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Fünftes Kapitel
ОглавлениеDie Carter-Schwestern erschienen an diesem Tag als erste zum Tee.
Sie rollten in einem uralten Landauer, der von zwei mit roten, weißen und blauen Federbüschen geschmückten Pferden gezogen wurde, durch das hohe schmiedeeiserne Tor.
Sie durchquerten in einer süß duftenden Wolke von Puder und Veilchenparfüm die Halle aus schwarzweißem Marmor. Sie trugen Volants und Federn an den Hauben, wie sie vor dem Krieg Mode gewesen waren. Die Carter-Schwestern waren die reichen unverheirateten Töchter eines Bierbarons aus Providence. Für sie war die Zeit vor dreißig Jahren stehengeblieben.
Miss Liluth, die jüngere Schwester, war, wie man in Bristol höflich sagte, »etwas überreizt«, obwohl sie, und darin waren sich alle einig, früher einmal ganz normal gewesen war. Aber ihr Verlobter war bei Antietam gefallen, und sie hatte seinen Tod niemals verwunden. Er war mit dem Dienstagnachmittagzug nach Providence gefahren, und Miss Liluth hatte sich in den Kopf gesetzt, daß derselbe Zug, mit dem er davongefahren war, ihn auch wieder zurückbringen werde. Deshalb erschien sie seit Ende des Krieges jeden Dienstagnachmittag am Bahnhof in der Franklin Street und wartete auf ihn.
»Ich sage Ihnen, ich habe es irgendwie geahnt, daß die Damen heute kommen würden«, sagte Bethel, als sie den beiden Schwestern Platz in den weich gepolsterten Sesseln mit Brokatbezügen anbot, »und deshalb heute morgen Liluths Lieblingsplätzchen backen lassen und für Annabelle die köstlichen Sahneschnitten, die sie so liebt. Und wagen Sie nicht zu sagen, Sie werden nichts essen. Sie sind beide in letzter Zeit geradezu spindeldürr geworden.«
Emma unterdrückte ein Lächeln über die boshafte Bemerkung ihrer Mutter, denn die ältere Miss Carter war das, was man in ihren Kreisen höflich als eine »stattliche Frau« bezeichnete. Sie war außerdem nicht gerade eine Schönheit mit ihren kleinen, kurzsichtigen Kürbiskernaugen und einem Muttermal, das wie ein Wasserfleck aussah, auf der linken Wange.
Außerdem wußte ganz Bristol, daß sie sich mit sechzehn unsterblich in William Tremayne verliebt hatte. Sie liebte ihn auch dann noch, als er Bethel heiratete und mit ihr drei Kinder hatte.
»Ich, meine Lieben, darf mir leider nicht den kleinsten Bissen gönnen«, fuhr Bethel ohne Unterbrechung fort, »denn ich muß gestehen, ich faste zur Zeit. Jedesmal, wenn meine Entschlossenheit ins Wanken gerät, erinnere ich mich daran, daß meinem William bei unserer ersten Begegnung vor allem meine schlanke Figur ins Auge fiel.«
Sie deutete mit der Hand auf das blauweiße chinesische Teeservice, das auf dem silbernen Servierwagen stand. »Emma, sei doch so gut und kümmere du dich heute um den Tee!«
Emma wußte, daß sie den Tee eingießen sollte, damit ihr Verlobungsring besser zur Geltung käme. Eine junge Dame der guten Gesellschaft prahlte natürlich niemals mit ihrem Glück, aber ein dezenter Hinweis war erlaubt.
Den Carter-Schwestern würde der Ring natürlich nicht entgehen, denn er funkelte an diesem grauen Regentag wie blaues Feuer. Den Ring krönte ein riesiger Saphir umgeben von einem Dutzend Diamanten. Geoffrey hatte ihr den Ring erst am Tag zuvor über den Finger gestreift. Danach hatte er ihre Hand umgedreht, die Handfläche geküßt und die Innenseite des Handgelenks. Dann und erst dann hatte er sie auf die Lippen geküßt.
Das Gefühl seines Mundes auf ihren Lippen überraschte Emma. Es war seltsam, süß und leidenschaftlich. Als er sich von ihrem Mund löste, glühten ihre Lippen heiß. Sie berührte sie mit der Zunge und schmeckte ihn.
