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Zweites Kapitel

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Zuerst roch sie ihn, scharf und beißend.

Dann erst konnte Emma ihn sehen. Der Fuchs kauerte auf einer Mauer, die von alten Ranken überwachsen war. Er regte sich nicht, als sei er bei ihrem Anblick erstarrt. Sie hatte das Pferd gezügelt und wartete.

Das rostrote Fell fiel ihm in großen Büscheln aus. Beuteblut befleckte seine Schnauze. Er blickte mit schwarzen, glänzenden Augen unverwandt auf sie.

Emma hatte das seltsame Gefühl, daß er sie mit seinen Augen stumm darum bat, ihn nicht zu verraten.

Die Jagdgesellschaft hatte sich am Waldrand verteilt. Pferde und Reiter warteten darauf, daß die Hunde eine Spur aufnehmen und den Fuchs aus seinem Versteck treiben würden.

Emma war mit ihrer Stute etwas weiter weg geritten, bis zu einer Mauer, die den Birkenwald von den Feldern eines Zwiebelbauern trennte, der versuchte, auf dem salzigen Sumpfland seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften.

Der Fuchs kroch langsam und geduckt aus dem Schatten. Sein Bauch streifte dabei die rauhen Steine der Mauer. Dann verharrte er plötzlich wieder, und Emma stellte fest, daß sie und der Fuchs doch nicht so ganz allein waren. Der Ire stand mit seinem kastanienbraunen Pferd zwischen den schlanken grauen Birkenstämmen. Emma zweifelte nicht daran, daß er den Fuchs ebenfalls bemerkt hatte. Sie wartete darauf, daß er seine Pflicht als Pikör erfüllte, sich in den Steigbügeln aufstellte und den gesichteten Fuchs durch ein lautes »Hollaho!« verriet.

Aber der Mann tat nichts, als versuche er, dem Fuchs eine Möglichkeit zu geben, sich davonzumachen.

Emma und er blickten sich gegenseitig an, und der Fuchs starrte auf sie beide. Etwas Gleißendes, Elektrisierendes wie ein Blitz schien durch sie alle drei hindurchzufahren und sie zu lähmen.

Der Fuchs bewegte sich als erster. Er drehte sich um und sprang in riesigen Sätzen auf der Mauer davon. Sein langer schöner buschiger Schweif entschwand ihren Blicken. Aber mit jedem Satz hinterließen die Duftdrüsen an seinen Pfoten eine Fährte, der die Hunde mühelos folgen konnte.

Emma und der Ire verharrten noch lange, nachdem der Fuchs längst verschwunden war, ohne den Blick voneinander zu lösen. Es verging eine Ewigkeit oder vielleicht war es auch nur ein kurzer Augenblick, bevor die Hunde anfingen zu bellen. Jetzt hatten sie die Spur aufgenommen. Emma hörte ihren Vetter Aloysius fröhlich rufen: »Hollaho!« Es folgten drei kurze beherzte Töne aus seinem Horn.

Die Meute war dem Fuchs auf der Spur.

Emma setzte mit ihrer Stute kraftvoll und entschlossen über die Mauer. Sie flog mühelos durch die Luft und landete weich und geschickt auf der anderen Seite. Dann galoppierte sie über ein noch ungepflügtes Feld. Sie verfolgte nicht den Fuchs, sondern genoß die Schnelligkeit, das ungehinderte Dahinjagen auf dem Pferderücken. Sie wollte reiten, einfach nur reiten!

Der Wind schlug ihr ins Gesicht und pfiff ihr um die Ohren. Der starke Rücken der Stute spannte und streckte sich zwischen ihren Beinen. Emma schien mit dem Pferd wie verwachsen. Himmel, Erde und Bäume flogen ihr durch Raum und Zeit entgegen. Es war ein Rausch, der ihr das Gefühl gab, alle Hindernisse bewältigen zu können.

Plötzlich hörte sie hinter sich Rufe und trommelnde Hufe, die immer näher kamen. Sie war sicher, daß er es war, der ihr folgte, und sie trieb die Stute an – noch schneller, immer schneller jagten sie dahin. Jetzt floh sie vor ihm. In ihre sich steigernde Erregung mischte sich plötzlich Angst.

