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Kapitel 2

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Wie ich im Walde so einsam gewesen

Lange lief ich, so lange, bis die Erschöpfung mich notgedrungen rasten ließ, und sackte an einen Baum darnieder. Als ich mich endlich umsah und zu orientieren suchte, merkte ich schnell, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich mich befand. Tief im Wald war ich, so tief, dass weder Bauwerk, fahrbarer Weg noch das Blau des Sees zwischen dem Blätterwerk der Bäume erkennbar war. Alleine war ich, fühlte ich mich, und ich glaubte, auch alleine sein zu wollen. Ich haderte, wie hätte ich auch nicht, mit Welt und Mensch. Ja, ich sag es freiweg: Ich haderte mit Gott. “Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verlässt und hält Fleisch für seinen Arm, und mit seinem Herzen vom Herrn weicht”, heißt es in der Heiligen Schrift. Doch was ist mit dem, der sich verlässt, aber verlassen wird vom Menschen? Ist jener auch verflucht? Gibt es kein Recht zu hadern, zu zweifeln? Nein, wäre Vaters Antwort gewesen, dessen bin ich mir gewiss, ob bis zuletzt, das weiß ich nicht.

An einem umgefallenen Baum begann ich mein Lager zu errichten, baute mit reichlich Ästen ein schräges Dach, dessen Stützbalken der Stamm war, ähnlich, wie wir es als Soldaten später praktizierten. Und dort blieb ich. Wie lange, magst du fragen, doch nur schätzen kann ich zur Antwort. Einige Wochen waren es bestimmt, Monate vielleicht. Müßig war ich freilich nicht. Täglich zimmerte ich an meinem Lager, sammelte Lianen, um die Äste besser zu binden, Nadelbaumzweige, um das Dach zu dichten, bearbeitete den Stamm, grub den Boden tief und flach, sammelte trockene Blätter, um ein gemütliches Bett zu haben. Die Feuerstelle hatte ich günstig bei den hoch aufragenden Wurzeln des Baums, die gleichzeitig eine Wand meiner Behausung darstellten, eingelassen und mit Steinen und Erde so geschickt umbaut, dass der Rauch kaum ins Innere drang, die Wärme jedoch schon. Stolz war ich auf meinen kleinen Bau, und so niemand mutwillig das Erbaute zerstört hat, mag es heute noch stehen und wohnbar sein.

Tagsüber streifte ich umher und sammelte alles, was mir essbar oder nutzbar schien. Sammelte Nüsse, Eicheln, Pilze und Beeren, Schnecken und Vogeleier. So viele Zunderschwämme nannte ich mein Eigen, dass es mir lebtags zum Feuermachen gereicht. Ein Bächlein nicht weit weg versorgte mich mit frischem Wasser und dem ein oder anderen Krebs.

Am schlimmsten damals waren die Nächte, vor allem zu Beginn. Ich kauerte mich in den hintersten Winkel meiner spärlichen Behausung, die anfänglich einer Tür ermangelte, starrte in die tiefe Dunkelheit des Waldes, hörte allerlei Geräusche und vermeinte allerlei seltsame Schatten und Bewegungen zu sehen. Schreckliche Angst plagte mich, vor Wölfen, vor Bären oder Menschen, am meisten aber vor Geistern und Gespenstern und dergleichen, ließ mich kaum schlafen und viel zittern. Jeden Abend machte ich ein Feuer in der Feuerstelle, das die tiefste Dunkelheit vertrieb, doch schreckte mich dann des Nachts ein Geräusch oder schlechter Traum aus dem Schlaf, war das Feuer meist erloschen und um mich herum so dunkel, dass ich nicht wusste, ob ich die Augen offen oder geschlossen hatte. Oft weinte ich in meiner Schlafkuhle, weinte aus Angst und Kummer, barg mein Gesicht unter der Dunkelheit der Decke, um der Dunkelheit um mich herum zu entgehen. Der Ausbau meines Unterschlupfs machte es ein wenig besser, hatte ich mir schließlich ein dichtes Dach und eine aufklappbare Tür aus Ästen und Lehm gezimmert. Die Geräusche konnten sie freilich nicht fernhalten. Doch der Mensch kann sich an mancherlei Ungemach gewöhnen, und Stück für Stück gewöhnte ich mich an den Wald, an seine Geräusche und seine Dunkelheit.