Der Ring wurde von den beiden älteren Damen wie erwartet bemerkt und bewundert. Emma lächelte höflich, als sie Miss Liluth die Teetasse reichte – ohne Milch, aber mit zwei Löffel Zucker. Liluth Carter hatte zu ihrer Zeit als eine Schönheit gegolten, und sie war noch immer hübsch. Sie hatte blaßblonde Haare, eine weiße Haut und veilchenblaue Augen.
Emma fragte sich, ob Miss Liluth von ihrem Verlobten zum Abschied geküßt worden war, bevor er in den Krieg zog, um zu sterben. Vielleicht hatten sie sich am Abend davor sogar noch geliebt. Emma fand den Gedanken an eine so wundervolle Sünde mit dem Mann des Herzens schrecklich aufregend – so aufregend wie Segeln im Sturm ... und natürlich auch gefährlich, denn die Sache konnte ans Licht kommen und einen Skandal auslösen. Sie stellte sich vor, selbst einmal etwas so Aufregendes zu tun, obwohl sie bezweifelte, daß sie jemals den Mut dazu aufbringen würde. Ganz gewiß würde Geoffrey niemals auf solche Gedanken kommen.
Aber in all den Jahren, die sie Miss Liluth kannte, hatte Emma nie mit ihr über den Mann gesprochen, den sie geliebt und auf so tragische Weise verloren hatte. Die starken Gefühle ihrer unerfüllten Liebe trieben Liluth Carter dazu, jeden Dienstag zum Bahnhof zu fahren, um auf einen Mann zu warten, der niemals zurückkommen würde. Aber kein Mensch sprach je laut über diese Gefühle, und so waren sie einfach nicht vorhanden.
Emma wußte, sie würde nie die Geheimnisse kennenlernen, die Miss Liluth in ihrem Herzen bewahrte. Sie würde die nächste Stunde wie schon unzählige Male zuvor in ihrer Gesellschaft verbringen, doch sie würden vermutlich wieder einmal nur über das Wetter sprechen.
Eine Dame mußte jederzeit in der Lage sein, Konversation zu machen, und das bedeutete, in erster Linie über das Wetter zu sprechen. Emma machte sich oft Gedanken darüber, warum sie alle so viel Anteilnahme an den Elementen der Natur zeigten, obwohl sie sich ihnen selten genug aussetzten. Doch die Damen von Bristol sorgten sich mehr um das Wetter als die Fischer.
»Das Wetter«, sagte Miss Annabelle Carter und gab damit das Stichwort, »ist in letzter Zeit sehr unbeständig.«
»Das ist immer so in dieser Jahreszeit«, fiel Bethel ein. Ihre Worte klangen so vorwurfsvoll, als wolle das Wetter sie persönlich damit ärgern. »In den Winter- und Sommermonaten bleibt es wenigstens beständig, und man weiß, was man zu erwarten hat.«
Emma warf ihrer Schwester einen belustigten Blick zu, und sie lächelten verstohlen. »Ich finde das unberechenbare Wetter so anstrengend«, sagte sie. »Findest du nicht auch, Maddie?«
Ihre Schwester antwortete mit einem stummen Lachen. Sie ging auf das Spiel ein. »Ja wirklich! Aber ich habe festgestellt, daß man besonders beim Wetter keine feste Meinung haben darf.«
»Als mein Charles in den Krieg fuhr, hat es geregnet«, erklärte Miss Liluth. »An Regentagen bin ich immer so traurig. Vielleicht wird morgen wieder die Sonne scheinen.«
Bethel beugte sich vor und legte sanft der anderen Frau begütigend die Hand auf den Arm. »Ganz bestimmt, meine Liebe ...«
Emma mußte unwillkürlich schlucken. Ihr schien etwas in der Kehle zu stecken, und ihr war seltsam nach Weinen zumute. Dort saß Miss Liluth und wartete seit beinahe dreißig Jahren auf einen toten Mann. Miss Carter, ihre Schwester, erschien Woche für Woche im Haus ihrer großen Liebe, aber der Mann hatte eine andere geheiratet. Und ihre eigene Mutter war von eben diesem Mann verlassen worden. Sie hungerte und folterte sich seinetwegen mit einem zu eng geschnürten Korsett und benahm sich, als werde sie ihm nachher beim Abendessen gegenübersitzen.
