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Kapitel 6

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Vom Abschied aus meiner Hegauer Heimat

Die gute Stimmung in unserer Bande herrschte die nächsten Wochen weiter fort, schien entgegen mancher Erwartung kaum Jagd auf uns gemacht zu werden und wurden keinerlei Truppen von Schergen gesichtet, welche die Wälder durchkämmten, uns zu finden. Der Wagner sandte etliche aus sich umzuhören, was von unserer Sache berichtet wurde, Bastian unter ihnen, die bei Bekannten und Familie nachzufragen hätten, welche Geschichten dazu kursierten. Und zahlreiche Zeitung gab es freilich, war unser Überfall allerorten großes Gespräch. Die wildesten Spekulationen hörte man, wer den Überfall denn unternommen und wer angeordnet haben könnte, glaubten viele die Württemberger des Hohentwiels dahinter, als einzige Protestanten in den hegauer Landen, andere wiederum vermeinten, eine Bande von Eidgenossen wäre es bestimmt gewesen, in jedem Falle, so waren sich die meisten bald einig, seien es Protestanten oder Reformierte gewesen, welche die guten Katholiken des Roseneggs so schändlich gemetzelt. Nur die Wenigsten glaubten, es sei eine gewöhnliche Räuberbande gewesen, und nur die Allerwenigsten sahen die Wagner’sche Bande im Spiel, hatte uns doch die Politik des Wagner einen zureichend guten Ruf beschert. Zumal es den meisten ganz und gar unmöglich erschien, dass Räuber es wagten oder gar schafften, eine Festung einzunehmen, was uns alles sehr zugute kam. Zu jener Zeit hörten wir auch von jener Historie, welche die Runde machte, dass ein Stallknecht des Roseneggs Kreuz und Bein schwöre, den Geist des jungen Grafen gesehen zu haben, nur tags nach dem Überfall. Dieser habe sich seinen liebsten Gaul aus den Stallungen genommen, ihn dabei wortlos angesehen und sich mitsamt dem Tiere vom Acker gemacht, war verschwunden und danach von keinem mehr gesehen. Ja, seltsam ist es, hatte ich diese Geschichte damals alsbald wieder vergessen, ermangelt es nach derlei Ereignissen doch nie an den abenteuerlichsten Geistergeschichten und Ammenmärchen, und erst viel später, als sich unser Totgeglaubter schon längst wieder gezeigt, entsann ich mich daran. Damals jedenfalls habe ich ihr keine Bedeutung geschenkt, haben wir alle sie für Mär gehalten, schien doch sicher und gewiss, so der junge Graf noch am Leben, er sich gezeigt haben würde. Es wurde gehört und vergessen, brachte keinen auch nur eine Sekunde um seinen Schlaf.

Nein, Zweifel und Sorgen schienen unter meinen Kameraden kaum vorhanden, e contrario weiß ich noch, wie fröhlich man sich gegenseitig zu dieser oder jener Tat beglückwünschte, wie der eine prahlte, wie er eine der Wachen niedergestreckt, oder der andere prahlte, wie knapp er dem Tode entronnen. Potztausend!, sagte dann einer, hast gesehen, wie ich den Wachtmeister gelegt!, und ein anderer: Beim Teufel, hab dir schön den Arsch gerettet, als ich dein Gegenteil gestreckt!, und dergestalt vieles mehr. Bastian hielt sich meist auffällig ruhig bei derlei Prahlerei, und als ich ihm einige Tage danach dankte, dass er den Vogt niedergehauen hatte in dem Palas, sagte er: Na ja, wärst du nicht auf ihn los, hätte er wohl mich erwischt, von daher sind wir quitt, und fügte noch hinzu: Weißt du, es war der Erste, den ich je getötet. Wir sprachen nicht wieder davon, doch ich glaube, auch ihm war das Bild des Toten geblieben.