So verbrachte ich Tag um Tag und Nacht um Nacht in völliger Einsamkeit, begann zu stinken und zu verwildern, aber auch zu vergessen und zu genesen. Hart war es ungefragt und ein knurrender Bauch mein steter Begleiter, doch gab ich mir so viel zu tun, dass mir unentwegt Arbeit verblieb, mich abzulenken, nicht an Vergangenes zu denken. Schlimmste Plage waren die vermaledeiten Läuse, sollten sie ein trefflicher Vorgeschmack auf die harten Kriegstage sein, mag eine ganze Heerschar in meiner Kleidung Unterschlupf gefunden haben, stachen und traktierten mich diese, dass ich ganz toll und wild wurde, mich ganztags lauste und kratzte. Ich versuchte sie zu versaufen am kleinen Bächlein, spritzte mich von oben bis unten nass und schrubbte mich mit Blättern und Ästen und tauchte meine Sachen unter Wasser, doch dauerte es keine drei Tage, plagten sie mich von Neuem. Doch wie mein Körper litt, er verschmutzte und verwilderte, reinigte sich meine Seele, reduzierte sich der Kummer auf ertragbares Maß.

Das milde Wetter des Frühlings, das stetig zunahm, machte vieles leichter, erhöhte den Ertrag meiner Streifzüge und ließ mich manche Zeit gar genießen. Ich weiß noch, wie ich mich freute, fand ich einen besonders dicken Schwamm, erspähte einen Beeren- oder Haselnussstrauch, am meisten aber, fand ich ein Vogelnest samt Eiern. Doch gleichsam meine Ernte zunahm, nahm mein Lager an Notwendigem ab. Pökelfleisch und Butter hatte ich bald durchgebracht, der Speck und das Mehl hielten wenig länger. Als mein Salzstein nur noch die Größe eines Kiesels hatte, wusste ich, dass ich meinen Status als Eremit nicht auf ewig wahren konnte.

Deswegen beschloss ich schließlich, herauszufinden, wo genau ich mich befand und welche Orte in der Nähe lagen. Ich packte einige Zunderschwämme und die Kreuzer, die der alte Amann mir gegeben, zum Handeln ein und brach auf. Schnurgerade versuchte ich, in eine Richtung zu gehen, behielt den Berg in meinem Rücken und lief hangabwärts in flacheres Land. Geraume Zeit dauerte es, eine Stunde vielleicht, bis endlich sich die Bäume lichteten und bald darauf ich einen Fluss erreichte, durch dessen Schneise der Blick in die Ferne möglich wurde. Ich erklomm einen zum Flusse geneigten Baum und spähte flussaufwärts, wo ich deutlich den Hohentwiel, gekrönt von jener größten Burg unserer prächtigen Hegauer Festen, erkannte, dann flussabwärts, wo ich, wenn auch undeutlich, das Blau des Bodensees schimmern sah. Zu Recht, wie später gewiss wurde, vermutete ich, mich an der Aach zu befinden, einem kleinen Fluss durch unser Land, an dessen Mündung ich des Öfteren schon meine Netze ausgeworfen. Flussabwärts also ging es zu meiner alten Welt, zu Klara und dem Heim, das nicht mehr meines war, und zu jenen, die mich fortgeschickt. So schlug ich die entgegengesetzte Richtung ein. Folgte dem Verlauf so lange, bis die ersten bebauten Felder sichtbar wurden und die Häuser eines Dorfes sich abzeichneten.

