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Sechstes Kapitel

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Der erste Tag im Mai kam mit blauem Himmel und einem idealen Wind zum Segeln.

Emma segelte zum ersten Mal in diesem Frühling mit der Icarus. Und als der Wind in das Hauptsegel fuhr und es sich blähte, warf Emma den Kopf in den Nacken und lachte.

Sie fühlte sich so frei und unbegrenzt wie der blaue Himmel.

Die blendende Helligkeit zwang sie, die Augen zusammenzukneifen, als sie wie gebannt über das weite Wasser dorthin blickte, wo sich der letzte Morgennebel vom Wasser löste. Die Sonne war gerade aufgegangen. Die Welt schimmerte so rosig wie die Innenseite einer Muschelschale, und das Boot neigte sich tiefer ins Wasser, der Bug durchschnitt die Schaumkronen der Wellen, und hinter dem Heck bildete das Kielwasser eine weiße, schäumende Spur. Sie hielt mit einer Hand die Ruderpinne und in der anderen einen Sonnenschirm. Glücklich stemmte sie sich mit beiden Füßen gegen das Süll und hielt das Gesicht in den Wind. Dann überließ sie sich der seltsam rauschenden Stille eines schnellen Segelboots in voller Fahrt.

Die Mädchen in Bristol lernten ungefähr gleichzeitig laufen und segeln. Die Tremaynes hatten ihre Reichtümer stets mit Schiffen erworben, und ihr Schicksal war eng mit dem Meer verbunden. Das Meer und das Segeln lagen ihnen im Blut. Wenn das Segeln nicht eine der geheiligten Traditionen der Tremaynes gewesen wäre, hätte ihr Mama niemals erlaubt, alleine hinauszufahren. Und nur hier an Bord der kleinen Segelyacht, die sich vom Wind davontragen ließ, fühlte sich Emma wirklich frei.

Trotzdem mußte sie den gesellschaftlichen Regeln entsprechend ein Yachtkostüm von Worth tragen. Dazu gehörten natürlich ein Hut und ein Sonnenschirm, damit sich ihr Gesicht nicht rötete und die Haut, Schrecken über Schrecken, womöglich von der Sonne gebräunt würde.

An diesem Tag wollte sie weit hinaus und Poppasquash Point und den Leuchtturm auf Hog Island umsegeln, so daß sie nach dem Wenden lange und ausdauernd gegen den Wind zur Stadt und zum Hafen kreuzen konnte. Es würde Stunden dauern, aber darum kümmerte sie sich nicht. Auf dem Wasser kannte die Zeit wie der Horizont keine Grenzen. Die Welt bestand nur aus Sonne, See und Wind.

Emma hatte nie gewagt, die Bucht zu verlassen und hinaus auf das offene Meer zu segeln, obwohl sie sich oft vorstellte, genau das zu tun. Einmal hatte sie im Atlas nachgesehen, wo sie ankommen würde, wenn sie von Bristol aus geradewegs nach Osten segeln würde. Auf der Landkarte entdeckte sie einen Hafen in Portugal mit dem Namen Viana do Castelo.

Beim Segeln dachte sie fortan mit Vorliebe an eine portugiesische Hafenstadt mit roten Ziegeldächern und engen gepflasterten Straßen, an einen kleinen sonnigen Hafen und an sanfte Hügel, auf denen Olivenbäume wuchsen und Wein angebaut wurde. Obwohl sie sich danach sehnte, wußte Emma, sie würde nie nach Viana do Castelo segeln. Die Einsamkeit und die vielen Gefahren des Ozeans schreckten sie nicht, aber sie fürchtete sich vor seinen unendlich vielen Möglichkeiten. Als sie schließlich den Wendepunkt erreichte, stand die Sonne hoch am Himmel und zauberte Spitzenkrägen aus Licht auf die Wellen. Die Konturen der Stadt, der Bäume und Dächer hoben sich in der Ferne deutlich vor dem Himmel ab.

Wie schon so viele Seeleute vor ihr entschied sie sich, den Kirchturm von St. Michael anzusteuern. In St. Michael waren in den letzten zweihundert Jahren alle Tremaynes getauft und zu Grabe getragen worden – mit Ausnahme all jener, die wie ihr Bruder von den Wellen verschlungen worden waren.