Doch es verstieß in ihrer Welt gegen alle Regeln des Anstands, auch nur andeutungsweise über Gedanken und Gefühle zu sprechen. Emma fragte sich, was geschehen würde, wenn nur einmal jemand das Unaussprechliche aussprechen würde.
»Letzte Woche ist ein Junge in der Spinnerei ums Leben gekommen«, sagte Emma.
Ihre Worte hallten in der Stille des Salons so laut und bedrohlich wider wie Steine, die am Grund eines tiefen Brunnens aufschlagen. Dann seufzte Miss Liluth tief und stellte klappernd ihre Teetasse auf den Tisch. »Oje!«
Miss Carter rümpfte so heftig die Nase, daß sie bebte. »Man sagt, diese Irin ist mit ihm ausgerechnet bei der letzten Fuchsjagd erschienen. Unvorstellbar und so unberechenbar wie ...«
»Wie das Wetter«, sagte Emma.
Miss Liluth nestelte an der Spitzenrüsche um ihren Hals. »Oje, oje!« Jetzt legte ihre Schwester ihr die Hand auf den Arm. »Schon gut, Liluth, reg dich nicht auf. Habe ich nicht erst heute morgen gesagt, man kann sich nicht mehr darauf verlassen, daß die mittleren und unteren Schichten wissen, wohin sie gehören?«
Bethel schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Die Ordnung der Gesellschaft zerfällt vor unseren Augen.«
»Zerfallen ... das ist sehr gut ausgedrückt, Mama.« Emma hörte selbst die wachsende Hysterie in ihrer Stimme, aber sie konnte es nicht verhindern. »Der Junge ist regelrecht skalpiert worden, und die Maschine hat ihm einen Arm ausgerissen. Er ist verblutet.«
Bethel sah ihre Tochter mit völlig unbeteiligtem Gesichtsausdruck an, aber in ihren dunkelblauen Augen lag ein unmißverständlicher Vorwurf. »Ach ja, mein Kind, mag sein, aber man spricht beim Tee nicht über unangenehme Dinge.«
Sie wandte sich lächelnd an ihre Gäste und fragte: »Haben Sie schon das Neueste gehört? Der junge Stuart Alcott ist schließlich doch wieder reumütig nach Hause zurückgekommen, zweifellos ohne Geld und nicht gerade ruhmvoll.«
Maddies Kopf fuhr herum, sie sah Emma fragend an und blickte dann wieder zur Seite. Zwei hektische rote Flecken erschienen auf ihrer Wange, und ihre Hand begann so heftig zu zittern, daß die Teetasse auf der Untertasse klapperte. Sie verschüttete etwas Tee auf die Serviette, die auf ihren Knien lag.
Bethel griff nach dem Silberglöckchen auf dem Servierwagen, aber in diesem Augenblick erschienen die nächsten Gäste. Es waren drei verheiratete Damen. Sie bewunderten Emmas schönen Saphir auf dem Verlobungsring und übersahen geflissentlich Maddies weißes Gesicht und die zitternden Hände. Niemand redete mehr über den verunglückten Jungen und über unverbesserliche junge Männer. Das Gespräch drehte sich nur um das Wetter und die Hochzeit in zwei Jahren.
Die Besucherinnen verabschiedeten sich pünktlich um fünf Uhr, wie es den Regeln entsprach.
Ein bedrückendes Schweigen breitete sich im Salon aus. Emma glaubte, den Zorn ihrer Mutter beinahe wie einen schwarzen Fleck in der Luft sehen zu können. Sie wußte, sie würde es teuer bezahlen müssen, über »unerfreuliche Dinge« beim Tee gesprochen zu haben.
Aber die Wut ihrer Mutter richtete sich gegen Maddie.
»Du bist eine Schande für die Familie, Madeleine Tremayne«, sagte Bethel leise, aber ihre Worte trafen mitten ins Herz. Und obwohl sie klein war, schien sie plötzlich den Rollstuhl zu überragen, so daß Maddie bei jedem Wort tiefer und tiefer in dem geflochtenen Sitz versank.
