wenn sie fragen? Natürlich waren derartige Vorwarnungen wie überhaupt alle Gespräche verboten218. Hätten sie Gespräche angefangen, die Opfer ausgefragt oder auch nur ihre Namen erfahren219 – dies hätte sich wie eine weitere Last auf ihre Psyche gelegt und wäre unerträglich geworden. Doch hätten sie nicht gesprochen, hätten sie auch nichts von alledem erfahren, was sie über die ankommenden Transporte wussten. Außerdem wäre es auch unmöglich gewesen, die Hauptaufgabe im Entkleidungsraum schweigend zu erfüllen: beruhigend auf die Opfer einzuwirken, damit sie sich schnellstmöglich entkleiden und friedlich in die „Sauna und Dusche“ begeben. Man kann unendlich lange darüber spekulieren, um wie viel leichter es für die unglückseligen Opfer war, ihre letzten Minuten bei einem „friedlichen Gespräch mit den Ihren“ zu verbringen, doch dadurch ändert sich nichts an dem vollen Bewusstsein dessen, wie niederträchtig diese „Hauptaufgabe“ war.

Hier kam es übrigens noch zu einem weiteren Problem: dem Problem weiblicher Blöße, denn nahezu alle Gruppen waren gemischt, Männer und Frauen zusammen. Die Frauen weinten vor Scham, wegen des Zwangs, sich vor Fremden auskleiden zu müssen (den Männern des Sonderkommandos galten diese quälenden Gefühle nicht, sie wurden als eine Art Dienstpersonal und als ein notwendiges Attribut des Waschbereichs wahrgenommen).

Nachdem das letzte Opfer in die Gaskammer hineingegangen war und die massive Tür verschlossen worden war, atmeten nicht nur die SS-Männer auf, auch die Männer des Sonderkommandos waren erleichtert. Es gab ja niemanden mehr, der ihnen in die Augen hätte schauen können – der Horror und die Scham wichen zurück. Ferner – und schon sehr bald – mussten sie nur noch die Leichen und das Eigentum der Verstorbenen handhaben. Nach stillschweigender Übereinkunft ging alles Essen und Alkohol, die in den Sachen der Opfer waren, an das Sonderkommando – ein kräftiger Zuschlag zu dessen Lagerration und eine im ganzen Lager220, auch bei den SS-Wachmännern, durchaus hochgeschätzte Währung.

Was Geld und Wertsachen anging, so war es dem Sonderkommando wie der SS kategorisch verboten, sich etwas davon anzueignen. Dennoch passierte dies, auch wenn nicht jeder es tat, der im Entkleidungsraum arbeitete – manche aus Angst, erwischt zu werden, Einzelne aus moralischen Überlegungen. Teils ging das Geld für die Bestechung von SS-Männern drauf, teils für die Finanzierung des Aufstands. Aber es gab ja noch den Schwarzmarkt. Was die Leichen betraf, so war die Ehrfurcht vor dem toten Körper im Judentum zwar sakral, doch blieb von dieser Pietät bald schon nichts mehr übrig. Manch ein Mitglied des Sonderkommandos erlaubte es sich, auf Leichen wie auf einem aufgewellten Teppich zu gehen, darauf zu sitzen und sogar darauf abgestützt schnell einmal einen Happen zu essen. Sie waren ja selbst künftige Leichen – was sollte da das ganze Zeremoniell, man war doch unter sich und seinesgleichen …221

Einer der schwersten Vorwürfe, die gegen die Mitglieder des Sonderkommandos erhoben werden, ist die kategorische Unvereinbarkeit ihrer persönlichen Lage und ihrer Arbeitssituation mit dem universellen Wesen des Menschen. Um pflichtbewusst und ohne Risiko für das eigene Leben alles zu erfüllen, was ihnen von der SS aufgetragen wurde, mussten sie zuallererst selbst aufhören, Mensch zu sein. Deshalb auch die Legitimität einer weiteren schweren Anklage, die ihnen gegenüber erhoben wurde: Sie betraf die in ihrer Lage unvermeidliche Vertierung, den Verlust des menschlichen Antlitzes. Dies kam teilweise schon im Erscheinungsbild der Mitglieder des Sonderkommandos zum Ausdruck, vor allem jedoch in ihrer geistigen Verfassung: Viele Häftlinge, die mit ihnen zu tun hatten, nahmen sie als grobe, sinnentleerte, verkommene Menschen wahr.

