Читать книгу Wagnis des Herzens - Penelope Williamson - Страница 10

Achtes Kapitel

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»Was für ein herrlicher Tag! Der Himmel ist strahlend blau, und die Sonne lacht! An einem solchen Tag im Mai haben die Iren das Tanzen erfunden. Zumindest sagt man das.«

Bria McKenna hob übermütig den Rocksaum und versuchte ein paar Tanzschritte. Aber ihr dicker Bauch machte sie so unbeholfen, daß sie wie der Mast eines Segelboots im Sturm schwankte.

Sie wäre gefallen, wenn ihre Tochter Noreen nicht die dünnen, aber kräftigen Armen um ihre Beine geschlungen und sie festgehalten hätte.

»Mama!«

Das Mädchen sah Bria vorwurfsvoll an, wurde über und über rot und flüsterte mit erstickter Stimme: »Mama, wie kannst du so etwas nur machen? Alle sehen zu!«

»Was ist schon dabei?« erwiderte Bria lachend und etwas außer Atem.

Sie hörte jedoch mit dem Tanzen auf, denn sie erinnerte sich noch gut daran, wie es sich anfühlt, zehn Jahre alt zu sein und zu glauben, die ganze Welt warte nur darauf, daß man sich und seine Familie lächerlich macht.

Bria strich ihren Rock glatt und schob die roten Locken, die sich gelöst hatten, in den Knoten am Nacken zurück, aber ihre Haare ließen sich wie stets kaum bändigen.

»Zufrieden, mein Kind?« fragte sie. »Jetzt bin ich wieder so ordentlich wie die Frau des Bürgermeisters.« Sie lachte und strich sich über den Bauch. »Und dick genug, um einem Elefanten Schatten zu spenden.«

Bria stemmte die Hände in die Hüften und blickte in die Gesichter ihrer beiden Töchter, die sie noch immer verwundert anstarrten.

Noreen hatte die schmalen Lippen fest zusammengepreßt. Auch die kleine Merry lächelte nicht, aber das tat sie schon seit einer Weile nicht mehr. Doch Bria sah zu ihrer Freude, daß die blauen Augen, die meist groß und traurig in die Welt blickten, vor stummem Lachen blitzten.

Sie fuhr mit den Fingern durch die rotblonden Locken ihrer jüngsten Tochter. »Siehst du, Noreen, Merry schämt sich nicht ihrer armen dummen Mutter, nicht wahr mein M’eudail

Merry schüttelte den Kopf und summte ein paar leise Töne, die wie das Gurren einer Taube klangen.

Noreen drehte sich finster auf dem Absatz um und lief, ohne sich noch einmal umzudrehen, durch das große Tor der Baumwollspinnerei. Die leere Blechdose, in der das Mittagessen gewesen war, schlug ihr gegen das Bein.

Bria unterdrückte einen Seufzer. Sie hätte Noreen am liebsten bei den Schultern genommen und geschüttelt. Sie wollte ihre Tochter zwingen, zum endlos tiefblauen Himmel hinaufzublicken, in die wunderbare Weite, die in ihrer Endlosigkeit ganz der Sonne gehörte, um darin zu scheinen. Sie wollte, daß ihre Tochter die Freude des Tages in sich einsog, als sei es erfrischend süße Limonade. Ein Tag wie dieser und solche Augenblicke waren selten und kostbar, denn man konnte nie wissen, wann es wieder einmal so schön sein würde.

Bei Gott, es geschah nicht oft, daß die Mädchen Gelegenheit hatten, die warme Sonne auf den kleinen Gesichtern zu spüren. Die durchdringende Sirene der Spinnerei rief sie schon vor dem Morgengrauen zur Arbeit, und sie kamen erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause zurück. Nur an einem Samstag im Monat bekamen sie einen halben Tag frei. Endlich schneite oder regnete es an ihrem freien Nachmittag einmal nicht, und es braute sich auch kein Sturm über ihnen zusammen.

Jemand zog an Brias Rock, und sie blickte nach unten. Merry schob die schweißnasse Hand in ihre, und die Mutter lächelte zufrieden, obwohl ihr gleichzeitig Tränen in die Augen traten.

