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Viertes Kapitel
ОглавлениеBethel fand es seltsam, daß sie an diesem Tag so erfüllt war von Erinnerungen an ihre Mutter. Vielleicht war es aber auch nicht verwunderlich, denn sie war vollauf beschäftigt mit den Plänen für die Hochzeit ihrer eigenen Tochter. Schließlich war die Hochzeit das größte Ereignis im Leben einer Frau.
Emma hatte trotz all ihrer Eigenarten und der typisch Tremayneschen Unberechenbarkeit wenigstens soviel Verstand bewiesen, eine sehr gute Partie zu machen.
Geoffrey Alcott ...
Bethel stieß einen leisen Seufzer der Zufriedenheit aus.
Geoffrey Alcott, einer der New Yorker Alcotts ...
Die Familie lebte bereits über hundert Jahre in Bristol, aber man nannte sie noch immer die New Yorker Alcotts, weil der erste Alcott in New York geboren worden war. Die Leute von Bristol hatten immer schon ein gutes Gedächtnis gehabt. Sie verziehen nichts, und Neulinge wurden mit Mißtrauen bedacht.
Wie auch immer, Geoffrey Alcott sah gut aus, besaß tadellose Manieren, und seiner Familie gab er keinen Anlaß zur Klage. Er war seiner Herkunft und dem Verhalten nach ein echter Gentleman. Und natürlich war er reich.
Vielleicht ließ die Art, wie er um Emmas Hand angehalten hatte, zu wünschen übrig. Es war schon sehr kühn, ihr diese entscheidende Frage während der letzten Fuchsjagd der Saison zu stellen.
Bethel hielt wenig davon, wenn Konventionen nicht eingehalten wurden. Das machte sie unsicher und nervös, denn wer konnte sagen, wozu solche Freizügigkeiten sonst noch führen konnten?
Jedenfalls lag es jetzt an ihr, der Brautmutter, daß die Hochzeit den kleinen faux pas des Bräutigams hinsichtlich Etikette und Tradition in Vergessenheit geraten ließ.
»Es wird eine Jahrhunderthochzeit!« schwor sich Bethel laut, und ihre Worte hallten in der großen marmornen Eingangshalle des Hauses wider wie ein Gebet.
Sie hatte die alte Orangerie verlassen und war durch den Vordereingang ins Haupthaus zurückgekehrt. Sie tat das oft, selbst dann, wenn sie nur von einem kurzen Spaziergang im Garten zurückkam. Sie betrat The Birches wie ein Gast. Gemessen und würdevoll öffnete sie die massive, kassettierte Ebenholztür. Auf diese Weise konnte sie die ganze Pracht des Hauses auf sich wirken lassen. Es erinnerte sie daran, wie weit sie es im Leben gebracht hatte und wie wachsam sie stets sein mußte, um das Ansehen der großen alten Familie zu wahren, in die sie eingeheiratet hatte.
Diesmal durchzuckte sie jedoch ein anderer Gedanke, und sie blieb wie angewurzelt mitten in der riesigen gewölbten Eingangshalle aus Marmor stehen.
William wird zur Hochzeit nach Hause kommen!
Sie legte den Handrücken an ihre glühende Wange. Ihr Herz klopfte so heftig, daß sie glaubte, die Brust werde ihr zerspringen.
Gewiß wird er nach Hause kommen. Er muß kommen. Er muß einfach zurückkommen ...
Sie würde ihm schreiben – nein, sie würde Emma beauftragen, ihm zu schreiben, und ihn bitten, zu ihrem Fest zu kommen. Es konnte nicht angehen, daß ein Mädchen ohne ihren Vater zum Traualtar gehen würde. Er mußte sie nach alter Tradition dem Bräutigam zuführen.