Der Wind blähte die Segel. Das Boot durchschnitt die Wellen, hob und senkte sich klatschend. Sie näherte sich dem Ufer und passierte ein paar Männer in einem Ruderboot, die mit langen Harpunen Aale aus dem Wasser holten. Schließlich sah sie die prächtigen Häuser der Hope Street und das gewölbte Dach des Bahnhofs. Dann näherte sie sich der Baumwollspinnerei mit den hohen schmalen Fenstern und Schornsteinen, aus denen weißer Rauch quoll.

Die Spinnerei stand unmittelbar am Rande des Hafens. Sie hatte einen eigenen Kai, dessen Piers wie die Zähne eines Kamms ins Wasser ragten. Emma reffte das Hauptsegel und ließ das Boot zu einem der Eisenpfähle treiben. Die rauschende Stille des Windes brach sich in einer Welle aus Lärm. Das Stagsegel knatterte, eine Möwe stieß einen lauten Schrei aus, ein Mann sang bei der Suche nach Muscheln, und über allem lag das ununterbrochene Dröhnen der unzähligen Spindeln im Innern der Spinnerei.

Emma vertäute das Segelboot und hakte geschickt und schnell die Taue an Deck an die Klampen. Doch sie ging nicht an Land – noch nicht.

So lange, viel zu lange in ihrem Leben war Emma Tremayne alles immer zugestoßen. Sie mußte sich niemals um etwas bemühen. Manchmal geschahen Dinge, ohne daß sie wußte, warum, und oft, ohne daß sie überhaupt Kenntnis davon nahm. Deshalb dauerte es eine Weile, bis sie richtig begriff, was sie eigentlich tun wollte. Und danach brauchte sie noch länger, um den Mut aufzubringen, das Abenteuer zu wagen.

Langsam richteten sich ihre Augen auf den aus roten Klinkern gebauten, hohen Torbogen der Spinnerei in der Thames Street. Dort war der irische Junge tödlich verunglückt.

Emma war in den besten Häusern von Bristol gewesen, aber sie hatte mit den glänzenden weißen Stiefelchen noch nie einen Schritt in die Spinnerei gesetzt. Hinter dem wuchtigen, eisenbeschlagenen Tor neben einer Stechuhr und den endlosen Reihen kleiner gelber Karten blieb sie zögernd stehen. Um sie herum bebten Wände und Böden unter dem Stampfen der Maschinen.

Ein magerer Mann in einem glänzenden schwarzen Anzug – er trug wendbare Papiermanschetten – verließ bei ihrem Anblick ein Holzhäuschen, das Emma an den Wachturm eines Gefängnisses erinnerte. Sie hatte den Mann noch nie gesehen, doch ihr kam nicht in den Sinn, daß er sie vielleicht nicht kennen würde. Jedermann in Bristol kannte die Tremaynes.

Sie reichte ihm die Hand, obwohl sie etwas zitterte. Emma hielt sich eigentlich für mutig und träumte davon, in die Welt hinauszufahren und sie zu erobern. In Wahrheit konnte es jedoch geschehen, daß eine harmlose Teegesellschaft, zu der sich Leute einfanden, die sie von Kindheit an kannte, ihr Herz heftig schlagen ließ. Sie wußte, ihre Ängste waren unbegründet. Aber schon der Gedanke daran, gemustert und erbarmungslos begutachtet zu werden, verursachte ihr ein flaues Gefühl im Magen, und offenbar konnte sie nichts dagegen tun.

Der Mann sah sie mit großen Augen an, die hinter Brillengläsern, die so dick wie das Glas von Milchflaschen waren, noch größer wirkten. Emma erklärte ihm, daß sie die Spinnerei besichtigen wolle, und der Adamsapfel im mageren Hals des Mannes bewegte sich ruckhaft auf und ab. Schließlich schluckte er nur, nickte und führte sie schweigend zu einem Büro am Ende des Gangs. Dort überließ er sie einem Mr. Thaddeus Stipple, einem kleinen Mann, der so rundlich und speckig war wie ein Walroß.

Mr. Stipple versuchte, Emma zu erklären, daß sie die Spinnerei ganz bestimmt nicht in Augenschein nehmen wolle, denn dort sei es schmutzig, laut und voll von Iren. Und das sei kein Anblick für eine vornehme Dame wie sie. Emma faltete die Hände im Schoß und zwang sich, den Mann anzulächeln. Sie erinnerte ihn daran, wer sie war – genauso wie es ihre Mutter getan hätte –, obwohl ihr dabei peinlich bewußt wurde, daß sie sehr hochtrabend klang.