Sie gingen inmitten der vielen anderen Arbeiter durch das Tor und die Thames Street entlang. Gelächter drang aus den offenen Türen der Hafenkneipen. Die Flut ließ noch auf sich warten, und der Geruch der Muschelbänke lag schwer in der Luft.

Merry begann wieder zu summen. Es klang selbstvergessen und vergnügt, so wie man eine Melodie summt, deren Worte man vergessen hat. Bria konnte nur lächelnd nicken und sagen: »Richtig, mein kleiner Schatz, du hast ein bißchen Freude wahrlich verdient, Liebes.«

Früher hatte die Kleine ständig gelacht und unentwegt geplaudert. Deshalb hatte man sie auch »Merry« genannt. Aber dann kam der schreckliche Tag, an dem der Friedensrichter mit seinen Konstablern vor der armseligen Steinhütte der McKennas erschienen war, und sich ihr Leben schlagartig und grundlegend geändert hatte. Damals hatte Bria ihren Töchtern befohlen, den Mund fest zu schließen, damit nichts, kein Laut mehr über ihre Lippen kam, ganz gleich, was geschehen mochte. In der Tat hatten sich an jenem Tag schreckliche Dinge ereignet.

Danach hatte die kleine Merry McKenna nie mehr ein Wort gesprochen. Statt dessen summte sie nur noch, und ihre Schwester verstand als einzige, was sie sagen wollte. Aber wer konnte wissen, ob Noreen immer alles richtig verstand? Manchmal summte die Kleine lange vor sich hin, und ihre Schwester übersetzte dann höchst seltsame Dinge, zum Beispiel: »Merry hat mit den Elfen geredet, die in der Kohlenkiste leben. Wir sollen ihnen jeden Abend ein paar Stücke Zwieback geben.« Zu diesen Worten nickte die kleine Merry ernsthaft, als habe sie tatsächlich genau das mit ihrem Summen sagen wollen.

Nun ja, wer kann etwas anderes behaupten, dachte Bria. Die Welt war voller Wunder, Geheimnisse und höchst seltsamer Dinge.

Die Welt war voller Freude.

Vor jenem Tag ...

Vor jenem Schicksalstag war ihre Noreen ein tapferes, ausgelassenes Mädchen gewesen. Ihren prüfenden Augen entging nichts, und sie traf mit ihren aufgeweckten Bemerkungen stets ins Schwarze. Noreen McKenna wußte Bescheid, und sie ließ sich nicht von dem beeindrucken, was andere sagen oder denken mochten. Sie hätte fröhlich mit ihrer Mama getanzt und dann darüber gelacht.

Vor jenem Tag ...

Das Baby trat ihr plötzlich gegen die Bauchdecke, und Bria schnaufte überrascht. Sie drückte die Handfläche auf den Leib und spürte, wie sich das neue Leben in ihr bewegte, aber sie lächelte nicht.

Vor jenem Tag, dachte sie, war auch ich eine andere.

Ein stechender Schmerz schoß durch ihren Arm. Sie ließ Merrys Hand los und rieb sich zuerst die Schulter und danach den schmerzenden Rücken. Tag für Tag zwölf Stunden vor einer vibrierenden Spinnmaschine zu stehen, ging nicht spurlos an einem vorüber.

Wenn man so wollte, hatte dieser Tag noch eine Art Segen gebracht. Als Bria nach der Schicht ihre Karte in die Stechuhr schob, kündigte ihr Mr. Stipple, weil sie ihren Platz an der Maschine verlassen hatte, wie er sagte.

Bria hätte die Stelle ohnehin bald verloren, denn ihr Leib wurde immer unförmiger, und sie sah bereits aus, als habe sie nicht nur einen Kürbis, sondern gleich ein ganzes Dutzend davon verschlungen. Das Problem bestand leider nur darin, daß die Familie mit drei Dollar weniger in der Woche bald schon einen hungrigen Mund mehr füttern mußte ...

Aber sie hatte ihren Lohn erhalten, und deshalb klimperten im Augenblick munter ein paar Münzen in ihrer Tasche. Und wieder überkam Bria eine euphorische Unbeschwertheit. Sie wollte diesen Tag in dem Glauben verbringen, am nächsten werde es vom Himmel Münzen für sie regnen.