So wogen wir uns jedenfalls in trügerischer Sicherheit, sahen dem Karfreitag entgegen, unsere Freunde auszulösen. Die Übergabe sollte auf einem offenen Feld nördlich des Ortes Gottmadingen stattfinden, an dem eine kleine Marienkapelle stand, zur vollen Mittagsstunde. Deutlich zeigte sich nun, wie auch dem Hauptmann die Sache ungeheuer war, dass er mein mulmiges Gefühl wohl teilte. Vorsichtig war er stets, doch dieses Mal insbesondere. Schon Tage vor dem eigentlichen Treffen ließ er uns die Gegend auskundschaften, und zwar gründlich und im weiten Kreis, prüfte alle Möglichkeiten eines Hinterhaltes, die Wege, welche sich zum Heranschleichen eigneten, Verstecke, die größere Mannesgruppen verbergen konnten ebenso wie die besten Wege zur Flucht. Gut hatte er den Ort gewählt, dachte ich mir damals, als ich diesen inspizierte, denn die ganze östliche Seite des Feldes war halbmondförmig von Wald umgeben, boten sich dadurch zahlreiche Fluchtmöglichkeiten, so die Lage brenzlig werden sollte. Zudem lag das Feld in einer Senke und der Wald ging vom Rande des Feldes aus in die Höhe, dass man trefflich vom Walde her das ganze Feld im Blick hatte. Wir suchten und merkten uns Bäume, auf die sich klettern ließ und die gute Sicht boten für unsere Späher, überlegten uns die besten Zu- und Abgangswege und woher die Kürassiere wohl kommen würden. Am Mittwoch vor Karfreitag bemerkten wir zum ersten Male einige gerüstete Reiter, die ebenfalls das Gebiet auszukundschaften schienen. Ich glaubte nicht, dass sie uns auch bemerkt hatten, zumal wir im Walde gut verborgen uns aufgehalten. Wir beobachteten sie, wie sie das Gebiet abritten und die Gegend kundschafteten, wie sie sich, gleich unsereins zuvor, genaues Bild der Landschaft machten. Als wir dem Wagner davon berichteten, forderte er genaueste Beschreibung, was er sich dabei gedachte, behielt er jedoch für sich.

Am Freitagmorgen brachen wir auf, noch bevor die Sonne vollends aufgegangen. Fast die ganze Mannschaft war dabei, nur eine Handvoll blieb im Hort zurück. Der Hauptmann und vier weitere zu Pferd ritten ohne uns anderen zum Übergabeort. Falls man Wachen aufgestellt habe, sollten diese glauben, es nur mit dem Hauptmann und seinen wenigen Begleitern zu tun zu haben. Gut sichtbar sollten diese auf dem Feld warten und die Übergabe tätigen, derweil wir anderen uns von der gegenübrigen Seite, durch den Wald verborgen, nähern sollten und versteckt Stellung beziehen, um, falls etwas schiefging, den Rückzug zu sichern. Wie unsere Horde so durch den Wald streifte, über fünfzig Mann in langer Kolonne, aufs Prächtigste bewaffnet mit den ganzen Musketen und Piken und Degen, die wir erbeutet hatten, gerüstet mit stählernen Hauben und manchem Brustpanzer, da dachte ich ernstlich, mit solch einer Armee könne uns so leicht keiner was. Schließlich hatten wir eine Burg eingenommen, hatten tapfer gekämpft, uns im Kampfe bewährt, und das ohne solch prächtige Bewaffnung, die wir nun trugen. Unbesiegbar gar glaubte ich diesen Trupp, gefeit vor jedem Feinde. Welch Tor war ich doch damals! Fünfzig Mann eine Armee! Sollte ich doch später mit fünfzigtausend marschieren und schneller, als mir lieb war, lernen, dass unbesiegbar freilich keiner ist, kein Tilly und kein Wallenstein, ja nicht mal ein Gustav Adolf.