Sie sprangen über eine breite Hecke. Auf der anderen Seite fiel das Land jäh ab. Vor ihnen lag eine langgestreckte Sumpfwiese. Sie hörte einen überraschten Ausruf und sah aus den Augenwinkeln, wie das andere Pferd stolperte. Es war ein hellbraunes, kein kastanienbraunes Pferd. Dieses Pferd war die ganze Zeit hinter ihr gewesen.

Emma warf einen Blick über die Schulter und sah, wie sich Stuart Alcott helfend über den gestürzten Reiter beugte. Sie zügelte ihre Stute und fiel in leichten Galopp. Schlamm und Wasser spritzten um sie herum auf. Schließlich ging das Pferd im Schritt. Die Flanken der Stute hoben und senkten sich wie ein Blasebalg. Der Atem drang wie weiße Dampfwolken aus ihren Nüstern. Der pfeifende Wind verwandelte sich in eine schwache Brise, und die Welt um sie herum wurde wieder ruhig.

Sie hatten eine freie Stelle mit einem Salztümpel erreicht, an dessen Ufer Astern und Schilf wuchsen. In der Nähe stand eine verlassene Windmühle. Ihre Flügel hatten im Laufe der langen Jahre eine tiefe Furche in die sumpfige Erde geschlagen, die nach feuchtem Torf roch. In der Nähe der Mühle befand sich ein alter Friedhof. Durch das eingefallene Dach der Friedhofskapelle wuchs eine Kiefer. Ein Haus gab es dort nicht. In dieser Wildnis gab es nur hohes Gras und das Moor, wo die Geister der Indianer hausten.

Plötzlich rissen die Wolken auf, und durch die hellen Löcher im Himmel schossen Sonnenstrahlen. Emma legte den Kopf zurück und spürte die warme Sonne auf der Haut. Es hatte fast so ausgesehen, als sei das Land auf ewig vom Winter gefangen, aber jetzt war der erste Anflug von Frühling da.

Für Emma brachte der Frühling stets eine gewisse Enttäuschung mit sich, so als habe sie erwartet, daß sich ihr Leben mit den Jahreszeiten verändern würde, aber das geschah nie.

Ein Zweig knackte, sie zuckte zusammen und fuhr herum. Ein Pferd trabte durch das Gras. Es war das Hellbraune. Sein Reiter war mit Schlamm bespritzt.

Sie wartete schüchtern und doch seltsam unbeschwert, bis er sie erreicht hatte. Als er nahe genug herangekommen war, zog sie aus der Satteltasche ein weißes Leinentaschentuch, beugte sich zur Seite und wischte ihm die Schlammspritzer vom Gesicht. Dabei wagte sie sogar, ein wenig zu spotten.

»Ich habe gehört, daß man sein Herz verlieren kann, aber doch nicht den Kopf«, sagte sie.

Geoffrey Alcott lachte und schüttelte den Kopf. »Du reitest, als würde hinter dir die Welt in Schutt und Asche versinken, Emma. Eines Tages wirst du dir noch den Hals brechen ... oder ich, wenn ich versuche, mit dir Schritt zu halten.«

Sie richtete sich auf. Dabei fiel ihr Blick auf das Taschentuch, das sie in der Faust zerknüllte. Gewiß, er hatte bei seinen Worten gelacht, aber ihr entging der Anflug des Vorwurfs nicht. Sie wußte, daß es sich nicht schickte, was sie getan hatte. So durfte eine Dame nicht reiten.

Aus dem Wald hörte sie das aufgeregte Bellen der Meute und dann zwei langgezogene Töne des Jagdhorns. Das bedeutete, die Hunde hatten die Fährte verloren. Es freute sie, denn diesmal wollte sie, daß der Fuchs entkam.

»Emma ...«

Sie blickte noch immer auf ihre Hände, aber sie bemühte sich, unbekümmert, ja sogar kokett zu klingen, obwohl sie darin nicht sonderlich begabt war.