Bria entdeckte an der Straßenecke ein Mädchen, das in einem Eisenkessel Maiskolben kochte und sie an die Passanten verkaufte. Sie rief ihre Töchter zu sich und kaufte ihnen die dampfende Köstlichkeit.

»Kommt, wir gehen damit ans Ufer«, sagte sie, »und machen ein kleines Picknick.«

Merry schloß die schmutzigen Finger fest um den Maiskolben und lief durch die Allee voraus hinunter zum Strand. Noreen zögerte einen Augenblick, aber dann folgte sie ihrer kleinen Schwester. Die Kleider aus Futtersäcken flatterten ihnen um die Waden, während sie barfüßig geschickt dem Gänsedreck auf dem Weg auswichen.

Eine Hafenmöwe schoß herab und versuchte, Noreens Maiskolben zu stehlen. Bria dachte, das Mädchen werde sich vor Angst ducken, aber Noreen lachte nur. Es war ein lautes fröhliches Lachen, das Bria zum zweiten Mal an diesem Nachmittag die Tränen in die Augen trieb.

Die Mädchen setzten sich zum Essen auf die Steine. Bria blieb neben ihnen stehen und blickte nachdenklich auf die gebeugten Köpfe. Merrys Haare lockten sich flammend rot und unbändig wie die ihrer Mutter und würden ihr später das Leben schwermachen. Noreens dunklere, haselnußbraunen Haare hatten nur einen leichten rötlichen Schimmer und nur eine Andeutung von ihren irischen Locken.

Beim Anblick ihrer Kinder empfand Bria soviel Liebe, daß ihr Herz schmerzte. Sie blinzelte und blickte hinaus auf die sonnig schimmernden Wellen und atmete langsam und tief. In der Luft am Wasser mischten sich die verschiedensten Düfte und Gerüche. Es roch nach Salz, blühendem Liguster, aber auch nach verwesendem Fisch, der im Uferschlamm lag. Weit draußen in der Bucht entdeckte sie ein einsames Segelboot, das in Richtung Poppasquash Point fuhr. Die Bugwellen schnitten eine blaue Linie durch die silbernen Wellen. Es war ein schöner Anblick von schwebender Leichtigkeit und Lebensfreude.

Bria spürte den Hustenanfall zuerst als leichtes Kitzeln in der Kehle. Sie versuchte, ihn zu unterdrücken, indem sie so langsam wie möglich atmete und schließlich die Luft anhielt. Aber den Husten konnte sie nie überlisten – schon lange nicht mehr. Sie konnte auch nicht einfach aufhören zu atmen.

Als sie den Mund schließlich öffnete, um Luft zu holen, brach es wie eine Explosion aus ihr heraus, und der Husten drohte, ihr die Brust zu zerreißen. Sie mußte husten und husten, bis sie das Gefühl hatte, ein brutaler Riese schlage ihr mit der Faust gegen die Rippen und versuche, ihr alle Knochen im Leib zu brechen.

Sie krümmte sich vor Schmerzen und drückte eine Hand krampfhaft auf die Brust dicht unter dem rasend klopfenden Herzen. Mit der anderen holte sie zitternd eine kleine braune Glasflasche aus der Tasche und trank daraus. Nicht lange danach hörte der Husten auf. Ihre Lunge war noch immer schwer und naß. Bria röchelte, aber der Hustenreiz würde jetzt nachlassen – für eine Weile. Die Medizin wirkte wahre Wunder. Leider hielt die Wirkung nur ein oder zwei Stunden an.

Merry sprang plötzlich auf und hüpfte von einem Fuß auf den anderen. Sie summte aufgeregt und deutete mit dem vom saftigen Mais feuchten Finger in Richtung Poppasquash Point und auf das grau gedeckte herrschaftliche Haus, das im Schein der Sonne leuchtete.

Bria kniff die Augen zusammen, denn das gleißende Wasser blendete sie. Das Haus schien wie eine silberne Wolke über der Bucht zu schweben, und zwar dort, wo das Wasser mit dem hellen Himmel verschmolz.

»Bei Gott«, murmelte sie noch immer nach Luft ringend. »Es sieht wirklich wie ein Märchenschloß aus.«

Aber dann bemerkte Bria, wie Noreen ihre kleine Schwester mit großen Augen anstarrte.

