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Siebtes Kapitel
ОглавлениеEs kam nicht oft vor, daß ein junger Mann von achtundzwanzig Jahren schon so genau wußte, was er mit seinem Leben anstellen wollte. Doch Geoffrey Alcott war so ein Mann.
Jeden Morgen, außer an Sonntagen, ging er in sein Büro in dem alten Lagerhaus, in dem sich der Hauptsitz der »Alcott Textiles« befand. Dort leitete er das Familienunternehmen mit ruhiger Hand, ohne den Blick nach rechts oder links zu wenden. Neben der Spinnerei in der Thames Street gehörten ihm in Neuengland noch weitere acht Spinnereien. Geoffrey hätte sehr gut von den Gewinnen leben können, ohne je einen Fuß in eine seiner Fabriken setzen zu müssen. Aber das war nicht seine Art.
Für ihn war es eine Frage des Stolzes, von sich sagen zu können, daß er in der Lage war, jede Aufgabe, für die er andere bezahlte, selbst zu übernehmen. Als er zehn Jahre alt war, überredete er seinen Vater, ihn eine Woche als Spulen-Jungen arbeiten zu lassen. An seiner linken Hand sah man noch immer die Narbe, wo ihn eine rotierende Stahlspule verletzt hatte. Er konnte eine Krempelmaschine beinahe ebenso schnell auseinandernehmen und wieder zusammenbauen wie sein bester Maschinist. Erst im letzten Jahr hatte er eine ganze Schicht lang an einem Ringspinner gestanden und die Fäden entwirrt und verknüpft wie einer der niedersten Tagelöhner seiner Spinnerei.
Geoffreys Aufseher und Sekretäre klagten nicht selten darüber, daß er versuchte, viel zu viel selbst zu tun. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er jede Rechnung eigenhändig überprüft, bezahlt und gebucht. Und tatsächlich führte er die Bücher der Spinnerei in der Thames Street mit seiner makellosen Handschrift höchst persönlich.
Genau zehn Minuten vor zwölf Uhr mittags verließ Geoffrey Alcott sein Büro im Lagerhaus und machte sich auf den Weg nach Hause. Gemächlich ging er vom Hafen durch die Burton Street, bevor er in die Hope Street einbog. Die Leute sagten im Spaß, daß man nach Geoffrey Alcott die Uhr stellen könne.
An den meisten Tagen genoß er diesen Spaziergang. An den Kreuzungen, zwischen den Häusern und den Schaufenstern der Geschäfte konnte er das blaue Wasser des Hafens sehen. Bei kräftigem Wind roch es wie an diesem Tag nach Fisch, Meer und dem Rauch der Spinnerei.
Auf dem Weg überließ er sich meist seinen Träumen. Geoffrey Alcott war vom Glück begünstigt und reich. Aber er hatte den Besitz von seinem Vater und Großvater geerbt und immer schon den Ehrgeiz verspürt, etwas Eigenes zu schaffen.
So verwunderte es nicht, daß er in den vergangenen fünf Jahren seit dem Tod seines Vaters die »Alcott Textiles« zu einem der größten Konzerne Neuenglands gemacht hatte. Die Spinnereien ergänzte er durch eine Bleiche und Färbereien. Und in diesem Jahr wollte er den Geschäftsbereich um eine Gießerei zur Herstellung von Maschinen erweitern, die in seinen Spinnereien eingesetzt wurden.
Gerade in dieser Woche hatte ihn die Abendzeitung von Providence als den »Textilmagnaten von Rhode Island« bezeichnet. Er hatte den Artikel ausgeschnitten und trug ihn jetzt in der Brusttasche seines modisch karierten Anzugs. Beim Gehen klopfte er von Zeit zu Zeit auf die Tasche und lächelte, wenn er das Zeitungspapier knistern hörte.
Als Geoffrey die Church Street überquert hatte, erreichte er die stille Allee mit den mächtigen Ulmen, Kastanien und Ahornbäumen. Der Lärm und die Geräusche des geschäftigen Lebens blieben zurück, und er überließ sich den erbaulichen Klängen des vornehmen Lebens der Reichen. Hier klapperten die Räder der Kutschen nicht, sondern knirschten leise im Kies. Die Kohle polterte nicht über die Rutschen in die Kohlenkisten, sondern glitt gedämpft von den Kohlewagen. Niemand schrie oder fluchte, und die kleinen Kinder weinten nicht. Doch manchmal drang durch die schmiedeeisernen Tore und die sorgsam geschnittenen Ligusterhecken das Lachen von Kindern.
Als er das vom Efeu völlig bewachsene Haus der Carter-Schwestern erreichte, hörte er nur das leise Quietschen eines Schaukelstuhls. Er blieb stehen, begrüßte die beiden Damen mit einer Verbeugung und lächelte, als Miss Liluth kicherte.
Die Alcotts besaßen das größte und prächtigste Haus in der Hope Street. Er schritt durch den eisernen Torbogen und erreichte die mit Marmorplatten belegte Auffahrt. Hohe Linden säumten den Weg, und an einem sonnigen Frühlingstag wie heute verströmten sie ihren schweren betörenden Duft. Der Geruch der blühenden Linden im Frühling machte Geoffrey stets ein wenig traurig, obwohl er nicht wußte, warum.
Er blieb am Fuß der Vorhalle stehen und ließ den Blick langsam über die zwei Stockwerke hohen korinthischen Säulen und die palladianischen Fenster gleiten. Der Stolz der Alcotts hatte die Architektur des Hauses geprägt, und beim Anblick des Familiensitzes spürte er stets die Resonanz dieses Stolzes in sich.