Er protestierte noch einmal halbherzig und erhob sich schließlich mit einem Seufzer. Höflich forderte er sie auf, ihm in den Hof hinaus zu folgen. Dort stieg er mit ihr eine Eisentreppe hinauf und öffnete eine blechbeschlagene Tür. Sie standen vor einem eisernen Gittersteg. An der Decke über ihnen befand sich ein Gewirr von Kabeln, Drähten, Rohren, Balken und Treibriemen. Aber Emma blickte nur nach unten in die riesige Halle mit den klappernden, stampfenden und rotierenden Maschinen.

Dies, so erklärte Mr. Stipple, sei der Spinnsaal. Er erläuterte ihr die Maschinen: die Zwirnmaschine, die Ringspinnbank und der Wagenspinner. Emma sah jedoch nur ein Labyrinth von Rollen und Zahnrädern, Hebeln und sich drehenden Spulen. Das Hämmern von Eisen gegen Eisen schmerzte in den Ohren. Der Gestank von Schweiß und öligen Dämpfen nahm ihr den Atem. In der Halle herrschte eine schrecklich Hitze, und die Luft war erfüllt von Baumwollstaub, so daß sie zu ersticken glaubte.

Es war eine lärmende Hölle, eine Hölle mit unzähligen Kindern.

Sie sah magere bleiche Mädchen mit gebeugten Schultern in zerrissenen Kleidern. Einige waren so klein, daß sie bei ihrer Arbeit auf Hockern und Kisten stehen mußten. Die blassen Finger bewegten sich flink zwischen den sich drehenden Spindeln. Sie griffen nach gerissenen Fäden, die sie schnell wieder verknüpften, bevor es zu Verschlingungen kommen konnte.

Emma bemerkte einen Jungen, dessen dünne Beine so weiß waren wie Birkenzweige. Der Kleine kroch unter eines der eisernen Ungeheuer, um die spitzen, rotierenden Spindeln mit einer Ölkanne zu fetten. Ein anderer Junge rollte direkt unter ihr einen ganzen Satz Spulen über den von Tabaksaft und Schmieröl glitschigen Boden. Sie konnte sich gut vorstellen, daß er mit den nackten Füßen auf dem schmutzigen Boden ausrutschte, die Arme beim Fallen hochwarf und von den Zahnrädern einer Maschine erfaßt und zu Tode gequetscht wurde.

Welche dieser Maschine war dem irischen Jungen mit dem Namen Padraic wohl zum Verhängnis geworden?

Es blieb ihr unverständlich, wie sie inmitten der Maschinen und der Arbeiter in der Halle die Frau ausmachen konnte. Vielleicht lag es an ihren roten Haaren, die im dunstigen Licht wie eine Fackel leuchteten. Oder es kam daher, daß sie sich als einzige nicht um ihre Maschine kümmerte, die Baumwollflocken zu langem feinen Garn zog und um ein Dutzend rotierende Spindeln wand.

Die Frau blickte mit ihren dunklen, fiebrig glänzenden Augen zu Emma hinauf. Sie hatte die roten Haare mit einer Schnur am Hinterkopf zusammengebunden, aber ein paar Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Die Wangen wirkten bleich und durchsichtig wie Kerzenwachs. Diesmal trug sie keinen weiten Mantel, und Emma sah, daß sich ihr fleckiges Kleid über dem vorgewölbten Leib spannte. Die Frau war schwanger.

Sie machte einen Schritt in Emmas Richtung und hob den Kopf, als wolle sie ihr etwas zurufen, aber ein heftiger Husten schüttelte sie. Die Frau krümmte die mageren Schultern und drückte die Faust an die Brust, während der rasselnde Husten ihren ganzen Körper beben ließ.

Aus dem fadenscheinigen Ärmel ihres abgetragenen Kleids zog sie ein Taschentuch hervor und preßte es vor den Mund. Sie hustete immer heftiger, und Emma fürchtete, sie werde beim nächsten Atemzug ersticken.

Ein Mann, es mußte ein Aufseher sein, wurde auf die Frau aufmerksam und rief ihr etwas zu, das Emma nicht verstand. Die Frau ging zu dem Ringspinner zurück und schob das Taschentuch wieder in ihren Ärmel. Aber Emma war nicht entgangen, daß es blutige Flecken hatte.

Emma beobachtete die Frau reglos. Sie wagte kaum zu atmen und fragte sich, wie es kam, daß sie, Emma Tremayne, in eine so reiche und vornehme Familie hineingeboren worden war.

Warum war sie nicht diese Frau, die in einer Baumwollspinnerei mit jedem Atemzug um ihr Leben rang?

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