Ein kleines Dorf war’s, kaum größer als Horn, welches mich verstoßen, doch ragte in dessen Mitte ein stattlicher Bau gen Himmel, der unzweifelhaft ein Schloss sein musste. Daher mit Sicherheit ein Markt und einige Läden ebenfalls zu finden seien, ich also gefunden, was ich suchte, und doch schlich ich entlang des Waldrandes gleich einem scheuen Reh und traute mich kaum, den Schutz der Bäume zu verlassen. Seltsam war jenes Gefühl, lieber Leser, wenn ich heute darüber nachdenke, denn in summa war es keine Ewigkeit, die ich im Wald verbracht, und doch hatte ich die Einsamkeit so verinnerlicht, dem Zivilen so entsagt, dass ich nun wie ein Narr hinter einem Baum versteckt das Dorf anstarrte und mich nicht überwinden konnte, weiterzugehen. Zwei Tage schlich ich ums Örtchen, wie der Wolf ums Aas, und schlich doch immer unverrichteter Dinge wieder in mein Heim zurück.

Erst am dritten Tage konnte ich mich schließlich durchringen und das Örtchen betreten, und schwerlich lässt sich beschreiben, wie seltsam und fremd mir alles vorkam. Ängstlich sah ich zu allen Seiten, empfand Furcht, als bestünde die Gefahr, ertappt zu werden, als habe ich mir etwas zu Schulden kommen lassen und würde im nächsten Moment gefasst. Die Ansässigen musterten mich zudem mit schrägem Blick, was mich desto mehr verunsicherte, aber freilich vielmehr an meinem mitgenommenen Äußeren gelegen haben mag. Mein Haar war inzwischen lang und schmutzig und zerzaust, stand regelrecht zu Berge; mein Antlitz, auch wenn ich es regelmäßig im Bächlein wusch, sah sicherlich nicht arg besser aus, und meine Kleidung, von all der Pirsch durch Wald und Geäst, war verschlissen und zerlumpt. Schüchtern frug ich eine Dame, wo denn der Markt zu finden sei, die mir alsbald den Weg wies. Eine Brücke machte die Aach passierbar, und der Weg dahinter verlief hangaufwärts, genau zwischen Schloss zur rechten und Kirche zur linken Seite. Der Markt war auf einem Platz vor der Kirche. Ein kleiner Markt, kaum zehn Stände wird er gehabt haben, obwohl die Sonne noch nicht zu Mittag stand, zur besten Zeit also.

Ich verkaufte meine Schwämme weit unter Wert, da ich mich kaum aufs Feilschen einließ. Im gleichen Sinne zu viel zahlte ich für die Sachen, die mir nötig schienen, für Zwiebeln und Korn und Speck. Ich kaufte Salz beim Salzmann und eine gute Decke beim Weber. Zuletzt besuchte ich den Bäcker, kaufte mir ein frisches Brot zum Verzehr und einiges an Schwarzbrot. Erst als ich das Dorf verlassen und meine so vertraut gewordenen Bäume wieder um mich hatte, entspannte ich.

Von da an besuchte ich den Ort, der den Namen Bohlingen trug, in regelmäßigen Abständen, und doch stets nur, wenn es um meinen Vorrat bedenklich stand. Ums Geld war es freilich knapp bestellt, und auch wenn meine Zunderschwämme etwas beitrugen, musste ich schwer kalkulieren. Dennoch kam ich, wenn ich mein damaliges Alter bedenke, gut zurecht; hatte mir alsbald die Aach als neues Fanggebiet für Krebse und manche Forelle erschlossen, verbrachte die schönen Sommertage mit unermüdlichem Sammeln, unbehelligt von der Menschenwelt, die ich mied wie der Teufel das Weihwasser.

So verging die Zeit, vergingen weitere Wochen und Monate, bis nach und nach die Blätter sich färbten, die Temperaturen sanken, der Sommer vorüber ging. Mit den Temperaturen fielen meine Erträge, fand ich immer weniger Eier, hatte viele Nuss- und Beerensträucher abgeerntet. Der Winter stand vor der Tür und drohte mir wie das Jüngste Gericht dem Sünder, denn wie er zu überstehen sei, konnte ich mir nicht denken. “Im Sommer wird gsparet, im Winter wird gharret”, wie es bei uns heißt, und ich sparte, was ich konnte. Alles, auf das ich verzichten konnte, was nicht der Hunger sofort in meinen Mund trug, lagerte ich. Vergrub Nüsse, wie es die Eichhörnchen machen, sammelte Brennholz zu großen Haufen, sparte an Mehl und Korn. Doch wurde es immer kälter und damit immer schwieriger.