»Ach du liebe Zeit! Jetzt machst du mir Vorwürfe, weil ich ohne Grund Mauern, Zäune und Hecken überspringe, anstatt brav den Hunden zu folgen.«

»Heirate mich, Emma.«

Sie glaubte, ihr sei das Herz stehengeblieben. Und wirklich, es hatte einen Schlag ausgesetzt. Als es wieder klopfte, fühlte sie das unruhige Pochen bis zum Hals. Auf diesen Augenblick hatte sie seit Monaten gewartet. Jetzt war es soweit, und sie wußte nicht, wie sie damit umgehen sollte.

Schließlich wagte sie es, ihn anzusehen.

Seine Augen waren so grau wie Eis auf einem See. Das blaßbraune Haar hatte die Farbe von Tee, auf den die Sonne fiel. Er galt allgemein als gutaussehender Mann. Sie kannte Geoffrey schon so lange und wußte beim besten Willen nicht, ob sie ihn liebte oder nicht.

»Ich hatte nicht vor, damit einfach herauszuplatzen«, sagte er.

»Willst du deinen Antrag zurücknehmen?«

»Nein!«

Er lächelte sie schuldbewußt an. Wenn er lächelte, sah er nicht so gut aus, denn er hatte lange, etwas vorstehende Zähne. Aber Emma mochte an ihm vor allem sein Lächeln. Es hatte einen Anflug von liebenswerter Wehmut, bei der es ihr warm ums Herz wurde, als ob sie beide ein besonderes Geheimnis teilten.

»Ich bin bereit, es von allen Dächern zu rufen, wenn es sein muß«, sagte er. »Obwohl ich nicht unbedingt möchte, daß die ganze Welt deine Antwort hört ..., für den Fall, daß du mich nicht abweist.«

Aber damit rechnete er nicht wirklich, das konnte sie an seinem besitzergreifenden Blick sehen. Seine Augen leuchteten erwartungsvoll, und es lag noch etwas in ihnen, etwas Ungezähmtes, Starkes, eine Art Leidenschaft, die sie erschrecken ließ, aber sie auch erregte.

Emma fragte sich, ob er jetzt sagen würde, daß er sie liebte. Wahrscheinlich gab es dafür eine feste Reihenfolge im Katalog der Regeln, die ihrer beider Leben so nachdrücklich beherrschten. Wann war der Augenblick gekommen, an dem er diese Worte zum ersten Mal aussprechen konnte? Vielleicht durfte er ihr in der Hochzeitsnacht seine Liebe gestehen. Das hoffte sie, denn in der Welt, in der sie lebten, schien es oft so, als sei nach einem oder zwei Jahren Ehe nur wenig Liebe übrig, die man hätte gestehen können.

»Emma«, sagte er noch einmal, und diesmal klang es ungeduldig. Sie konnte ihn nicht mehr ansehen, aber sie spürte seinen Blick auf sich ruhen, auf ihren Lippen, als versuche er, die entscheidenden Worte von ihr zu erzwingen. Geoffrey war bekannt dafür, daß er alles bekam, was er wollte – und offensichtlich wollte er sie haben.

»Vermutlich hätte ich zuerst in aller Form bei deinem Vater um deine Hand anhalten müssen, aber da er nicht hier ist und wir uns schon so lange kennen ... Du bist bereits zweiundzwanzig. Wir schreiben das Jahr 1890, und du bist ein modernes Mädchen, deshalb habe ich gedacht ...«

Emma ließ den Kopf sinken, um ein Lächeln zu verbergen. Geoffrey Alcott redete aus Verlegenheit. Hielt er sie wirklich für ein »modernes« Mädchen? Gewiß, sie war bereits zweiundzwanzig und damit praktisch eine alte Jungfer. Ihre Mutter hätte sich vor Entsetzen geschüttelt, wenn ihr diese Worte zu Ohren gekommen wären.

»Emma, du quälst mich, wenn ich so lange auf deine Antwort warten muß«, sagte er. Aber dann lachte er, damit sie wußte, daß er sie neckte. Ein Alcott ließ nicht zu, daß ihn irgend etwas quälte.

Doch als er die Hand hob und ihr einmal mit dem Daumen über die Lippen fuhr, wurde sie plötzlich atemlos. Es war dasselbe Gefühl, das sie hatte, wenn sie auf dem Pferderücken über Zäune sprang.

Vielleicht liebte sie ihn doch.