Die Hochzeit würde Bethel endlich die Möglichkeit geben, mit ihm zu sprechen und ihm alles zu erklären. Sie würde ihm sagen, daß es falsch von ihm gewesen war, bei ihr die Schuld für das tragische Geschehen in jener Nacht zu suchen. Sie würde ihm erklären, daß sie nur getan hatte, was getan werden mußte. Sie hatte nur getan, was die Welt von ihr erwartet hatte, für die Familie, für sie alle.
Seine Worte beim Abschied waren verletzend, ungerecht und bösartig gewesen. Er hatte ihr vorgeworfen, herzlos zu sein. Wie konnte er nur so etwas sagen! Bethel hatte alles getan, um ihm eine perfekte und vornehme Frau zu sein – die Frau, die er verdiente. Und sie liebte ihn und die Kinder von ganzem Herzen. Natürlich war es so, daß manchmal andere Pflichten vorrangig waren. Aber die Familie als Ganzes stand immer an erster Stelle, dann erst kam der einzelne. Als ein Tremayne hätte er das verstehen müssen.
Sie war nicht grausam, eigennützig und nur auf Äußerlichkeiten bedacht, wie er ihr das vorgeworfen hatte. Sie wußte, worauf es ankam – das hatte sie schon immer gewußt.
Außerdem war sie noch immer so hübsch wie früher. Sie war schließlich erst zweiundvierzig. Sie würde die wilde Leidenschaft in ihm wieder auflodern lassen, die damals auf dem Ball in Sparta in seinen Augen geglüht hatte. Dazu brauchte sie nur eine Gelegenheit. Sie mußte nur ein einziges Mal wieder mit ihm allein sein.
Bethel zwang sich zu einem Lächeln und schob eine imaginäre Strähne aus der Stirn. Sie sonnte sich im Vorgefühl ihres weiblichen Triumphs, als sie langsam den gestärkten Spitzenkragen ihrer Bluse glattstrich. William würde nach Hause kommen, und das war ihre Chance. Aber sie würde später noch sorgfältig über alles nachdenken und ihre Strategie planen müssen. Die Nachmittagsgäste würden bald eintreffen, und man durfte sie keinesfalls aufgelöst und mit gerötetem Gesicht in der Halle vorfinden. Sie mußte unbedingt erst noch einen Blick in den Salon werfen und sich davon überzeugen, daß dort alles in Ordnung war.
Gemessen und würdevoll durchquerte sie zufrieden die Halle. Den Blick fest auf die verheißungsvolle Zukunft gerichtet, teilte sie die schweren grünen Damastportieren und betrat den Salon.
In der ersten Woche nach ihrer Ankunft in The Birches hatte sie vom Wohnzimmer gesprochen, bis einer der Dienstboten sie korrigierte. Es war einer der Augenblicke größter Demütigung gewesen.
Der Salon bot eine glanzvolle Mischung aus Exotik und Tradition. Zwei Chippendale-Stühle flankierten eine antike chinesische Rosenholztruhe mit Drachenfüßen. Ein Seidenteppich, den tibetische Mönche gewebt hatten, lag auf dem schönen Teakholzfußboden, der jede Woche mit aufgebrühtem schwarzen Tee geputzt wurde.
Zwei große goldene Schalen aus Indien schmückten den Sims des Kamins aus kostbarem Sienna-Marmor. Jeden Tag wurden im neuen Gewächshaus frische amerikanische Teerosen für die beiden Vasen geschnitten. Bethel wollte sich gerade davon überzeugen, daß die Rosen wirklich frisch waren, als sie ein Dienstmädchen sah, das sich über die Klavierleuchte aus Onyx und Lapislazuli beugte, um den Docht zu kürzen.
Bethel wurde nicht laut, aber ihre Stimme schien die Stille wie ein Dolch zu durchstoßen: »Du!«
Das Dienstmädchen schreckte zusammen, drehte sich verwirrt um und starrte sie mit großen Augen an.
»Was tust du zu dieser Tageszeit hier im Salon?« fragte Bethel streng.