Ich selber ging in leichter Montur, war als Späher eingeteilt und trug nur meine Armbrust und mein Messer bei mir. In breiter Front positionierten wir uns dann im Wald, die größte Gruppe, unsere Kampftruppe, wie wir sie hießen, über zwanzig Mann, zumeist mit schwerer Muskete bewaffnet, verbarg sich hinter einer natürlichen Schanze, nah am Waldrand und nah an der Stelle, wo die Übergabe geplant war, um schnell eingreifen zu können. Zwei weitere Gruppen zu je zehn Mannen flankierten diese süd- und nördlicherseits, die auserkorenen Späher, ich darunter, kletterten auf ihre Bäume, die im weiten Kreis drumherum standen. Mein Baum, eine gut besteigbare Buche, stand weit an der linken Flanke, bot dennoch beste Sicht auf das Feld.

Es war noch lange hin bis zum Mittag, und ich versuchte, es mir bequem zu machen, legte meine Armbrust quer auf die Brust und beobachtete. Gespannt war ich freilich, doch kein Vergleich zu unserem Abenteuer auf dem Rosenegg. Ich fühlte mich sicher, schien mir das gefährliche Gebiet weit weg, musste ich die Augen zusammenkneifen, um unsere fünf Reiter auseinanderzuhalten, als diese auf das Feld ritten. Sie überquerten das Feld links der Marienkapelle und ritten weiter bis zum Waldrand, saßen dann ab und führten ihre Gäule am Zügel, sicher gedeckt von unseren Mannen, die verborgen lauerten. Warten hieß es nun, und das tat ich, spähte durch die Landschaft und viel zu regelmäßig auf die Sonne, die so richtig sich nicht bewegen wollte. Ich weiß noch, dass ich zwei Bussarde sah, mag es vielleicht auch ein Falke und ein Bussard gewesen sein, in jedem Falle jagten sich diese durch die Lüfte, waren bald verschwunden hinter dem Gebäum, dass ich nicht sehen konnte, welchen Ausgang der Kampf genommen, und ich gedachte bei mir, was wohl der Egon davon halten möge.

Meine Augen wurden mir schwer, und ich glaube, ich wäre fast eingeschlafen, als plötzlich das Zwitschern einer Amsel ertönte. Zuvorderst war ich mir nicht sicher, ob es nicht tatsächlich ein Vogel gewesen sei, dann aber entdeckte ich die Reiterschar genau auf der von mir am weitesten entfernten Seite des Feldes. Viele schienen sie nicht, etwas über zwanzig Mann schätzte ich, unsere Kameraden eingeschlossen, die ich an ihren hinter dem Rücken gebundenen Armen erkannte. Sie kamen über den gleichen Weg, über den der Hauptmann und Begleiter gekommen waren, und stellten sich nun linkerseits der kleinen Kapelle den Unseren gegenüber. Alles sah gut aus, zumindest das Wenige, das ich erkennen konnte, hatten sich die beiden Parteien im sicheren Abstand aufgestellt und schienen beide Seiten nun auf eine Reaktion der anderen zu warten. Ich weiß noch, wie ich mit beiden Händen meine Augen abschirmte, war es ein sonniger und warmer Tag gewesen, damit ich besser sehen konnte. Gebannt beobachtete ich das Geschehen und weiß nicht, wann mir das erneute Amselzwitschern bewusst wurde. Ich denke, es ging schon eine kleine Weile, und erst nach und nach drang es in meinen Geist vor, realisierte ich, dass es von den Unsrigen kam, und verwunderte, was selbiges wohl zu bedeuten habe. Noch in meiner Verwunderung kam der Schrei. Ich meine, der Volker Brand muss es gewesen sein, der plötzlich losbrüllte. Was genau er sagte, vermochte ich nicht zu hören, war die Entfernung doch zu weit, ein Wort allein verstand ich gut: Falle!