»Was gibt es?« fragte sie Noreen. »Was sagt die Kleine denn?«

Noreen blickte auf ihre Mutter. »Sie ... sie sagt, der Engel, der heute in der Spinnerei war, wohnt dort drüben in dem großen silbergrauen Haus am Wasser und ...«

Merry summte und nickte so heftig mit dem Kopf, daß ihre Locken auf und ab tanzten.

»Und sie wird dich in das Haus dort mitnehmen«, beendete Noreen den Satz hastig und sprang ebenfalls auf. »Mama, das darfst du nicht zulassen! Der Engel darf dich uns nicht wegnehmen!«

»Was für dummes Zeug!« Bria wollte lachen, aber sie verstummte.

Ich werde euch nicht verlassen, wollte sie ihren Kindern versprechen. Ich werde euch nie ... niemals verlassen.

Aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen, weil sie nicht der Wahrheit entsprachen.

»Dummes Zeug!« wiederholte sie statt dessen, doch sie konnte verstehen, was bei ihrer Merry, dem Feenkind, diese seltsamen Phantasien ausgelöst hatte.

Ein Engel ... ja, die Frau schien ein Engel gewesen zu sein, etwas Überirdisches und Außergewöhnliches, als sie plötzlich auf dem Laufsteg hoch über ihnen erschienen war, während die Sonnenstrahlen durch die schmalen Fenster auf sie fielen, so daß es den Anschein hatte, die Luft um sie herum flirre und pulsiere vor Helligkeit. Bria kniete nieder und legte die Arme um die beiden Mädchen. »Die Dame, die heute in die Spinnerei gekommen ist ..., sie ist kein Engel. Sie ist nur eine sehr vornehme und hübsche Frau, aber bestimmt kein Engel. Und ganz sicher wird sie mit Leuten wie uns nichts zu tun haben wollen.«

Merry summte ..., es klang wie ein schönes süßes Traumlied. Sie begann, leicht hin und her zu schwanken, und schloß die zuckenden Lider. Noreen sprach für sie, und auch ihre Worte klangen verträumt.

»Sie sagt, wir sollen keine Angst haben, denn der Engel wird alle unsere Wünsche erfüllen.«

Noreen sah ihre Mutter flehend an.

Sie ist wie ich, dachte Bria. Sie wünscht sich ein Wunder, sie hofft inständig auf ein Wunder, und doch kann sie nicht aufhören, unablässig nach einem Haar in der Suppe zu suchen. Merry dagegen mit ihren phantastischen und unwirklichen Träumen glich mehr ihrem Vater.

»Kommt, Kinder«, murmelte Bria seufzend und drückte die beiden fester an sich. »Wir müssen nach Hause gehen.«

Doch sie bewegte sich nicht von der Stelle und kniete noch eine ganze Weile im kühlen feuchten Sand. Die Mädchen in ihren Armen schienen so zart und verwundbar.

Bria wollte nichts anderes, als sie ewig schützend an ihr Herz zu drücken.

Auf dem Nachhauseweg begegneten sie den Arbeitern, die von den Zwiebelfeldern kamen. Die Männer trugen Hacken auf den Schultern, und von ihren Händen baumelten die zu Zöpfen geflochtenen begehrten roten Bristol-Zwiebeln. Bria hielt nach ihrem Mann Ausschau, aber sie entdeckte ihn nicht.

Als sie den Crow's Nest Saloon erreichten, blieb sie stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte über die halbhohe Schwingtür. Sie suchte unter den Männern, die sich an der Bar drängten, seine große, vertraute Gestalt. Aber auch dort war er nicht.

Ihr Haus stand an der Uferseite der Thames Street – eine Holzhütte auf Pfählen mit zwei Zimmern. Es hatte ein Dach aus Teerpappe, und die Wände waren gegen die durchdringende Kälte der Neuenglandwinter mit Seegras ausgestopft. Das Haus unterschied sich sehr von dem dunklen schilfgedeckten Shibeen, wo sie früher gewohnt hatten.

An manchen Tagen schloß Bria die Augen, und in ihrer Vorstellung tauchte jede Mauer und jedes Kartoffelfeld ihres Dorfes in Irland wieder auf. Sie spürte den Verlust des Lebens in der alten Heimat und wußte, die große klaffende Lücke würde sich nie mehr schließen.