In ordentlich geführten Häusern zeigten sich die Dienstboten dann nicht in den herrschaftlichen Räumen, wenn die Familie oder die Gäste dadurch gezwungen sein konnten, sich ihrer Anwesenheit zu erinnern.
Das Dienstmädchen knickste und neigte den Kopf. »Die Lampe qualmte, und ich ...« Sie starrte schuldbewußt zu Boden und strich hilflos mit der freien Hand über die gestärkte Schürze. »Entschuldigen Sie bitte, Madam.«
»Dafür gibt es keine Entschuldigung.«
»Nein, Madam.«
Das Dienstmädchen ging in einem weiten Bogen um Bethel herum zur Tür, blieb dort aber stehen und sah sie unsicher an. »Wir Dienstboten sind sehr glücklich darüber, daß sich Miss Emma mit Mr. Alcott verloben wird.«
Bethel hätte im ersten Augenblick beinahe gelächelt, obwohl sich das nicht gehörte – man zeigte in Gegenwart des Personals keine Gefühle.
»Danke, Biddy«, erwiderte sie.
Die vielen irischen Mädchen, die die Böden schrubbten, überall im Haus Staub wischten und die Herrschaft bedienten, wurden alle »Biddy« genannt. Als Bethel vor vielen Jahren als neue Hausherrin in The Birches eingetroffen war, hatte sie sich besondere Mühe gegeben, die Namen der Dienstboten zu lernen. Aber schließlich wurde sie darauf aufmerksam gemacht, daß solche Vertraulichkeiten unpassend seien.
»Er sieht sehr gut aus«, sagte das Dienstmädchen. »Wirklich gut ... und Mr. Alcott ist so ein Gentleman.«
»Ja, er gilt als einer der begehrtesten Junggesellen in Neuengland. Kein Wunder, er hat nicht nur ein Vermögen von über drei Millionen Dollar geerbt, sondern ...«
Bethel biß sich auf die Lippen. Sie war so entsetzt, daß sie beinahe zitterte. Nichts war vulgärer, als mit einem Bediensteten über Geld zu sprechen! Sie hätte ebensogut den Rock heben und Biddy ihre Unterhosen zeigen können.
Bethel legte die Hand an den Hals und spürte, wie sie errötete. So etwas geschah immer nur dann, wenn ihre Wachsamkeit einen Augenblick lang nachließ, wenn sie nicht an ihre Stellung dachte und sich Erinnerungen überließ, wenn sie Dinge laut aussprach, über die man besser schwieg.
»Das reicht jetzt«, sagte sie.
»Ja, Madam«, murmelte das Dienstmädchen mit gesenktem Blick und eilte aus dem Salon.
Vor den von schweren Vorhängen aus Samt und Brokat eingerahmten Fenstern bewegte sich etwas. Bethel entdeckte ihre jüngere Tochter Madeleine. Sie saß in ihrem Rollstuhl auf der Veranda, wo Farn in großen Kübeln und zwei alte geflochtene Schaukelstühle standen. Emma stand hinter ihr und hatte die Hände auf die Griffe des Rollstuhls gelegt.
Beim Anblick der beiden runzelte Bethel die Stirn. Jetzt würde sie einen Dienstboten rufen müssen, der Maddie und den Rollstuhl ins Haus zurückbrachte. Das würde erneut Unruhe schaffen, die sie an diesem Nachmittag nicht brauchen konnten.
Und Emma ... gut, sie hatte das beige Samtkleid angezogen, aber das war bestimmt in größter Eile geschehen, wenn sie so schnell wieder auf der Veranda stehen konnte. Und jetzt riskierte sie noch, daß sich ihr in der feuchten Hitze die Wangen röteten und die Haare kräuselten.