Wie herrlich muss es sein, in jenen Ländern zu leben, die keinen Winter kennen, wo nie der Schnee die Erde weiß färbt, wo ewiger Sommer ist und ganzjahrs geerntet werden kann. Auch heute noch stelle ich mir solch Leben paradiesisch vor und wunder mich, dass der Mensch nicht nur an solchen Orten lebt.

Damals träumte ich oft von Amerika, dieser fernen neuen Welt mit ihren herrlichen Ländern, voll unbekanntem Getier und exotischen Früchten. Dort zu leben, an den Ufern des Ozeans, in Landen, wo es niemals kalt wird, gegen Heiden zu kämpfen und Gold und Edelsteine zu erbeuten, ersann mein Bubengeist in den buntesten Bildern samt den abenteuerlichsten Geschichten. Doch die Realität ist nun mal kein Traum und Amerika so weit weg wie für mich der Himmel heute.

Als schließlich der Winter kam und der erste Schnee seinen Einstand gab, kam er plötzlich und hart, ähnlich wie das Jahr zuvor. Mein spärlicher Vorrat würde hinten und vorn nicht reichen, war mir schnell klar, und wenn dieser Winter den Verlauf des letzten nähme, wär mein Erdendasein baldigst vorüber. In meiner Not tat ich, was der Verzweifelte meist tut; er stiehlt, er klaut, er handelt. So begann ich damit, auf den Feldern nach allem Ausschau zu halten, was noch nicht geerntet worden. Eine kleine Rübe, kaum die Größe eines Apfels, war meine erste Beute und das Erste, was ich je gestohlen habe. Ich sehe sie heute noch vor mir. Seltsam, woran der Geist sich erinnert! Bei diesem Diebstahl blieb es freilich nicht. Die meiste Feldfrucht war lange abgeerntet, weswegen ich mich schnell an Riskanteres wagte, Scheunen und Schöpfe durchsuchte und letztlich die Höfe selber zu meinem Jagdrevier erklärte. Mein anfänglich schlechtes Gewissen und meine Vorsicht wichen bald einem wilden Jagdtrieb, gefüttert durch Hunger und Verzweiflung. Hatte ich mich vormals noch gefreut, wenn ich ein schönes Vogelnest entdeckte oder ein schöner Fisch meine Beute wurde, bestand mein Glück nunmehr darin, einen Sack mit Korn aus einem Schopf, Dörrfleisch und Wurst aus einem Rauchfang oder gar ein frisches Brot aus einer Küche oder Backstube zu ergattern. Durchaus gefährlich war, was ich so trieb, und mehr als einmal musste ich Reißaus nehmen. Und sehr wohl wusste ich, dass im Minimum die Peitsche mich erwartete, so sie mich erschnappten, weshalb ich mit Geschick agieren musste.

Der Galgenberg – wie man den Hügel nördlich von Bohlingen nannte – war stete Warnung an das Schicksal, welches solche Schelme wie mich erwartete, sah man die Stricke und die Körper, die an der großen Eiche zuoberst des Hügels am Galgenbaum baumelten, aus weiter Ferne. Eine Mahnung an jeden und insbesondere an mich, doch was hatte ich schon Wahl? Selbst nächtens begann ich bald auf die Pirsch zu gehen, wenn tiefe Dunkelheit mich umhüllte, allerdings nur, wenn der Mond gut schien. Mit bedecktem Himmel bestand Gefahr, nicht zurück in mein Heim zu finden, machte mir zudem die gänzliche Dunkelheit immer noch Angst, ist sie doch das Reich von Geistern und Schlimmerem. So schlich ich im Mondesschein von Hof zu Hof und stibitzte, was ich konnte, war mir keine Gefahr zuwider, spähte durch offene Fenster, kletterte durch lose Dielen in Scheunen und Schöpfe, und mancher, der mich vorbeihuschen sah, mag mich selber gar für ein Gespenst gehalten haben.