Dann zwang sie sich, die Augen wieder zu öffnen und den Blick auf ihre Töchter und ihren Mann zu richten, auf ihre Familie, die sie so sehr liebte. Sie lenkte ihre Gedanken auf das Land, in das sie gekommen waren, auf das große und reiche Amerika, so voller Leben, Träume und Hoffnungen. Ach, dieses Amerika konnte einem mit seinen vielen Versprechungen das Herz brechen.

Als Bria in den ungepflasterten Weg einbog, ging sie bereits so schnell, daß die Mädchen Mühe hatten, mit ihr Schritt zu halten. Sie spürte die müden Beine kaum noch, als sie die steilen Stufen hinaufstieg und die Tür öffnete. Aber die Küche war leer. Sein Name und das Lächeln, das allein ihm galt, erstarben auf ihren Lippen.

Im Haus roch es nach Kohl und Speck, dem Abendessen vom Vortag. Deshalb ließ sie die Tür offen, damit die salzige Meeresluft in die Küche dringen konnte.

Während die Mädchen das Geschirr abwuschen, legte Bria die Schürze um und machte ihnen Speckbrote.

»So«, sagte sie und stellte die großen Portionen auf den Tisch. »Da habt ihr etwas Ordentliches zu kauen.«

Noreen verzog das Gesicht, denn ihre Mutter sagte das an jedem freien Samstagnachmittag, wenn sie ihnen Brote machte. Aber Bria lachte nur.

Sie drückte ihr schnell einen Kuß auf das braune Haar. »Warum geht ihr bei dem schönen Wetter nicht nach draußen? Heute muß man die Sonne genießen.« Sie drückte sanft die Schulter ihrer Tochter. »Na los, Liebes, nimm dein Brot mit.«

Noreen blickte sehnsüchtig durch die offene Tür ins Freie. Alte Ängste ließen sie zögern, doch dann nahm sie ihr Brot in beide Hände und rannte hinaus.

Bria folgte ihr zur Tür und sah ihr lächelnd nach. Als sie sich einen Augenblick später nach Merry umdrehte, stellte sie fest, daß die Kleine am Tisch eingeschlafen war, bevor sie auch nur einen Bissen gegessen hatte. Manchmal standen die Kinder an den Spinnmaschinen, und ihnen fielen vor Müdigkeit die Augen zu.

Bria nahm sie auf den Arm und trug sie in das Schlafzimmer. Das Mädchen war so leicht wie eine Feder. Bria wurde es wieder schwer ums Herz, als sie in das schmale, erschöpfte und ausgezehrte Gesicht ihrer kleinen Tochter blickte.

Sie legte das Kind auf das Bett und deckte es mit den rauhen, aber sauberen Decken aus Sackleinen zu. Dann schob sie Merrys dichte Locken aus dem Gesicht und küßte sie auf die Stirn. Morgen, so nahm Bria sich vor, wollte sie mit den Kindern zu einem richten Picknick an den Strand gehen. Sie würde ihnen als Belohnung ein paar Süßigkeiten kaufen, auch wenn sie dafür ganze fünf Cents ausgeben mußte.

Morgen ...

Die Verzweiflung schlug plötzlich über ihr wie eine hohe Welle zusammen. Sie erschauerte unter dem Ansturm der niederschmetternden Gefühle.

Morgen ... das war ein großes und trauriges Wort, das jede erdenkliche Hoffnung umfaßte, ein Wunder bringen und alle Versprechungen einlösen konnte, aber nur, wenn man sicher war, daß es ein Morgen gab.

Bria hauchte noch einen Kuß auf die Stirn ihrer Tochter und ging in die Küche zurück. Sie sah das belegte Brot auf dem abgestoßenen Emailleteller und dachte, sie sollte es essen. Aber sie hatte in letzter Zeit überhaupt keinen Appetit mehr. Trotzdem wurde das Kind in ihrem Leib immer größer und schwerer, während alles andere an ihr aussah wie ein Bündel dürrer Zweige, das eine Schnur zusammenhielt. Da sie ihre Arbeit verloren hatte, und ihr Mann wieder auf den Zwiebelfeldern arbeitete, würden sie ohnehin bald nur noch von Möhren, Rüben und Äpfeln leben müssen.