Als Bethel so hinausblickte, wandte sich ihre Tochter halb dem Fenster zu. Sie lachte, und ihr Gesicht schimmerte hell im grauen Licht des dunstigen Nachmittags. Der Wind fuhr spielerisch durch die dunkelbraunen Locken. Die sanft geschwungene Wange erinnerte Bethel unwillkürlich an einen Engel.
Bethel fühlte einen schmerzlichen Stich in der Brust. Es ist einfach nicht richtig, dachte sie, daß es einer Mutter angesichts der Schönheit der eigenen Tochter den Atem verschlägt.
In diesem Augenblick hellte der Himmel draußen auf, und das Licht verwandelte die Fensterscheiben in Spiegel, in denen Bethel plötzlich ihr eigenes Antlitz sah. Sie hob die Hand und berührte das Glas, als sei es das stille Wasser eines Teichs, das sie nur in Bewegung bringen mußte, um ihr Spiegelbild zum Verschwinden zu bringen. Wie war sie plötzlich so alt geworden?
Bin ich noch immer hübsch, Mama?
Die hellblonden Haare glänzten nicht mehr so wie früher, und sie mußte ihre Fülle durch Haarpolster vortäuschen. Sie trug nur noch hochgeschlossene Spitzenkragen, um die Falten an Hals und Kinn zu verbergen. Die Augen waren jedoch noch immer himmelblau, aber die vielen Krähenfüße blieben hartnäckig, obwohl sie schon seit langem aufgehört hatte zu lächeln. Es gab für sie keinen Grund mehr zu lächeln.
Ein Gefühl hohler Leere überkam sie. Irgendwo in ihr lebte noch das bezaubernde Mädchen, das mit Gardenien im Haar und großen Hoffnungen auf einen Ball gegangen war.
Ein Windstoß traf das Fenster, und sie schloß die Augen. Als Bethel sie wieder aufschlug, verhüllten die Wolken von neuem die Sonne. Das Spiegelbild war verschwunden, und sie sah nur noch ihre junge und hübsche Tochter Emma, deren ganzes Leben wie eine glänzende Straße – gerade und sicher – vor ihr lag.
Und als ihre Tochter lachend den Kopf zurücklegte – ein Lachen, das Bethel nicht hörte –, hatte sie das seltsame Gefühl, in ihrem Leben etwas Bedeutendes verpaßt zu haben.
»Du mußt sehr glücklich sein, Emma. Eigentlich müßtest du wie ein reifer, saftiger Pfirsich vor Freude platzen.«
Emma blickte lächelnd auf die hellen Haare ihrer Schwester. »Das klingt sehr klebrig«, erwiderte sie und lachte noch mehr, als Maddie auch über ihre Antwort lachen mußte. Sie legte ihre Hand auf die Schulter ihrer Schwester und drückte sie sanft. »Ich bin überhaupt nicht sehr glücklich, wenn ich daran denke, daß ich dich und Mama verlassen werde.«
Das Zuhause verlassen.
Emma blickte über den vom Winter zerzausten Rasen, der bis zu dem dichten Birkenwald hinter dem Haus reichte. Die tief ziehenden Wolken schienen die Baumwipfel zu streifen. Der salzige Wind fuhr durch die kahlen Äste. Doch der Frühling würde wie in jedem Jahr auch dieses Mal mit Sicherheit kommen. Emma spürte schon das hoffnungsvolle Sehnen des Frühlings in ihrem unruhig klopfenden Herzen.
Maddie griff nach der Hand ihrer Schwester. Ihre Augen glänzten feucht, ob vom Lachen oder von zurückgehaltenen Tränen, konnte Emma nicht sagen. Vielleicht war auch der kalte und salzige Wind schuld daran.