Kaum hatte er seine Warnung gebrüllt, schlug ihm einer seiner Bewacher mit Schwert oder Degen in den Nacken, beendete sein Leben mit einem Streich, und tot fiel jener vom Gaul. Ich sah noch die übrigen Gefangenen niedergehen, dann kam das erste Knallen der Musketen, sah die fünf Unseren in den Wald fliehen und einen Trupp des Gegenteils die Verfolgung aufnehmen. Auf dem Baum saß ich und glotzte dumm aus der Wäsche, hatte ich mich so töricht sicher gefühlt mit unserer Armee im Rücken und musste mir erst gewahr werden, dass es nun ums Leben ging. Da stieg ich vom Baum, so schnell ich konnte, war am weitesten südwärts, weswegen ich eiligst gen Norden durch den Wald eilte, einen der Unseren zu finden. Wir mussten uns sammeln und kämpfen, dachte ich, so sah es unser Plan auch vor. Richard Wengenroth war’s, den ich als Ersten fand, entdeckte ihn, als er von seinem Ausguck hinabkletterte und sich mächtig erschrak, als ich ihn anrief: Was ist nur passiert? Er wisse es nicht, gab er zurück, als er sich vom Schrecken erholt. Sie pfeifen von Westen. Teufel, ich glaub, sie ham uns aufgelauert!, meinte er voller Angst. Zusammen rannten wir durchs Geäst, hielten uns nordöstlich, weg vom Feld und doch Richtung unsere Freunde. Hin und wieder knallte eine Muskete, manchmal ganz in unserer Nähe, und wenn wir auch nie das Ziel waren, machten die Schüsse uns mächtig Beine, ließen uns zügigst durch den Wald jagen, unsereins zu finden. Wir waren schon ein gutes Stück vorangekommen, konnten unmöglich weit weg sein von der Position unserer Kampftruppe, da sah ich drei, vier Mann vor uns durch den Wald pirschen, gleichsam wie wir geduckt und vorsichtig. Unsrige, vermeinte ich sogleich und wollte sie eben anrufen, da packte mich Richard mit der Hand um den Mund und drückt mich zu Boden. ’S sind nicht die Unseren!, flüsterte er mir ins Ohr. Jetzt sah ich es auch. Trugen sie lange, weite Kettenhemden wie keiner von uns. Teufel, sie ham die anderen umstellt!, meinte Richard. Wir schlichen entgegen ihrem Laufweg weg, dass wir sie im Rücken hatten. Schlichen weiter, nun sehr vorsichtig.

Da knallte plötzlich eine ganze Musketensalve, hallte schrecklich laut durch den Wald. Sie kam aus der Richtung, in der ich unseren Kampftrupp vermutete. Wir hörten Schreie und Kampfeslärm, das Klirren von Waffen und sahen nun auch den Rauch der Musketen zwischen den Bäumen aufsteigen. Wir machten einen weiten Bogen, pressierten nun wieder, wollten wir doch den anderen zur Hilfe kommen. Doch kaum hatten wir die Richtung gewechselt zu den Unseren hin, entdeckten wir die ersten Gestalten durch den Wald rennen. Feinde waren es und nicht nur ein paar. Wir warfen uns zu Boden, schlichen unter ein Gestrüpp und spähten durch die Äste. Mit einem Male wimmelte es nur so vom Gegenteil, stoben sie hier und dort um die Bäume. Bewaffnete überall, und schon das Wenige, was ich sah, machte mir klar, dass sie uns an Zahl weit überlegen waren. Das Lärmen und Schreien nahm zu, und ich wollte weiterschleichen, konnte der Kampf nicht weit entfernt sein, doch Richard packte mich, sah mir eindringlich in die Augen und sagte: ’S hat keinen Zweck, müssen weg, es sind zu viele! Ich haderte, die Freunde im Stich zu lassen, sah aber gleichfalls keine Möglichkeit, unbeschadet zu ihnen zu gelangen, daher wir kehrtmachten und weg vom Geschehen uns davon machten, nicht ohne Scham, wie ich dir gern gestehe, lieber Leser.