Lucie Adelsberger, Ärztin und Auschwitz-Häftling, charakterisierte die Männer so: „Das waren keine menschlichen Antlitze mehr, sondern verzerrte, irre Gesichter.“222 Auch Vrba und Wetzler, deren Flucht ohne jene Gegenstände, die vom Sonderkommando beschafft wurden, übrigens unmöglich gewesen wäre, geizen mit bloßstellenden Epitheta nicht: „Die Leute des Sonderkommandos wohnten abgesondert. Man hatte mit ihnen auch schon wegen des fürchterlichen Geruchs, der von ihnen ausging, wenig Verkehr. Sie waren immer dreckig, ganz verwahrlost, waren ganz verwildert und ungemein brutal und rücksichtslos. Es war nicht selten – es galt übrigens auch bei den anderen Häftlingen als Sensation –, dass der eine den anderen einfach erschlug.“223

Daran knüpft eine Aussage an, die gar kein Zeugnis mehr ist, sondern eine Anklage, eine Diagnose, die Sigismund Bendel über die Lippen kam, einem der Ärzte des Sonderkommandos: „Die Männer, die ich kannte – wie der gelehrte Rechtsanwalt aus Saloniki oder der Ingenieur aus Budapest –, hatten nichts Menschliches mehr an sich. Sie sind wahrhafte Teufel. Unter Stockund Peitschenschlägen der SS laufen sie wie Besessene, um sich ihrer Aufgabe so schnell als nur möglich zu entledigen.“224 Und hier das fachmännische Zeugnis eines weiteren Arztes:

„Organische Krankheiten sind beim Sonderkommando selten. Ihre Betten und Kleider sind sauber, ihre Verpflegung ist gut, ja ausgezeichnet. Ohnehin handelt es sich bei ihnen um ausgesuchte kräftige Männer. Doch sie sind seelisch krank. Das schreckliche Wissen, dass hier ihre Geschwister, Frauen, Kinder, ihre alten Eltern, ihr ganzes Volk zugrunde gehen, die Tatsache, dass sie selbst die Leichen zu Tausenden vor die Öfen schleifen und hineinschieben, führen zu schweren Depressionen und Melancholie.“225

Miklós Nyiszli selbst ist das interessanteste Beispiel dafür. Kraft seiner Funktion als Josef Mengeles Assistent war er sogar im Vergleich zum Sonderkommando eine privilegierte Figur (nicht nur ein eigenes Bett, sondern sogar ein eigenes Zimmer usw.). Bruno Bettelheim, der US-amerikanische Psychoanalytiker, hat in seinem Vorwort zu Nyiszlis Buch versucht, dem kollaborativen Verhalten Nyiszlis das Verhalten des Psychotherapeuten Viktor Frankl gegenüberzustellen, der die SS bei ihren Studien nicht unterstützt hatte. Dies ist richtig – wie auch richtig ist, dass Frankl die Kollaboration gar nicht ablehnte, vielmehr wurde sie ihm einfach nicht angeboten. Bettelheim interessiert sich indes weniger für Nyiszli als für das Kollektivverhalten der Juden: Warum führten sie ihre Arbeit trotz allem ganz normal fort („business as usual“)? Warum gingen sie wie die Lämmer still und demütig in die Krematorien, warum unternahmen sie nichts? Als Beispiel für ein „richtiges Verhalten“ führt er die rechtzeitige Emigration an. Doch dadurch rechtfertigt er im Grunde die Henker. Er stellt sich nicht einmal die Frage, warum denn Menschen, die seit Jahrhunderten etwa in Wien oder Berlin lebten und dort tief verwurzelt waren, alles hätten hinschmeißen und wegfahren sollen.

Einige wurden zweifelsohne einfach verrückt, andere aber – durch den Überlebensinstinkt getrieben – wurden apathisch und gefühllos, gewissermaßen zu Robotern: Arbeitsmechanismen ohne Seele und Emotionen, was ihrer Diszipliniertheit und „Bereitschaft zu allem“ übrigens nicht im Weg stand. Auf die Frage, was er fühlte, wenn er die Todesschreie erstickender Menschen hinter der Tür der Gaskammer hörte, antwortete Leon Cohen:

„Ich muss Ihnen etwas Schreckliches sagen. Aber es ist wahr: Wir waren damals wie Roboter. Wir konnten uns überhaupt nicht der Gewalt der Gefühle, die sich bei unserer Arbeit einstellten, aussetzen. Ein Mensch kann diese Gefühle, die ein integraler Bestandteil unserer Arbeit waren, eigentlich nicht ertragen. In dem Augenblick, in dem wir diese Gefühle verdrängten und so fühlten wie ‚normale Menschen‘, betrachteten wir alle diese Handlung als ‚Arbeit‘, die wir nach den Anweisungen der Deutschen ausführen mussten. So sah das aus. Wir dachten nicht an das Schreckliche der Arbeit und hatten keinerlei Emotionen. Wir hatten eigentlich gar keine Gefühle mehr. Wir hatten die Gefühle noch in ihren Anfängen erstickt.“226

Yakov Gabai bestätigt Cohens Aussage:

„Anfangs schmerzte es sehr, dies alles mitansehen zu müssen. Ich konnte nicht begreifen, was meine Augen sahen, dass von einem Menschen nur ein halbes Kilogramm Asche übrigbleibt. Oft grübelten wir, aber was hätte dabei schon herauskommen können? Hatten wir denn die Wahl? Flucht war nicht möglich, man kannte die Sprache nicht. Ich arbeitete und wusste, dass dort meine Eltern umgekommen waren. Es gibt nichts schlimmeres. Nach zwei, drei Wochen hatte ich mich daran gewöhnt. Manchmal, nachts, wenn man sich ausruhte, legte ich die Hand auf einen Körper, und das störte mich nicht mehr. Wir arbeiteten dort wie Roboter. Ich musste stark bleiben, um überleben und alles erzählen zu können, was in dieser Hölle geschah. Die Realität beweist, dass der Mensch grausamer ist als Tiere. Ja, wir waren Tiere. Kein Gefühl. Manchmal zweifelten wir daran, ob wir wirklich Menschen geblieben waren. […] Ich sagte ja schon, dort waren wir nicht nur Roboter, sondern wurden auch zu Tieren: Wir dachten an nichts. Nur an eines dachten wir – an Flucht und ans Überleben.“227

War denn wirklich in keinem von ihnen etwas Menschliches mehr geblieben? Gab es unter ihnen noch normale Menschen, die nicht zu Tieren geworden waren? Ja, sie gab es. Wahrscheinlich träumten sie alle von Rache, einige von ihnen dachten jedoch ernsthaft über Widerstand und Revolte nach. Derart ernsthaft, dass diese Revolte einmal tatsächlich stattfand. Es war wohl der Aufstand und alles, was mit dessen Vorbereitung verbunden war, der die entscheidende Rolle auf dem Weg der Rückkehr vieler Mitglieder des Birkenauer Sonderkommandos zu mentaler und seelischer Normalität spielte. Den Beweis ihrer menschlichen Natur zu erbringen – dies mussten sie teuer erkaufen. Den Beweis erbracht haben sie aber. Und zwar nicht nur – oder besser gesagt nicht so sehr – durch den Aufstand selbst, nicht nur dadurch, dass sie es in den wenigen Stunden ihrer letzten Freiheit geschafft haben, eine der vier Todesfabriken in dem Lager zu zerstören und außer Betrieb zu setzen.

Ihre menschliche Natur bewiesen sie vor allem dadurch, dass einige von ihnen – wenn auch nicht viele – von der Berufung ergriffen waren, die letzten Zeugen – und vielleicht auch die ersten Chronisten – der letzten Minuten im Leben vieler Hunderttausender Glaubensgenossen zu werden. Das Bewusstsein dessen gab ihnen moralische Kraft, sodass solche Menschen wie Gradowski, Lewental oder Langfuß entweder nicht in Apathie verfielen oder lernten, die Apathie zu überwinden. Sie haben ihre Zeugnisse hinterlassen: authentische und eigenhändige Schriften mit Beschreibungen des Lagers und all dessen, was sie hier tun mussten – diese Kerndokumente des Holocaust (sie bewahrten auch die Zeugnisse Dritter wie etwa das Manuskript über das Ghetto Litzmannstadt).

Von unschätzbarem Wert sind auch Dutzende anderer Zeugnisse jener Mitglieder des Sonderkommandos, die wie durch ein Wunder überlebten – ganz gleich, in welcher Form sie abgelegt wurden: ob als Aussage vor Gericht oder während der Ermittlungen von Naziverbrechen, ob in Form eines Interviews228 oder in Buchform (wie bei Nyiszli, Müller oder Nadjari).

„Wir machten die schwarze Arbeit des Holocaust“ – so hatte es Yakov Gabai229 für alle anderen auf den Punkt gebracht.

Briefe aus der Hölle

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