»Unsere Freunde sind gekommen, um unsere Emma zu sehen, und du ziehst alle Aufmerksamkeit auf dich wie eine billige Schauspielerin. Da du dich offenbar in Gesellschaft nicht benehmen kannst, kann ich nicht zulassen, daß du in Zukunft dabei bist, wenn wir Gäste haben.«
»Sie kommen wegen meiner Verlobung, Mama«, erwiderte Emma. Es gelang ihr trotz größter Mühe nicht, die Betroffenheit in ihrer Stimme zu verbergen. »Ich möchte, daß Maddie bei mir ist.«
»Das geht nicht, Emma. Sie kann sich nicht benehmen. Sie sitzt in diesem ... abscheulichen Gefährt. Sie hat keine Kontrolle über sich und verschüttet sogar ihren Tee. Ihre Anwesenheit bereitet unseren Freunden Unbehagen. Deshalb geht es nicht.«
»Aber Mama ...«
Ihre Mutter nahm mit Daumen und Zeigefinger Emmas Kinn und drehte ihren Kopf zum Fenster. »Und du wirst an den Nachmittagen, wenn wir Gäste empfangen, nicht noch einmal auf die Veranda hinausgehen. Der scharfe Wind rötet dir die Wangen. Ich möchte nicht, daß die Leute glauben, ich erlaube dir Rouge aufzulegen, wie diese Frauen in der Thames Street es tun.«
Tränen brannten in Emmas Augen, als sie ihrer Mutter nachsah, die im eng geschnürten Korsett steif und aufrecht den Salon verließ. Aber der Anblick ihrer bleichen Schwester schnitt ihr ins Herz.
»O Maddie, es tut mir so leid.« Sie kniete sich neben Maddies Rollstuhl und griff nach ihren Händen. Sie waren kalt und zitterten. Emma versuchte, sie zu wärmen. »Mama ist wütend auf mich. Und sie weiß wie immer mit unfehlbarer Sicherheit, wie sie mich am besten treffen kann. Deshalb läßt sie ihren Zorn an dir aus.«
»Schäme dich, Emmaline Tremayne, du hast schon wieder rote Wangen«, imitierte Maddie ihre Mutter. »Das kann ich nicht dulden.«
Maddie lächelte, aber Emma entging nicht, daß sie ihre Verzweiflung hinunterzuschlucken versuchte und mit den Tränen kämpfte.
Ihre Schwester senkte den Kopf und blickte auf ihren Schoß. Sie zog die Hände zurück und zupfte an den Fransen der Decke über ihren Beinen. »Emma, sei ein Schatz und rufe einen der Dienstboten, der mich in mein Zimmer bringt. Ich muß jetzt eine Weile allein sein.«
»O Maddie! Sollten wir nicht ...«
»Nein, das sollten wir nicht. Ich möchte nicht über ihn sprechen, denn da ist nichts zu sagen. Da er wieder zu Hause ist, werden wir uns vermutlich früher oder später begegnen. Er wird mit eigenen Augen sehen, daß ich verkrüppelt bin, und dann ist auch das endgültig vorbei.«
Als Maddie es sich mit einem Glas Milch und ihren Lieblingsgedichten im Bett bequem gemacht hatte, hielt es Emma keinen Augenblick mehr länger im Haus aus. Sie wollte hinaus ins Freie, um ihre Wangen dem Wind und der Kälte auszusetzen, damit sie so rot würden wie eine geschälte Tomate.
Die Halbstiefel knirschten auf dem winterlich frostigen Gras. Die herannahende Nacht warf bereits ihre schwarzen Schatten auf den vergehenden Tag. Die tief ziehenden Wolken versprachen noch mehr Regen.