»Ja«, sagte sie, erstaunt über den unsicheren Klang ihrer Stimme. »Ich werde dich heiraten, Geoffrey Alcott.« Jetzt blickte sie zu ihm auf und lächelte glücklich und gleichzeitig schüchtern. Sie dachte, er werde sie vielleicht küssen, und wartete mit angehaltenem Atem auf den Kuß. Deshalb zuckte sie zusammen, als er ihre Hand nahm.

Langsam und behutsam öffnete er nacheinander die drei winzigen schwarzen Jettknöpfe ihres Reithandschuhs. Er führte die Hand an seinen Mund und drückte die Lippen auf die Innenseite ihres Handgelenks, wo die blaue Ader heftig und schnell unter der zarten Haut klopfte.

Der Fuchs war auf den Stamm einer vom Blitz gefällten Zeder gesprungen. Er befand sich über dem Boden, gerade außerhalb der Reichweite der Hunde, aber er saß jetzt in der Falle. Die Hunde drängten sich um den Baum und schnappten mit gefletschten Zähnen in die Luft. Sie hatten an diesem Tag noch kein Futter bekommen. Der Hunger verlieh ihrem Gebell etwas Wildes.

»Die Hunde sollen ihn haben!« rief Aloysius Carter seinem Pikör zu. »Ich habe gesagt, die Hunde sollen ihn haben, du verdammter, dreckiger halsstarriger Ire!«

Aber Emma sah, daß der Ire nicht auf ihn hörte. Mit knallender Peitsche war er mitten in die Meute geritten und versuchte, die Hunde zum Rückzug zu zwingen, sie von dem gestürzten Baum zu vertreiben. Die Hunde fügten sich, obwohl sie hungrig und aufgeregt waren, doch plötzlich verlor der Fuchs auf dem taufeuchten Stamm den Halt.

Einen Augenblick lang schien er in der Luft zu schweben, dann fiel er mitten in zwanzig knurrende und schnappende Mäuler.

Der Fuchs stieß einen einzigen lauten Schrei aus, als ihn die ersten Zähne an der Kehle packten. Dann sah Emma nur noch die weiße Spitze seines Schwanzes. Alles andere verschwand unter den Hunden.

Das Horn blies einen langen klagenden Ton und gab damit das Totsignal.

Emma hatte den Blick abgewandt, als der Fuchs in die Meute gefallen war. Aber trotzdem hörte sie, wie ihr Vetter Aloysius den Hunden zurief: »Zerreißt ihn! Tötet ihn!«

Sie und Geoffrey saßen Seite an Seite auf ihren schnaubenden Pferden. Er sah zu, wie der Fuchs starb, aber sein Gesicht verriet nichts von seinen Gefühlen.

»Geoffrey? Möchtest du nicht auch manchmal, daß der Fuchs entkommt?«

Er starrte sie an, als hätte sie etwas auf chinesisch zu ihm gesagt. »Bitte?«

»Der Fuchs! Ich hatte mir gewünscht, daß er entkommt.«

Ein zärtlicher Blick erhellte sein Gesicht. Er beugte sich vor und tätschelte den Ärmel ihres Reitkostüms.

»Mein armer Schatz«, sagte er. »Was hast du doch für ein weiches kleines Herz.«

Emmas Augen schmerzten, als werde sie im nächsten Moment in Tränen ausbrechen. Sie zog ihren Arm zurück, so daß er sie nicht mehr berühren konnte, und ließ die Stute etwas rückwärts gehen, obwohl sie nicht wußte, weshalb sie plötzlich nicht mehr in seiner Nähe sein wollte. Geoffrey war ebenso wenig oder ebenso sehr für den Tod des Fuchses verantwortlich wie sie.

Geoffrey entdeckte seinen Bruder und rief ihm zu: »Stuart! Miss Tremayne hat mir gerade die Ehre erwiesen und mir versprochen, meine Frau zu werden.«

Stuarts Lachen klang hart. »Auf einer Fuchsjagd? Du liebe Zeit, Geoffrey ... welch erstaunliche Spontaneität! Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

Emma vermied es, den Iren, diesen merkwürdigen Mann, noch einmal anzusehen, aber jetzt ließ er sie nicht mehr aus den Augen. Emma spürte seinen Blick so deutlich wie den unruhigen Pulsschlag an ihrem Hals.