Aber ihr wurde bereits beim Geruch des Specks übel. Sie wickelte das belegte Brot in ein Stück Papier und legte es für später unter die Kuchenhaube.

Bria wollte frischen Zwieback backen und schüttete deshalb eine Schaufel Kohle in den bauchigen schwarzen Eisenherd. In Irland hatte sie über dem offenen Feuer gekocht. Kartoffeln und Rüben kamen in einen großen Topf, der über den Flammen hing. Es gab zum Feuermachen kein Holz und keine Kohle, aber dafür viel Torf, den sie direkt vor der Haustür stachen. Nichts roch so unvergleichlich erdig und süß wie Torf, dachte sie mit einem tiefen Seufzen.

Bria schüttelte energisch den Kopf und versuchte, die Gedanken an die alte Heimat zu vertreiben. Es war besser, sie fand sich damit ab, daß sie Irland nie wiedersehen würde.

Als Bria nach der Mehldose griff, sah sie durch das Fenster ihre Tochter auf der Erde kauern. Sie spielte allein mit Steinen. Ein paar Jungen aus der Spinnerei hatte sich um sie versammelt und sahen bewundernd zu, wie sie vier kleine Steine hoch in die Luft warf und geschickt auf dem Handrücken wieder auffing.

Bria mußte unwillkürlich lächeln. Wer hätte gedacht, daß die dünne Noreen mit ihrem spitzen Gesicht und ihrem schwierigen Wesen für die Jungen eine solche Anziehungskraft besaß?

»Ach du liebe Zeit!« rief sie verblüfft, denn einer der Jungen bot ihr gerade einen Zug aus seiner Zigarette an, und das ungezogene Kind lehnte noch nicht einmal ab. »Ihr Vater wird die Kerle bald mit einer Shillelagh von der Tür vertreiben müssen.«

»Redest du vielleicht mit den Feen?«

Bria fuhr so schnell herum, daß sie beinahe die offene Mehldose umgeworfen hätte. »Donagh! Hast du mich erschreckt!«

Der Mann in der Tür sah sie strahlend an. Sie lachte, lief zu ihm und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen dicken Kuß auf die Wange zu drücken.

Sie schmunzelte. Was würden wohl die Nachbarn sagen? Mrs. McKenna küßt schamlos den Pfarrer von St. Mary, und dabei spielt es keine Rolle, daß der brave und hübsche Mann ihr eigener Bruder ist.

Sie nahm ihn am Arm und zog ihn ins Haus. »Setz dich. Ich habe gerade Wasser auf dem Feuer.«

Er gab ihr seinen Hut, und sie hängte ihn an einen Haken an der Wand. Dann sah sie lächelnd zu, wie er es sich auf einem der Küchenstühle bequem machte.

»Du siehst gut aus, mo Bhriathair

Vater Donagh O'Reilly war in der Tat ein gutaussehender Mann. Er hatte dichte braunrote Haare und fröhliche braune Augen. Und der breite Mund mit den vollen Lippen schien immer kurz davor, sich zu einem Lächeln zu verziehen. Gott hatte an ihm einen Diener gefunden, um den ihn die eine oder andere Frau gewiß beneidete.

Der Kessel begann zu pfeifen; Bria eilte zum Herd, nahm ihn von der Platte und goß den Tee auf.

»Ich habe mich gefreut, dich heute morgen in der Fünf-Uhr-Messe zu sehen«, sagte ihr Bruder, als der Wasserkessel aufgehört hatte zu pfeifen.

Sie warf ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu. »Hast du auch Augen im Rücken?«

Er lachte, aber dann wurde er ernst. »Vielleicht nicht im Rücken, aber ich habe Augen und Ohren. Du kommst jeden Tag zur Messe. In all den Monaten, seit du hier bist, hast du keinen einzigen Tag den Gottesdienst versäumt. Doch ich habe deine Stimme nie im Beichtstuhl gehört und ich habe dir auch nicht die Hostie gereicht.«

Bria drehte ihm den Rücken zu. Sie beschäftigte sich etwas zu eifrig damit, die Teetassen behutsam auf die Untertassen zu stellen. In Wahrheit zog sich ihr dabei der Magen zusammen, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte. Sie fürchtete, ihr würde übel werden.