Als sie das Ende des Rasens erreicht hatte, drehte sich Emma um und blickte zurück. Der erste William Tremayne, ein Sklavenhändler, hatte 1685 The Birches im damaligen Stil eines wuchtigen und massiven »Plantagenhauses« erbaut. Aber seine Erben, die Piraten, Walfänger und Kaufleute, hatten es mit Flügeln und Erkern versehen, mit Türmen und Kuppeln, mit Bögen und Brüstungen. In über zweihundert Jahren hatten heiße Winde vom Meer im Sommer, Stürme im Herbst und Schneestürme im Winter die Schindeln, welche die Mauern bedeckten, ausgebleicht, und sie waren inzwischen von einem hellen Silbergrau wie die Rinde der Birken, denen das Haus seinen Namen verdankte.
Meist wirkte The Birches mit den steilen Giebeln und den Veranden, die das Haus wie die weiten Röcke einer Gouvernante umgaben, märchenhaft und fast schon verzaubert. Aber an diesem Abend duckte es sich trotzig unter dem grauen Himmel. Es wirkte wie eine abweisende Festung gebaut aus Regeln, Vorwürfen, Pflichten und all den Dingen, die man tun und nicht tun durfte.
Das Gaslicht im Zimmer ihrer Schwester flackerte und erlosch. Bereits als Emma das Zimmer verließ, hatte sie gewußt, daß Maddie nach der Flasche mit dem Chloralhydrat greifen würde, die in der Schublade ihres Nachttischs stand. Ihr Onkel war Arzt und hatte ihr das Chloralhydrat gegen Schmerzen im Rücken und in der Hüfte verschrieben. Maddie hatte Emma einmal gestanden, daß sie die Medizin meist jedoch nahm, um ihren Kummer zu vergessen. »Ich habe dann so schöne und angenehme Träume«, sagte sie.
Arme Maddie ...
Emma wandte dem Haus den Rücken zu und ging in den Birkenwald. Sie folgte einem alten Indianerpfad, der entlang einer zerfallenen Mauer zur Bucht führte. Von den kahlen weißen Zweigen tropfte Wasser auf ihren unbedeckten Kopf. Die verwelkten, nassen Blätter auf dem Pfad verströmten einen schwermütigen Geruch ähnlich vergessenen alten Liebesbriefen. Die Welt hatte jegliche Farbe verloren und bestand nur noch aus Schwarz, Weiß und Grau.
Emma dachte daran, daß diese Mauer und die weißen Birken ihr Leben als stumme Zeugen beobachtet hatten. Sie kannten jene Emma, die sie wirklich war, während sie sich selbst ein Geheimnis blieb. Sie hatte das Gefühl, stets einen Teil ihres Wesens zurückgehalten, für etwas Besonderes bewahrt zu haben. Und jetzt überkam sie die schreckliche Angst, sie würde diesen Teil für immer aufbewahren müssen, und wenn sie starb, würde somit vieles ihrer selbst völlig ungenutzt geblieben sein.
Als Emma unter den Bäumen hervorkam und den Strand erreichte, trieb ihr der Wind kalten Regen von der Bucht ins Gesicht. Sie senkte den Kopf, und deshalb sah sie den Mann, der auf dem Landungssteg stand, erst, als sie das Ufer beinahe erreicht hatte.
Der Landungssteg gehörte zum Bootshaus und schob sich weit hinaus in die klatschenden Wellen. Hier ankerte Emmas kleine schlanke Segelyacht, die Icarus, und wartete darauf, in den ersten Frühlingstagen mit ihr die neue Saison zu beginnen. Emma hörte das gedämpfte Knarren der Mastspitze und das Wasser, das gegen die Bordwand schlug. Auch Willies Boot hatte hier gelegen, aber jetzt war sein Anlegeplatz leer.
Am Ende des Stegs stand der vorlaute und dreiste Ire von der Fuchsjagd. Er stand auf ihrem Landungssteg.
Er mußte sie bereits gesehen haben, denn er stand mit dem Rücken zum Wind und zu den Wellen und sah sie an. Im letzten Licht des Tages konnte sie sein Gesicht nicht erkennen, doch bei seinem Anblick blieb sie wie angewurzelt am Strand stehen.
Eine Möwe flog auf und stieß über ihrem Kopf einen durchdringenden Schrei aus. Die schäumenden Wellen machten gurgelnde Geräusche, wenn das Wasser die muschelverkrusteten Felsen und die Kieselsteine überspülte. Der Wind zerrte an ihren Haaren, die Nadeln lösten sich, und die Haare flogen ihr um den Kopf wie ein nasses Tuch und legten sich ihr über die Augen.