Nachdem wir uns einiges Wegstück entfernt, die Kampfgeräusche kaum mehr zu hören waren, tat sich vor uns ein niedriger Hang auf, den wir leise hinabschlitterten. Kaum wieder erhoben, kaum ein paar Schritte gegangen, da tauchte ein Mann zu meiner Rechten auf. Ganz alleine stand er da, war offenbar von unserem Auftauchen so erschrocken wie ich von seinem und sollte sich vom Schrecken nimmermehr erholen, denn kaum hatte ich ihn bemerkt, hatte ich schon meine Armbrust abgedrückt. Hatte weder gezielt noch groß was dabei gedacht, hatte einfach abgedrückt. Der Bolzen traf ihn mittig in die Brust und warf ihn nach hinten um. Ich ging auf ihn zu, sah von oben herab in sein Gesicht, die großen Augen, der offene Mund. Nur wenige Jahre älter als ich dürfte er gewesen sein. Was hatte ihn nur dort hingeführt? Was hatte unsere Wege kreuzen lassen? Törichte Fragen! Mach fertig, mach fertig!, zischte Richard mir zu: Schnell! Ich zog mein Messer und kniete zu ihm, da drückte er sich mit den Beinen unbeholfen ab und rutschte über den Boden, als könne er so entkommen. Ich setzte ihm nach, setzte mich auf ihn. Er wehrte sich mit den Armen, versuchte mich von sich zu halten, doch war das Leben ihn bereits am Verlassen und kaum Kraft zur Wehr brachte er noch zustande. Ich drückte die Arme beiseite, war direkt über ihm, da stieß er einen letzten verzweifelten Schrei aus. Nicht laut, aber laut genug. Ich stieß zu, in seinen Hals. So nah war ich bei ihm, dass ich seinen Atem roch, sah in sein Gesicht, ganz nah, sah, wie es zu Ende ging.

Dies war der erste Mann, den ich je tötete, und noch heute sehe ich sein Antlitz vor mir. Viele Männer habe ich seither getötet, so viele, dass ich mich kaum der Hälfte erinnern kann, noch weiß, wie viele insgesamt. In aller Deutlichkeit hab ich nur den Ersten und den Letzten vor Augen. Beim Ersten reute es mich, beim Letzten nicht. Ist es nicht seltsam, dass gleiche Prinzipia für so vielerlei gilt, dass man des Anfangs und des Endes so deutlich gewahr ist, das Dazwischene aber zu verschwimmen neigt, als wären Anfang und Ende von größerer Bedeutung, wo doch das Zwischendrin die meiste Zeit verschlingt, die höheren Zahlen stellt?

Richard packte mich jedenfalls und zog mich hoch auf die Beine, war ich von meiner Tat noch ganz durcheinander, und drängte mich weiter. Just in jenem Augenblick, als ich wieder ein wenig zu Sinnen kam, erblickte ich hinter ihm einen Mann aus dem Geäst springen und auf uns zustürmen. Obacht!, schrie ich zur Warnung. Richard sah es und schrie: Lauf! Wir rannten los. Hatten kaum ein paar Schritte getan, da sah ich noch zwei weitere Männer rechterseits zwischen dem Geäst, die versuchten, uns den Weg abzuschneiden, weshalb wir nach links auswichen und sie bald alle drei dicht hinter uns hatten. Ich hörte das Trampeln und Schnaufen der Schergen, wusste, dass sie nahe waren. Richard war ein wenig hinter mich zurückgefallen, was ich, ohne mich umzusehen, allein am Geräusch erkannte. Schnell wie ein Hase konnte ich damals zwischen Gebäum und Geäst hindurchsausen, hatte den sichersten Tritt auf laub- und wurzelbedecktem Grund. Meine Zeit im Walde hatte es mich gelehrt, und die unzähligen Jagdausflüge mit den Brüdern Linz hatten es zur Meisterschaft ausgebildet. Richard allerdings war kein Jäger. Ich hörte seinen kurzen, erschreckten Ruf, als er stolperte, sah über die Schulter, sah ihn sich vom Boden wieder aufrappeln und blieb sogar kurz stehen. Da waren sie schon über ihm. Der Schrei, den er nun ausstieß, war sein Todesschrei, hatte ihm einer unserer Verfolger eine Pike in den Rücken gerammt. Ich wartete nicht, was weiter geschah, wandte mich ab und rannte, was ich konnte. Der arme Richard! Eine fröhliche Auferstehung sei ihm hier gewünscht!