»Ach, sei still!« rief Maddie. »Benimm dich nicht wie ein Schaf. Erstens wird die Hochzeit erst in zwei Jahren sein. Außerdem ziehst du nur in das Haus in der Hope Street. Wenn du willst, kannst du uns jeden Tag besuchen, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum du das tun solltest. Aber gib es doch zu: Ein Traum wird wahr, du heiratest den Mann, den du liebst.«
Emma blickte wieder zu den Birken vor dem Haus, um ihrer Schwester nicht in die Augen sehen zu müssen. Gewiß, sie liebte Geoffrey. Allerdings fiel es ihr noch immer schwer zu entscheiden, ob die Heirat mit ihm wirklich ihr eigener Traum war oder das, was alle anderen sich für sie erträumten.
»Aber du bist so schön«, sagte Maddie. »Du hättest jeden Mann haben können, der dir gefällt ...«
»Jetzt bist du das Schaf!« rief Emma. Sie bemühte sich immer sehr so zu tun, als gäbe es ihre Schönheit nicht, denn diese Schönheit besaß eine Macht, die sie zwar erkunden wollte, vor der sie sich aber fürchtete. »Mir gefällt nun einmal Geoffrey und nicht irgendein anderer Mann.«
»Das wäre wirklich schrecklich, wenn du die Frau irgendeines Mannes würdest«, erwiderte Maddie und imitierte dabei die Aussprache ihrer Mutter. Emma lachte.
Maddie drehte sich um und ließ die Hände in den Schoß sinken. Sie seufzte, obwohl es nicht besonders traurig klang. »Weißt du noch, wie wir uns gestritten haben, wer von uns beiden Stuart heiraten würde?«
»Das stimmt nicht. Das habe ich bestimmt niemals getan!«
Maddie lachte wieder. »Aber natürlich, ich erinnere mich ganz genau.«
»Oh, wie peinlich!« Emma legte die Hand an die Stirn und tat, als falle sie in Ohnmacht. »Damals war ich vermutlich noch sehr jung und ließ mich wohl noch vom Aussehen blenden, ohne auf den Charakter zu achten.«
»Stuart hat viel Charakter«, widersprach Maddie. »Er hatte es immer schwer, weil Geoffrey stets der perfekte Sohn war.« Sie seufzte. »Der arme Stuart. Ich mache mir manchmal Sorgen um ihn.« Ihre Stimme klang plötzlich weich, und sie blickte versonnen und sehnsüchtig in die Ferne. »Ja, trotz allem ...«
Emma mußte schlucken. Sie hatte ihrer Schwester noch nicht erzählt, daß Stuart Alcott wieder zu Hause war, denn das würde Madeleine nur Kummer bereiten. Außerdem war da der Gedanke an den schrecklichen, aber unvermeidlichen Augenblick, wenn er sie in ihrem jetzigen Zustand sah. Als Stuart vor sieben Jahren Bristol verlassen hatte, war Madeleine Tremayne ein fröhliches zwölfjähriges Mädchen gewesen mit Sommersprossen auf der Nase und einem sonnigen lachenden Mund. Sie hatte immer etwas vor – entweder wollte sie schwimmen, Tennis spielen, reiten oder Schlittschuh laufen. Mit den verkrüppelten Beinen war sie nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst.
Emma vermutete, daß Maddie schon immer in Stuart verliebt gewesen war. Für sie mochte der extravagante und sündhaft gutaussehende Bruder von Geoffrey mehr als nur eine törichte Jugendliebe gewesen sein. Maddie hatte allerdings nie über ihre Gefühle gesprochen.
Aber sie sprachen ebensowenig über die quälenden Alpträume, die sie alle bedrohten und unter denen sie alle litten. Für Maddie würde es ohnehin nie eine Hochzeit geben. Sie würde weder Stuart Alcott noch einen anderen Mann heiraten. Emma erinnerte sich plötzlich an einen Tag, als sie alle noch Kinder waren. Sie hatten hier auf der Südterrasse mit den Farnen gesessen und den Schaukelstühlen, die hier schon standen/als ihr Vater noch ein Junge gewesen war.
Es war im Sommer gewesen, an einem jener seltenen heißen Tage, an denen sich die Birkenblätter einrollen und vor Hitze knistern.