Die verdammten Köter waren die häufigste Schwierigkeit, wenn sie zu bellen anfingen, oder schlimmer, wenn sie mir nachjagten oder mir nachgejagt wurden. Einen guten Knüppel hatte ich mir alsbald geschnitzt und musste ihn das ein oder andere Mal gegen solcherlei Widersacher schwingen. Noch heute zeugt eine Narbe an meiner linken Wade von einem besonders halsstarrigen Sauhund, dem ich den Kopf blutig hauen musste, ehe er mich freigegeben.

Ins Dorf traute ich mich seit Beginn meiner neuen Geschäfte nicht mehr, hätten mich doch einige der beraubten Bauern erkennen mögen. Ohnehin war mir kaum etwas geblieben, mit dem zu handeln sich rentiert hätte. Gott allein weiß, wie lange ich so durchgehalten, wäre ich denn früher oder später bestimmt erwischt worden, hätten mich ansonsten Krankheit, Hunger oder Kälte dahingerafft. Doch der Herrgott geruhte andere Pläne mit mir zu haben, und gedankt sei es ihm an dieser Stelle!

Und so geschah, als ich eines Tages von einem meiner täglichen Streifzüge zurück kam und in meinem Heim das Wenige deponierte, was ich gefunden oder ergaunert hatte, dass von draußen eine Stimme ertönte: He, Bursche, komm da raus! Ich fuhr mächtig zusammen und gedachte freilich sogleich, es müsse einer jener Bauern sein, die ich so unredlich erleichtert. Türmen war mein erster Instinkt, doch hatte mein Häuslein nur einen Zu- und Ausgang, dass die Flucht sich schwierig gestalten würde. Still verharrte ich weswegen in meinem Bau, in der törichten Hoffnung, der Schrecken möge einfach vorüberziehen. Nu komm schon raus! Wir wissen, dass du da drinnen bist, rief es dann von draußen, und das “wir” sagte mir, es müsse mehr als einer sein. Als ich endlich meine aus Ästen geflochtene Türe aufschlug, um ins Freie zu treten, fand ich mich gleich einer ganzen Truppe von Männern gegenüber. Dass diese Gestalten kaum den Bauern zuzuordnen waren, ließ schon der flüchtige Blick erkennen, denn obzwar ihre Kleidung an Qualität augenscheinlich ermangelte, mit ihren fadenscheinigen Stoffen, ausgeblichenen bunten Farben und übersät von Flicknähten, waren diese Galgenvögel drapiert und ausstaffiert wie die ärmsten Edelmänner, trugen weite faltige Pluderhosen, verzierte rüschige Hemden mit breiten, gestärkten Kragen, ferner glitzernden Schmuck, wie silberne Ringe und silberne Ketten, dazu lange Mäntel und Umhänge. All mein Leben lang galt augenscheinliche Regel, dass sich der Bauer wie ein Bauer kleidet mit seiner Schnürhose, Hemd und schlichter Haube, der Zünftler wie ein Zünftler mit Wollmantel, Lederhose und Filzhut und der Bürger wie ein Bürger mit Wams, Kragen und Pluderhose, ein jeder also aussieht wie seinem Stande entsprechend. Doch diese Schelme nun sahen aus, als hätten sie dem Gutdünken nach in jedes Standes Kleiderkiste hinein gegriffen und sich derart Erschnapptes unbesehen übergezogen, so wie es sich gerade ergeben, dass meine Bubenaugen erst nicht recht wussten, ob sie für Edle, Gaukler oder Hausierer zu halten. Zudem waren sie bis auf die Zähne bewaffnet, trugen Messer, Keulen und Flegel, ferner Äxte, Spieße und Schwerter, hatten drei von ihnen gar eine Muskete geschultert. Der Anführer, welcher gleich als solcher erkennbar war, durch seinen schönen Rock und bunte Pluderhose, gekrönt durch einen prächtigen breitkrempigen Hut samt roter Feder, kam mit einem Lächeln im Gesicht mir entgegen und sprach: Was haben wir denn da für ein Bürschchen in meinem Wald? Ich gab das Erste zurück, was mir in den Sinn kam und antwortete: Aber das hier ist doch mein Wald. Er quittierte es mit einem Lachen. Wenn du dich da mal nicht täuschst, mein Junge, sagte er dann und schickte zwei von ihnen meine Behausung zu durchsuchen. Diese schmissen alles nach draußen, was ihnen wertlos erschien, und steckten anstandslos ein, was ihnen nützlich, nahmen mein Feuerzeug, die guten Messer, meinen Topf und viel an Vorrat. Das sei alles meines, protestierte ich verzweifelt, worauf mich ein finsterer Geselle kräftig am Nacken packte. Pass bloß auf, Bursche, sonst setzt’s was! Ich sah ihn an und blieb still, denn reine Bosheit blitzte in seinen Augen.