»Wer ist dieser Mann?« fragte sie plötzlich.

»Wer?« Geoffrey drehte sich im Sattel um. »Er? Der Pikör?« Er schien überrascht, daß sie einen Dienstboten überhaupt zur Kenntnis nahm. Sie waren im allgemeinen unsichtbar und hatten nicht einmal Namen.

Geoffrey wollte den Mann durch seinen Blick zwingen, sich abzuwenden. Aber er ließ sich nicht beirren. Seine Augen richteten sich unverwandt auf Emma.

»Offenbar«, murmelte Geoffrey verächtlich, »will der Stallknecht diesen Tag dazu nutzen, sich Dinge herauszunehmen, die ihm nicht zustehen. Ich werde mit ihm reden. Er hat kein Recht, dich anzusehen.«

Wie dumm, so etwas zu sagen, dachte Emma. Der Mann hatte das Recht, anzusehen, wen oder was er ansehen wollte. Außerdem hatte sie ihn angesehen. Aber Emma schwieg, denn sie hoffte, daß Geoffrey mit ihm reden würde. Sie wollte, daß dieser Mann ... nein, sie wußte nicht genau, was sie eigentlich wollte. Vermutlich wäre es besser für ihn, nicht dazusein, um sie anzusehen.

Stuart Alcott ritt auf sie zu. In der elegant behandschuhten Hand hielt er die Lunte – ein feuchtes blutiges Etwas von rotem Fell. Von ihrer Schönheit war nichts geblieben.

»Die Schöne des Tages verdient die Trophäe!« rief er laut genug, daß alle es hörten. Dabei lächelte er leicht boshaft.

Geoffrey erwiderte das Lächeln mit unverhohlenem Triumph.

»Emma verdient die ganze Welt.«

»Statt dessen bekommt sie dich«, erklärte Stuart trocken.

Aber Geoffrey lachte nur und nahm die Lunte aus der ausgestreckten Hand seines Bruders.

»Geoffrey, ich will sie nicht«, sagte Emma.

Aber ihr Verlobter drapierte den blutigen Fuchsschweif bereits über den Knauf von Emma Tremaynes Sattel.

Eine Frau wartete am Tor der Hope Farm auf die Jagdgesellschaft. Sie hielt ein totes Kind im Arm.

Seit über einem Jahrhundert hielt der riesige Kieferknochen eines Wals Wache am Tor. Vor langer, langer Zeit hat ein Tremayne, der als Schiffskapitän zur See fuhr, ihn dort aufgestellt. Der Kieferknochen war wie altes Treibholz zu einem hellen Grau ausgebleicht. Die Frau wirkte vor diesem imposanten Hintergrund wie ein lodernder Busch. Lange, leuchtendrote Haare verdeckten ihr Gesicht. Sie trug einen kürbisgelben Mantel, den sie aus dem Müll gefischt zu haben schien. Er war am Saum ausgefranst und viel zu groß für sie.

Die kleine zierliche Frau schwankte unter dem Gewicht in ihren Armen. Das Kind war ohne Zweifel tot und schrecklich verstümmelt. Ein Arm war so heftig aus seiner Schulter gerissen, daß der weiße Knochen aus dem blutigen Fleisch herausragte. Der Kopf war nur noch ein blutiger Schädel ohne Haare.

Der dunkle und gequälte Blick der Frau wanderte von einem Alcott-Bruder zum anderen. »Und wer von Ihnen beiden ist der feine vornehme Herr, dem die Spinnerei in der Thames Street gehört?«

»Zum Teufel, mich müssen Sie nicht ansehen«, durchbrachen Stuarts Worte die verlegene Stille. Er wies mit dem Finger auf seinen Bruder. »Ich gebe nur das Geld aus, das er verdient.«

Ein paar der Männer lachten sogar. Allerdings verstummten sie auf der Stelle, als die Frau einen schwankenden Schritt auf sie zu machte.