Ich weiß nicht, wann die Kerle aufgaben, wahrscheinlich lange bevor ich wagte anzuhalten und mich umzusehen. Am Rand des Waldes befand ich mich, sah durch wenige Bäume ein weites, freies Feld. Auf der Flucht hatte ich nicht auf meine Richtung geachtet, versuchte deshalb, mich nun neu zu orientieren, und lief einige Fuß auf das Feld hinaus. Leicht abschüssig verlief es und fingerlange Weizenhalme bedeckten den Boden. Ich sah den Hohentwiel geradeaus, den Hohenkrähen linkerseits, somit hatte mein Instinkt mich gut gelenkt, musste ich ein gutes Stück östlich des Ortes des Geschehens sein. Wir hatten einen Treffpunkt bestimmt, so jemand verloren ging, dort wollte ich hin.

Den Waldrand entlang hielt ich mich, geduckt und mit gespitzten Ohren. Die Musketenschüsse hatten aufgehört, und weit und breit sah ich weder Pferd noch Mensch. Ungeschoren kam ich zu der toten, alten Eiche, die als Treffpunkt auserkoren. Geduckt schlich ich um ein Gestrüpp, das den alten Baum südwärts flankiert. Da hörte ich das Flüstern. Eine Frauenstimme! Die Witwe, wie ich zu erkennen glaubte, machte mich daher bemerkbar. Schon stürzte mir eine Gruppe der Unseren entgegen, die sich in einer Mulde zur Lauer gelegt, die Witwe und Bastian darunter, zu meiner Freude und Erleichterung. Die Witwe umarmte mich und gab mir einen zarten Backenkuss, derweil ich im Hintergrund den Egon hörte: Der Kleine hat’s geschafft, Dank dem Herrn! Ich wurde kräftig getätschelt und auf die Schulter geklopft. Schurken waren wir freilich, aber Kameraden nun mal auch, und ich sah die Freude meiner Freunde, dass ich nicht auf der Strecke geblieben, gleichfalls den Verdruss und die Sorge, dass so wenige der Unseren da waren. Nur achte standen um mich rum, nebst den drei Genannten noch die Gebrüder Linz, der Amon, Jakob Maier und Friedrich Strohwerk. Richard sei tot, sagte ich, erzählte, was uns widerfahren. Mein Kinn begann zu beben, und Wasser füllte die Augen. Kalt und zielstrebig war ich zuvor gewesen, hatte den Kummer nicht aufkommen lassen, ja, ihn nicht einmal gespürt. Nun erst, mit der anderen Antlitze vor mir, durchfuhr mich das Erlebte. Nix dazu kannst, mein Junge!, tröstete mich Egon: Viele sind auf der Strecke geblieben.

Ich lauschte ihren Berichten, erzählten sie von unzähligen Schergen, die unvermittelt aufgetaucht seien, sie umstellt hatten von allen Seiten. Eine ganze Hundertschaft müsse es gewesen sein, der ganze Wald habe von ihnen gewimmelt. Diesen und jenen habe es erwischt, zählten sie auf. So viele Namen! Der Hauptmann?, frug ich, worauf sie die Köpfe schüttelten, man habe ihn nur zu Gaule in den Wald retirieren sehen, sein kleines Gefolge auf den Fersen, seither fehle jede Spur. Wir legten uns in die Erdmulde auf die Lauer, um auf weitere Überlebende zu warten. Die Mittagssonne stand hoch, nur leicht über dem Zenit. Kaum zwei Stunden dürften es gewesen sein seit dem Überfall, und doch schien es mir so endlos länger her, meinte gar zu zweifeln, ob Geschehenes tatsächlich geschehen, schien alles wie ein ferner Traum, ein Menschenleben her zu sein. Schweigend lagen wir da, dicht nebeneinander, und horchten auf jedes Rascheln oder Knacken, spähten durchs Gestrüpp, ohne jemanden zu entdecken. So zog die eine und die andere Stunde dahin, und keiner tauchte mehr auf.

Dies wurde also aus der obgemeldeten, unbesiegbaren Armee, ein kümmerlicher Rest von uns paar Mannen, im Dreck liegend und hinter Gestrüpp versteckt. Als die Sonne schon recht tief am Himmel stand, beschlossen wir endlich, zum Hort aufzubrechen. Düstere Miene zogen wir alle, war uns doch klar, was mit unseren armen Kameraden geschehen oder was selbige noch erwarte, denn die Traurigen, die der Tod nicht bereits ereilt hatte, erwartete gewiss reichliches Martyrium, mit letztlich gleichem Ende.