Emma erinnerte sich daran, daß sie barfuß lief. Es war ein wundervolles Gefühl, die Zehen auf den glatten lackierten Dielen der Terrasse zu spüren. Sie trugen Badekostüme, denn sie waren gerade vom Schwimmen in der Bucht zurückgekommen. Der schwarze nasse Flanell, der sie vom Kinn bis zu den Knöcheln einhüllte, klebte förmlich an der Haut. Alles juckte. Sie waren damals noch so jung – das heißt sie und Maddie. Die Alcott-Brüder mit ihren vierzehn und siebzehn Jahren schienen schon beinahe erwachsene Männer zu sein.
Irgendwie redeten sie über die Zukunft. Stuart erklärte, er werde ein Zirkusmädchen heiraten. Maddie lachte und lachte ohne Unterlaß, als sei das furchtbar komisch, obwohl sie mit sieben kaum wissen konnte, was ein Zirkusmädchen war.
Emma wollte nicht zurückstehen und sagte, sie werde davonlaufen und in Paris in einer Mansarde mit einem Mann leben, der eine Baskenmütze trug und Zigaretten rauchte. Für sie werde es nur die freie Liebe geben, erklärte Emma, obwohl sie mit zehn Jahren überhaupt nicht wußte, was das bedeutete.
Damals hatte Geoffrey erwidert: »Du bist eine dumme Gans, Emma Tremayne. Du wirst mich heiraten.«
Emma wollte ihn auf die Nase boxen, weil er sie eine dumme Gans genannt hatte, aber er wich ihrem Schlag aus, und sie traf den Pfosten der Veranda. Sie verletzte sich die Hand an einer holzgeschnitzten Ananas so schwer, daß die Wunde mit drei Stichen genäht werden mußte.
Und jetzt stand sie hier und würde sich mit Geoffrey Alcott verloben. Es ist mein Schicksal, dachte Emma und spürte einen Schauer, eine Art ahnungsvolle Angst. Es war unvermeidlich gewesen und jetzt endgültig. Es war zu spät, um noch etwas zu ändern, selbst wenn sie es gewollt hätte.
Nun ja, ihr Bruder war tot und ihre Schwester ein Krüppel. Damit blieb nur sie, Emma, die heiraten, Kinder haben und den Fortbestand der Familie und der Traditionen sichern konnte.
Wenn Willie doch nur ...
Aber sie hatte kein Recht, an Willie zu denken, sich vorzustellen, daß er sie vielleicht befreit hätte, wenn er am Leben geblieben wäre.
Maddie hatte eine Weile geschwiegen. Emma beugte sich ein wenig vor und sah die Spur einer getrockneten Träne auf der Wange ihrer Schwester. Sie bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie die vielen Segnungen des Himmels so gering schätzte, während die arme Maddie um das trauern mußte, was sie nie haben würde.
Emma wünschte sich plötzlich, mit ihrer Schwester über Willie reden zu können, über die Wahrheit, seinen Tod und über die Lücke, die diese Tragödie in ihr Leben gerissen hatte.
Wir werden nie wieder darüber sprechen.
Willie war damals, an jenem heißen Sommertag, auch dabei gewesen. Er hatte still, wie es seine Art war, in einem der Schaukelstühle gesessen. Er hatte sich über Maddie lustig gemacht, weil sie über das Zirkusmädchen lachte, und er hatte das Blut an Emmas Hand mit seinem Taschentuch gestillt. Aber er hatte an diesem Tag nicht viel gesprochen. Von ihnen allen hütete Willie die Geheimnisse seines Herzens am besten.
Der Wind rauschte in den Birken, und aus den grauen Wolken fiel eisiger Regen. Emma hörte in ihrem Rücken das leise Lachen eines Jungen und das Quietschen des alten Schaukelstuhls.
Aber als sie sich umdrehte, saß niemand dort.