»Mörder!« schrie sie. »Ihr alle seid nichts als gottlose Mörder!« Ihr wilder Blick richtete sich auf Geoffrey Alcott. »Aber ich bin eigentlich nur hierher gekommen, um Sie zu sehen!«

Geoffrey wurde blaß. Doch dann neigte er leicht den Kopf, als werde er gerade in einem Salon vorgestellt. »Ich stehe zu Ihren Diensten, Madam.«

Die Frau versuchte, die Leiche des Jungen hochzuheben, als wolle sie Geoffrey ein Geschenk überreichen. Einen Augenblick lang sah es aus, als werde sie rückwärts unter der Last zu Boden stürzen.

Tränen strömten aus ihren dunklen Augen, aber ihre Worte klangen jetzt sanft und zärtlich, als wiege sie ein Kind in den Schlaf.

»Er ist in eine Ihrer Spinnmaschinen gefallen, während er sich mit den Garnrollen abmühte. Ich dachte, Sie würden sehen wollen, was Ihr großes schwarzes Ungeheuer von einer Maschine angerichtet hat, bevor wir ihn beerdigen.«

Emma konnte das tote Kind nicht ansehen, konnte den Blick aber auch nicht abwenden. Ihre Augen richteten sich schließlich auf den schmalen nackten Fuß, der von Schmutz und Schmierfett schwarz war.

»Die Spinnmaschine hat ihm den Arm abgerissen und die hübschen blonden Locken vom Kopf. Sie hat ihn skalpiert so wie eine Ihrer Rothäute.«

Geoffrey räusperte sich. »Ich bedaure aufrichtig Ihren Verlust, Madam«, sagte er, und Emma bemerkte, daß seine Stimme den sanften Ton angenommen hatte, in dem er auch oft mit ihr sprach. »Aber ich muß Sie daran erinnern, daß, als Sie den Jungen zur Arbeit in der Spinnerei brachten, Sie mit ihrem Zeichen auf einem Dokument ausdrücklich zugestimmt haben, für mögliche Verletzungen und Schäden, die auf Nachlässigkeit und Unerfahrenheit zurückzuführen sind, keine Ansprüche geltend zu machen.«

Ein heftig Seufzer entrang sich der Brust der Frau. »Ah! Nachlässigkeit, sagen Sie! War es wirklich Nachlässigkeit, die ihn auf dem schmierigen Boden, der in all den Jahren, seit Sie Besitzer dieser Spinnerei sind, bestimmt noch nie geputzt worden ist, den Halt verlieren ließ? War es leichtsinnig von ihm, Stunde um Stunde ohne Pause und ohne Hoffnung darauf, sich ausruhen zu können, Ihre Garnrollen zu schleppen, bis seine armen kleinen Beine so erschöpft waren, daß sie ihn nicht länger aufrecht halten konnten? Vielleicht war es leichtsinnig von ihm, sein kurzes Leben lang für einen Hungerlohn als Ihr Sklave zu schuften, um Euch reiches vornehmes Volk noch reicher zu machen, und dann zu sterben!«

Zu Emmas Entsetzen richtete sich der Blick der Frau plötzlich auf sie. »A mhuire. Sehen Sie sich Ihre feine Dame an, die dort auf dem hübschen Pferd sitzt. Sie trägt die feinen Sachen, die aus dem Elend und dem Tod armer kleiner Kinder gewirkt werden, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden!«

In den Augen der Frau, in ihrem ganzen Gesicht lag nichts als Schmerz. Emma senkte betroffen den Kopf und sah, daß von dem klebrigen Fuchsschweif Blut auf die glänzende schwarze Spitze ihres Reitstiefels tropfte.

Die anderen Reiter der Jagdgesellschaft drängten sich neben dem Walkiefer vor dem Tor. Sie konnten die Frau nicht ignorieren und einfach weiterreiten. Sie wußten aber auch nicht, wie sie mit diesem unerfreulichen Zwischenfall umgehen sollten, der plötzlich ihren vergnüglichen Tag störte. Niemand bewegte sich, keiner sagte etwas. Sie alle schienen nur darauf zu warten, daß die Frau verschwand und das tote Kind mit sich nahm.

Doch diese stumme Gleichgültigkeit beeindruckte die Frau nicht. Es schien sie eher noch zu bestärken. Stolz hob sie den Kopf. In ihren Augen glänzten Tränen, aber zugleich leuchtete in ihnen auch ein inneres Feuer.