Wachsam pirschten wir durch die Lande, mieden Wege und Straßen, stapften durch den Wald. Bis wir in unserem vertrauten Waldstück ankamen, war es schon Abend. In Reihe, mit gesenktem Kopf marschierten wir einen Pfad entlang, der uns zu den wenigen Verbliebenen führen sollte, glaubten uns hier sicher auf unserem Grund und Boden. Gleich einer Trauergesellschaft sahen wir aus, war mir durch den Kopf gegangen, und wahrscheinlich fühlten wir uns auch so. Nicht weit von unserem Heim waren wir weg, ich sah schon durch die Bäume die abschüssige Talwand unserem Bau gegenüber, als aus dem Busch zu unserer Linken eine Stimme zischt: In Deckung, verdammt! Einen rechten Schrecken bekamen wir, wurde manche Waffe eilig gezogen, nur die Witwe erkannte sogleich die Stimme und rief: Lutz! Sie sprang vom Pfade ab, wir hinterher, und da lauerten, in guter Deckung versteckt, der Hauptmann und Korporal Schuhmann, Letzterer allerdings zu Boden gelegt und kränklich bleich im Gesicht. Die Witwe fiel dem Wagner sogleich um den Hals, während wir noch staunten und uns zuriefen: Der Hauptmann ist’s!, ihm dann die Schulter zu klopfen. Sein kurzes Lächeln ist mir gut im Sinn, auch wie er sich freute, uns wiederzusehen, doch sofort ermahnte er zur Ruhe und in Deckung zu gehen. Sie seien schon auf dem Weg hierher, gar schon vor Ort, warnte er, und wir verstanden. Korporal Schuhmann hatte eine Kugel abbekommen, den rechten Arm habe es erwischt, welchen er an den Körper gebunden trug. Ich sah viel Blut, seine ganze rechte Seite war getränkt, der erfahrene Kriegsknecht vermeinte jedoch, die Kugel sei durchgegangen und er werde schon wieder. In kurzen Worten berichteten sie ihr Schicksal, erzählten, wie sie durch den Wald sich retirieren suchten. Wie ihnen die Gäule unter dem Arsch weggeschossen worden waren und die drei anderen auf der Strecke blieben. Wie wir anderen hätten sie versucht, ostwärts durchzubrechen, doch zu viele Schergen waren auf der Lauer gelegen, hätten sie bedrängt und letztlich gezwungen, südwärts auszuweichen. Ich vermute, sie müssen dicht an Richard und mir vorbeigezogen sein. Als schließlich die Verfolger von ihnen abgelassen hatten, seien sie so weit gen Süden abgedrängt worden, dass der Wagner beschloss, es sei das Sicherste, sich nicht zum Treffpunkt durch besetzten Wald zurückzuwagen, sondern e contrario, der Weg über Singen und direkt zum Horte sei die weisere Variante. Und zu Recht, wie sich alsbald entpuppte, in anderer Hinsicht als gedacht allerdings, kreuzte ihrer Wege nämlich eine voll montierte Reiterschar im strebigen Galopp in unseres Unterschlupfes Richtung. Einen der Unseren hatten sie gewiss traktiert, sie zum Unterschlupf zu führen, wie der Bastian vormals befürchtet hatte, weswegen ein Hinterhalt zu erwarten sei.