»Bria, Schwester ... ich mag vielleicht der geweihte Diener unseres Herrn auf Erden sein, aber ich war früher dein großer Bruder, und ich verstehe, daß du vielleicht ...« Ihm erstarben die Worte auf den Lippen, und sie wußte, daß er sie besorgt und verletzt zugleich ansah. »Wenn es etwas gibt, das du mir nicht sagen kannst, dann gibt es noch einen Priester in Warren. Er ist freundlich und verständnisvoll. Ich könnte dich im Wagen dorthin bringen ...«

Sie widerstand dem Wunsch, die Arme um den dicken Leib zu legen oder die Hände auf den rebellierenden Magen zu drücken.

»Ich kann nicht beichten!«

Es klang beinahe so laut wie ein Schrei.

»Ich kann nicht! Ich kann nicht! Also verlang es nicht von mir, Donagh. Um alles kannst du mich bitten, aber beichten werde ich nicht.«

Sie hörte, wie er aufstand, und einen Augenblick später spürte sie seine schwere warme Hand auf der Schulter.

»Es gibt keine Sünde, die Gott nicht vergeben kann«, sagte er leise.

Sie wollte sich an ihn lehnen und sich von ihm trösten lassen, aber sie rührte sich nicht. Niemals würde sie in dem vergoldeten Beichtstuhl knien und für etwas um Verzeihung bitten, wo es nichts zu verzeihen gab.

Er drehte sie herum und versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen. Aber sie drückte sich mit abgewandtem Kopf an ihn, und schließlich ließ er sie los.

»Ich habe gehört, daß sie dich in der Spinnerei entlassen haben«, sagte er nach kurzem Schweigen.

»Hmmm.« Sie wollte lachen, aber es klang erstickt. »Du hast es wahrscheinlich schon gewußt, bevor die Sirene nach der Schicht verstummt war.«

Er hob die Hände und legte sie an den Hinterkopf, dann räusperte er sich. »Ach, übrigens, es gibt noch einen Grund, weshalb ich heute zu dir gekommen bin. Mrs. Daly ... du weißt schon, meine Haushälterin, möchte mit ihrer Tochter in Zukunft in Boston leben. Das heißt, es gibt in Zukunft niemanden, der das Treppengeländer abstaubt und mir armem Wurm abends die Pantoffeln ans Feuer stellt.« Er boxte sie spielerisch am Kinn. »Deshalb bin ich gekommen, um dir die Stelle anzutragen, wenn du sie haben möchtest.« Er räusperte sich. »Obwohl ich dir nicht denselben Lohn wie die Spinnerei zahlen kann.«

Das Schluchzen, das sich ihrer Brust entrang, machte sie beide betroffen. Er nahm sie in die Arme, und sie preßte das Gesicht an seine schwarze rauhe Wollsoutane. Dann flossen die Tränen, während er ihr über das Haar strich und murmelte: »Ist schon gut, ist ja alles gut ...« Aber sie klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende.

Als Bria sich schließlich wieder beruhigt hatte, hielt er sie auf Armlänge von sich. Seine Stimme klang belegt, als er fragte: »Ist alles in Ordnung, Kleines?«

Sie nickte, schniefte und wischte sich die Nase mit dem Handrücken. »Was werden die Leute sagen? Du gibst eine so gute Stellung deiner eigenen Schwester?«

»Sie werden sagen, es ist besser, meine Schwester kommt zu mir ins Haus als eine hübsche junge Frau, die meine priesterliche Tugend gefährden könnte.«

Sie lachte. Und dann kam der nächste Hustenanfall. Sie krümmte sich unter der Wucht und suchte verzweifelt in der Schürzentasche nach ihrem Taschentuch und der Medizin.

Schnell trank sie die süße klebrige Flüssigkeit, und der Husten ließ allmählich nach. Sie schob das Fläschchen zusammen mit dem Taschentuch in die Tasche zurück, ehe ihr Bruder etwas sehen konnte. Aber er hatte sich noch nie täuschen lassen. Er griff nach ihrem Handgelenk und nahm ihr das Taschentuch aus den kalten Fingern. Da sah er die Blutflecken – die alten dunklen und die hellroten neuen.

Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, aber sie hörte an seiner Stimme, was er empfand. »Ach Bria, Bria ...«

Mehr sagte er nicht, und auch sie schwieg.

Wagnis des Herzens

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