»Er hieß Padraic«, sagte sie, »falls das jemand von Ihnen wissen möchte.«

Langsam drehte sie sich um und ging davon. Sie schwankte unter der Last, und dann stolperte sie, aber sie stürzte nicht.

»Schlechtes Benehmen, ein totes Kind zur Fuchsjagd zu bringen«, sagte Aloysius Carter, nachdem sie an der nächsten Wegbiegung ihren Blicken entschwunden war. Sein dicker Bauch wackelte leicht, als er sich im Sattel zur Seite beugte und das glänzende Messinghorn sorgsam in die Lederhülle schob.

Stuart Alcott brach in lautes Gelächter aus. »Richtig, bitte jedesmal nur eine Leiche.«

»Wie kannst du so etwas sagen, Stuart!« Sein Bruder schüttelte mißbilligend den Kopf.

Emma setzte die Stute in Trab und ritt durch das Tor auf den Vorplatz. Sie schob den Fuß aus dem Steigbügel und sprang aus dem Sattel, ohne, wie es sich gehörte, abzuwarten, bis ein hilfreicher Männerarm sie dabei stützte. Sie fror fürchterlich. Sie mußte so schnell wie möglich ins Haus und an ein Feuer, um sich zu wärmen. Sie hatte das Gefühl, nie mehr wieder richtig warm werden zu können.

Nur die ein Leben lang verinnerlichte strenge Disziplin sorgte dafür, daß sie nicht über den Platz stürmte. Trotzdem ging sie so schnell, daß sie den Rock ihres Reitkostüms weit über die Fußknöchel heben mußte.

»Miss Tremayne!«

Ihre Name, von der rauhen, heiseren Stimme des Mannes ausgesprochen, überraschte sie so sehr, daß sie beinahe gestolpert wäre, als sie sich schnell umwandte. Es verschlug ihr den Atem, als sie sah, was er in der Hand hielt. Als wollte er ihr ein Geschenk überreichen, so wie die Frau Geoffrey das tote Kind entgegengehalten hatte.

Dabei sah er sie mit ausdruckslosem Gesicht an. Nur die Augen leuchteten in demselben überraschenden Grün wie schon zuvor bei der ersten Begegnung. Emma war die bewundernden Blicke der Männer gewöhnt, doch was in den Augen dieses Mannes lag, hatte sie noch nie gesehen.

Sie fror inzwischen so sehr, daß sie anfing zu zittern. Sie mußte die Zähne fest zusammenbeißen.

»Sie haben die Trophäe vergessen«, sagte er. Sein Lächeln war bissig, eigentlich überhaupt kein Lächeln. »Und das nach all der Mühe, die Sie hatten, um sie zu bekommen.«

Sie schüttelte abwehrend den Kopf, und ein leises Stöhnen kam unfreiwillig über ihre Lippen. Sie hatte Geoffrey dazu bringen wollen, das schreckliche Ding an sich zu nehmen oder wegzuwerfen. Aber sie hatte nicht gewagt, es ihm zu sagen, denn ... denn in ihrer Welt konnte man diese Ehre, die Jagdtrophäe zu erhalten, einfach nicht ablehnen.

Es war schon feige genug gewesen, die Lunte nicht abzulehnen, aber es wäre eine noch größere Feigheit gewesen, sie jetzt nicht zu nehmen.

Sie griff danach und bemühte sich dabei, seine Finger nicht zu berühren. Dann drehte sie sich um und ging langsam über den Platz zum Haus, als sei ihr alles vollkommen gleichgültig.

Im Haus legte sie den blutigen Fuchsschweif behutsam auf die Marmorplatte der Garderobe in der Halle. Sie zog ihr Taschentuch hervor und versuchte, das Blut von den hellen handgenähten Glacé-Reithandschuhen, die aus dem Hause Worth in Paris stammten, zu entfernen. Aber obwohl sie rieb und rieb, verschwanden die roten Flecken nicht.

Später am Abend, als sie die Handschuhe in die satingefütterte Schachtel legte, fragte sie sich, wie das Blut des kleinen, toten irischen Jungen an das Leder gekommen war, obwohl sie ihn nicht berührt hatte.

Wagnis des Herzens

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