Wir beschlossen, um das Tal herumzugehen und uns von anderer Seite zu nähern, um der Lage gewahr zu werden. Wagner führte uns im weiten Bogen, überquerten wir den kleinen Bach, der durch das Tal längswärts floss, hin zum gegenübrigen Hügelkamm, von welchem aus sich gut der Hort einsehen ließ. Zusammen mit den beiden Jägersbrüdern schlich der Hauptmann zum Rand des Kamms. Ich folgte ihnen mit den Augen, beobachtete, wie sie oben ankamen und hinunterspähten. An ihrer Reaktion schon ersah ich, dass etwas nicht stimmte, getrauten sie sich kaum den Kopf zu heben und machten sich verschiedene Zeichen mit den Fingern. Teufel noch eins, sie sind schon da!, hörte ich die Witwe neben mir, die deren Verhalten gleich mir deutete. Vorsichtig kamen sie zurück und berichteten, dass die Schergen schon am Plündern seien, der Hort sei verloren. Vielleicht hätten sie die Pferde noch nicht gefunden, die wir ja weit abseits hielten, vermeinte der Wagner, von welchen wir genug hatten, uns alle zu bereiten und zu fliehen. Unsere Leute?, fragte die Witwe, und nur ein Kopfschütteln Wagners war die Antwort.

Ich weiß noch, wie er sprach, los gehts!, und ich mich umdrehte, um in Richtung Pferdegatter aufzubrechen, da sah ich zwischen den Bäumen rechterseits, kaum zehn Klafter entfernt, drei Schergen mit Muskete geduckt halb liegend schon zum Schusse bereit in unsere Richtung zielend. Wie versteinert stand ich da und glotzte dumm, sehe noch genau, wie der eine seinen Lauf direkt auf mich gerichtet hat, weiß, gleich kommt der Knall, gleich ist es vorbei, als just in diesem Augenblicke der arme Werner Linz sich vor mich stellt. Schrecklich knallte es aus den drei Feuerrohren, und die Kugel, die für mich bestimmt, schlug in Werners Rücken ein. Ich glaube kaum, dass er sich bewusst vor mich gestellt, denke eher, dass ihn das Pech genau in jenem Moment vor mich geleitet hatte, denn ich sehe noch sein verdutztes Antlitz vor mir, als die Kugel ihn trifft, stand er doch mit dem Rücken zum Schützen. Sei es nun so oder auch anders, in jedem Falle hat sein Tod mir mein Leben salviert, und gedankt sei ihm hierfür und eine fröhliche Auferstehung gewünscht.

Die Kugel jedenfalls schlug mächtig in seinen Rücken ein und ließ uns beide übereinander zu Boden stürzen. Ich drückte den Werner von mir runter und sah sogleich an seinen offenen, verdrehten Augen, dass er tot war. Die anderen stürmten indessen zum Kampf, sah ich den Wagner den ersten Feind gleich mit der Pistole legen. Die zwei Übrigen hatten mit so beherztem Angriff nicht gerechnet, versuchten nun zu fliehen. Weit kamen sie nicht, wurden bald eingeholt, und ich sah den Bastian dem einen mit seinem langen Schwerte in den Rücken schlagen, den anderen legten die Witwe und Jakob gemeinsam. Doch schon hörte man vom Tal aus Rufe der alarmierten Schergen. Eile war geboten. Zu den Pferden!, befahl der Wagner nun. Ich packte Andreas, der über seinen Bruder sich geworfen hatte, bitterlich weinte und seinen Namen rief, zog ihn hoch auf die Beine, denn zum Trauern verblieb keine Zeit.

Wir rannten, so schnell die Beine uns trugen, kamen unbeschadet zu den Pferden, die, dem Herrn sei Dank, unentdeckt geblieben. Sechs Pferde waren es und fünf Maultiere, die zur Flucht gesattelt bereitstanden. Jeder schnappte sich ein Tier, auch die beiden übrigen Tiere führten wir mit und nahmen Reißaus. Ich war damals noch kein guter Reiter und hatte arge Mühe mit dem Maultier, das mir zugewiesen wurde, doch stellte sich uns niemand mehr in den Weg, und so verabschiedeten wir uns von unserem trauten Heim und Wald und unseren Freunden, brachen auf in ungewisse Zukunft. Nur neun Mann und die Witwe waren übrig von jener einst so prächtigen Räuberbande, und hart sollten die nächsten Monate und Jahre werden, waren wir unserem Heim, unserer meisten Habe und dem ganzen Reichtum verlustig geworden, zogen rastlos von einem Ort zum nächsten.

Rosenegg

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