Weder der Mann noch sie bewegten sich. Sie hätten jetzt die einzigen Menschen auf Erden sein können.
Emma brach den Bann, indem sie nach ihren Haaren griff und die Strähnen um das Handgelenk schlang, damit sie ihn besser sehen konnte.
»Sie wollten mein Boot stehlen!« rief sie vorwurfsvoll, obwohl sie keinen anderen Beweis dafür hatte, als daß er sich an einer Stelle befand, wo er nichts zu suchen hatte.
»Ah Dhia«, erwiderte er mit seiner rauhen Stimme, und es klang wie eine stumpfe Säge im nassen Holz. »›Stehlen‹ ist ein hartes Wort ...«
Vermutlich übertrieb er seine irische Aussprache bewußt, so als sei seine Herkunft eine Auszeichnung. Er stand hoch aufgerichtet, groß und dunkel vor dem grauen Wasser. Mit seinen breiten Schultern stemmte er sich gegen den Wind, und die kräftigen Beine glichen mühelos das Schwanken der verwitterten Planken aus. Die schwarze Matrosenjacke machte ihn noch größer.
Sie dachte unwillkürlich an Piratenboote, die in mondlosen Nächten zum Ufer glitten, an mit Tuch umwickelte Ruder und an die stummen dunklen Schatten gefährlicher Männer.
»Sie befinden sich auf privatem Gelände!« rief sie. Auch ihre Stimme klang rauh, als habe sie viele hundert Jahre kein Wort gesprochen. »Der ganze Poppasquash Point gehört uns, den Tremaynes. Sie haben hier nichts zu suchen!«
Er warf mit dramatischer Geste den Kopf zurück und blickte zum grauen nassen Himmel auf.
»Gott helfe uns, als nächstes wird sie mir sagen, den Reichen von Bristol gehört die Luft, die ich atme.«
Er überraschte sie durch seine Schnelligkeit. Er verließ den Landungssteg und kam auf sie zu, bevor sie auch nur daran denken konnte, sich umzudrehen und davonzulaufen.
Je näher er kam, desto größer und bedrohlicher schien er zu sein. Trotzdem lief sie nicht davon. Er kam so dicht heran, bis sie nur noch eine Handbreit trennte.
Sie hob den Kopf und sah ihn an. Trotz der etwas schiefen Nase und der Narben – oder vielleicht gerade deshalb – hatte sein Gesicht etwas Faszinierendes. Er hatte kühne, aber irgendwie auch gebrochene Augen. Sie waren außergewöhnlich schön und hatten eine Farbe wie Flaschenglas, das vom Meer poliert und von der Sonne durchglüht ist.
Er blickte auf sie hinunter, und ihr Herzschlag dröhnte lauter in ihren Ohren als die Brandung, während sie darauf wartete, daß er Gott weiß was tat. Er ging jedoch nur wortlos an ihr vorbei, allerdings so dicht, daß der Ärmel seiner Jacke sie beinahe an der Wange gestreift hätte.
Emma sah ihm nicht nach. Sie ging statt dessen in die andere Richtung. Sie betrachtete scheinbar aufmerksam die nassen grünen Algen an den Pfosten des Stegs und lauschte währenddessen auf das Knirschen seiner Stiefel im weißen Sand. Als sie nur noch das Donnern und Klatschen der Wellen hörte und das Brausen des Windes, drehte sie sich um.
Sie stellte fest, daß er stehengeblieben war und zurückblickte. Bei diesem Anblick erfaßte sie eine ihr bis dahin unbekannte Erregung, eine heiße Welle der Angst und unbestimmter Erwartungen. Sie wandte ihm schnell den Rücken zu, holte tief Luft und schmeckte die kalte, salzige Gischt auf den Lippen.
Als sie sich wieder umdrehte, war er verschwunden. Aber sie sah noch, wo ihre Fußabdrücke sich im Sand einander angenähert und wieder getrennt hatten.
Es wurde dunkel und zunehmend kälter. Trotzdem blieb Emma solange am Ufer stehen, bis die steigende Flut die Fußabdrücke überflutet hatte.