Als die Plünderung beendet war, hatten sie mir fast alles genommen. Mager sei die Ausbeute gewesen, resümierten sie, was mir die Zornesröte ins Gesicht trieb. Vielleicht sei aus dem Burschen ja noch etwas rauszukitzeln, schlug der Finstere vor. Was willst aus dem Bürschlein denn kitzeln?, meinte der Anführer darauf verächtlich. Schau ihn dir doch an! Sie schickten sich an zu gehen, da jammerte ich, dass ohne jenes, was sie mir genommen, ich den Winter niemals überstehen würde, ob sie mir denn nicht wenigstens einen Teil des Vorrats und zumindest das Feuerzeug überlassen könnten. Worauf der Finstere eine Klinge zog, die er am Gürtel hatte, und sagte: Der Bursche hat recht! Der übersteht’s doch keinen Monat mehr! Ich zauber ihm ein rotes Grinsen an den Hals, dann hat er’s wenigstens hinter sich. Ich starrte ihm ins schräge Gesicht, in dem nichts gerade, nichts symmetrisch war, mit dem schiefen Kiefer, der krummen Nase, dem einen Auge höher als dem anderen, und in keinem von beiden konnte ich Mitleid sehen, nur Grausamkeit. Er machte sich daran, Gesagtem zu entsprechen, da schritt ein anderer ein und packte ihn am Arm. Lass bloß den Bub in Ruhe, Amon!, sprach dieser streng, und ich staunte über seinen Mut, denn schien er mir nur einige Jahre älter zu sein als ich, wenngleich schon von erwachsenem Wuchs und von eindrucksvoller Statur. Kurze Zeit blitzte es zwischen den beiden, und ich dachte, gleich gehen sie sich an die Gurgel, als der Anführer brüllte, mit dem Unsinn sei sofort Schluss zu sein. Dem Burschen passiert nix, und damit basta!, bestimmte er, worauf die zwei von sich abließen. Warum nehmen wir ihn nicht mit?, schlug dann der Stämmige vor. Ham genug Mäuler zu stopfen, widersprach der Finstre. Was willst noch mit ’nem Bub? Ich hätte doch ein redliches Lager aufgebaut und offensichtlich einige Zeit im Walde überlebt, argumentierte der Breite, vielleicht sei ich von Nutzen. Dies versetzte den Anführer ins Grübeln, worauf er sich vor mir aufbaute und mir in die Augen sah. Was kannst denn, Bursche? Kannst schießen oder jagen? Ich verneinte, nur fischen könne ich. Mit Fischen ist’s im Wald meist Essig, was kannst denn sonst? Ich überlegte, und da mir nichts Besseres einfiel, sagte ich, dass ich wohl Schreiben könne und auch Lesen. Da guckten sie verdutzt. Woher ein Lümmel wie ich denn derlei vermöge?, fragten sie, das glaubten sie nicht. Doch, doch, versicherte ich, es sei die Wahrheit. Der Anführer zückte eine metallene Dose, schraubte diese auf und holte ein Papier hervor. Was denn dort stehe, verlangte er zu wissen. Ich nahm das Papier und begann zu lesen:

Steckbrief; der hierunter signalisierte Lutz Wagner, ehemals Feldweibel der protestantischen Union, hat sich mit seinem Gefolge der folgenden Verbrechen schuldig gemacht:

Welch Schändlichkeiten hier aufgezählt und aufgelistet wurden, mag auf keine Kuhhaut passen, kann sich der hartgesottenste Leser wohl kaum imaginieren, ließ es mir selbst ordentlichen Schauer über den Rücken fahren, zumal derartige Scheußlichkeiten meiner reinen Bubenseele noch gänzlich unbekannt waren. Es reichte jedenfalls von Brandschatzung, Raub und Diebstahl zu Schändung, Folter und Mord bis hin zu Entweihung heiliger Stätten und Orte, was alles mit Namen und Ortschaft fein säuberlich dokumentiert war. Und noch während ich diese Schurkenstreiche vorlas, begann unter jenen Kerlen ein schallendes Gelächter und Gegröle, schienen sie sich keineswegs zu schämen und zu grämen ob jener Taten oder diese zu leugnen, sondern im Gegenteil jubilierten und applaudierten sie sich zu und gratulierten sich aufs Trefflichste. Potz Blitz, stimmt, die stramme Dirne hat ich ganz vergessen, der wurd es fürstlich besorgt!, sagte dann der eine, oder: Potz Teufel, der Bastard hat gut gelitten!, ein anderer. Und derart so einiges mehr, dass mir schnell klar war, von welcher Art die Gesellen waren, die hier vor mir standen. Weiter las ich:

Personal-Beschreibung: Alter: 29 Jahre, Größe: etwa 6 Fuß, 10 Zoll, Haar: dunkles Braun, Stirn: flach gewölbt, Brauen: schwarz, Nase: markant und groß, Augen: blau, Gesicht: oval, Mund: fein, Bart: schwarz, Farbe: frisch, Statur: schlank, doch kräftig, besondere Kennzeichen: Narbe auf der linken Backe bis zum Ohr. Auffällig schönes Antlitz.

Eben jenes trefflich signalisierte Antlitz schaute mir mit breitem Grinsen entgegen, hätte kaum die Narbe zur Erkennung gebraucht. Auffällig schönes Antlitz?, wiederholte einer der Männer mit Spott. Nu weiß ich, dass es ein anderer Lutz Wagner sein muss. Was mit weiterem Lachen quittiert wurde.

Ich beendete meine Lesung mit dem Kopfesgeld von fünfzig Gulden, das demjenigen zum Preise ausgeschrieben wurde, der Obgemeldeten bei den pfälzischen Behörden abliefere. Oha, sprach dazu einer. Die fünfzig Gulden sind mir schon gewiss. Worauf ihn der Beschriebene ansah, zwar noch mit lächelnden Lippen, allein mit strengen Augen, und vermeinte, dass der Versuch selbstredend jedem frei stehe. Wieder wurde gelacht, ein anderes Lachen aber als noch zuvor. Den Räuberhauptmann jedenfalls überzeugte meine Vorführung, und er beschloss, meiner sei mitzunehmen. Ob ich nun wollte oder nicht, war keine Option, die mir gegeben wurde, und so fand ich mich kurz darauf im Gänsemarsch hinter diesen so finsteren Gesellen durch den Wald stapfen, und wehmütig sah ich noch mal zurück zu meinem kleinen Unterschlupf, den ich so mühsam mir erschaffen, und verabschiedete mich von diesem Teil meines Lebens. Nicht dass mir der Abschied sonderlich schwergefallen wäre.

Dies war das erste Mal von dreien, dass die Kunst des Lesens und Schreibens meinen Werdegang entscheidend lenkte und alle Male zum Besseren, will ich meinen, denn auch wenn die Gesellschaft, welcher ich mich hier anschloss, nicht die freundlichste mir dünkte, stand es besser um mich, als wenn ich alleine den Winter zu überstehen gehabt. So begann also meine Karriere als Räubersmann im Winter anno 1613.

Rosenegg

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