Geoffrey setzte den maßgefertigten Känguruhlederstiefel auf die erste Marmorstufe, als der durchdringende Pfiff der Spinnerei ertönte und das Glockenspiel der Rathausuhr und der tiefe Klang der Glocke von St. Michael, die alle miteinander wetteiferten zu verkünden, daß es zwölf Uhr Mittag war.
Nachdem der Wind die letzten Töne fortgetragen hatte, trat Geoffrey durch die Haustür. Er hängte seinen Hut an den Garderobenständer und stellte den Gehstock mit dem Eberkopf aus Elfenbein in den Elefantenfuß, der als Schirmständer diente. Dann richtete er die Akelei in seinem Knopfloch und strich sich die Haare glatt.
Er atmete tief den vertrauten süßlichen und moschusartigen Geruch des Hauses ein. Manche Leute behaupteten, dieser Geruch käme von der Bienenwachspolitur, mit der die Olivenholztäfelung seit hundert Jahren gepflegt wurde, aber Geoffrey wußte es besser: Es war der Geruch von altem Reichtum.
Wie jeden Mittag ging Geoffrey zuerst in das Damenzimmer, wo seine Großmutter inmitten von Farnen und Kamelien in einem weißen Korbschaukelstuhl saß. Zweimal in der Woche wurde ihr druckfrisch der Bristol Phoenix zugestellt, damit sie die Todesanzeigen studieren und sich darüber freuen konnte, wen sie für diesmal überlebt hatte.
Sie wartete bereits auf ihn, und ihre Augen in dem eingefallenen Gesicht belebten sich etwas, als er den Raum betrat. Sie hob die Zeitung und schwenkte sie so heftig, daß die Bänder ihrer Haube flatterten.
»Amelia Attwater!« kreischte sie. Die alte Frau war beinahe taub und benahm sich, als seien alle in ihrer Umgebung das auch. »Hier steht es schwarz auf weiß – Amelia Attwater ist tot. Sie sagen, Gehirnerweichung hat sie umgebracht, aber das ist eine schamlose Lüge. Ihr Gehirn war schon immer so weich wie Tomatenpüree. Warum sollte sie also ausgerechnet jetzt daran sterben? Kannst du mir das sagen?«
Er beugte sich vor und küßte die Luft in der Nähe ihrer pergamentenen Wange, und der durchdringende Geruch von Kampfer und frischer Druckerschwärze stieg ihm in die Nase. »Vielleicht ist das eine progressive Krankheit«, antwortete er freundlich.
»Unsinn! Die Nierensteine waren die Todesursache. Als ich sie das letzte Mal bei Olivias Beerdigung gesehen habe ... also das war eine peinliche Sache: Messing anstatt Silber auf dem Sarg und unter den Blumen kaum ein paar weiße Blüten ..., also wenn Olivia das gesehen hätte ..., da habe ich bemerkt, daß sie in letzter Zeit wirklich schrecklich aussah, ich meine Amelia und nicht Olivia. Olivia sah im Sarg wie eine entsteinte Pflaume aus, weil der Leichenbestatter ihr Gebiß vergessen hatte. Aber Amelia war so gelb im Gesicht wie eine Quitte. Ich sage dir, mein Junge, es waren die Nierensteine. Die Attwaters können sich natürlich mit so etwas Gewöhnlichem, wie Nierensteine es sind, nicht abfinden. Diese Familie muß immer etwas Besonderes sein.« Sie klopfte mit dem verkrümmten Zeigefinger auf die Zeitung. »Das mit der Gehirnerweichung haben sie sich ausgedacht!«
Die alte Frau stieß einen tiefen Seufzer aus. »Die arme, gelbsüchtige Amelia ... Da steht sie in der Zeitung: Dahingerafft in der Blüte ihrer Jahre.«
Geoffrey beugte sich über die in weiße Spitzen gehüllten Schultern seiner Großmutter, um die Todesanzeige genauer zu studieren. Die Zeitung zitterte in den knochigen Händen der alten Frau, aber er sah genug. »Hier steht, sie war dreiundneunzig.«
»Ja, die arme Seele, sie starb in der Blüte ihrer Jahre. Aber man weiß ja schon lange, die Attwaters sterben jung. Außer mit Nierensteinen wurde in dieser Familie noch niemals jemand Härte bewiesen.«
Draußen fuhr ein Windstoß durch die blühenden Linden. Gelbe Blütenblätter flogen an den Fensterscheiben vorbei, und wieder erfaßte Geoffrey diese eigenartige unbestimmte Traurigkeit, als habe sein Herz irgendwo eine weiche Stelle.
»Wahrscheinlich wird es heute nachmittag regnen«, hörte er seine Großmutter sagen. »Es weht ein starker Westwind, und Westwind bringt immer Regen.«
Geoffrey lächelte und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Ja, ja ...«, murmelte er und nickte, aber es würde nicht regnen. Seine Großmutter hatte ihr Leben lang Wind und Wolken beobachtet, und sie hatte immer Regen prophezeit.
Er überließ die alte Frau ihren Todesanzeigen und ging wie jeden Tag in die Bibliothek, um sich vor dem Mittagessen den häuslichen Angelegenheiten zu widmen.
Die Bibliothek war ein besonders schöner Raum mit kunstvoll geschnitzten und schwarz lackierten Pilastern aus Kiefernholz, das so verziert war, daß es wie schwarzer, goldgeäderter Marmor wirkte. Den großen geschwungenen Kamin mit einem echten schwarzen Marmorsims flankierten Glassteine von Tiffany. Geoffrey betrachtete die Bibliothek als sein Heiligtum.
Deshalb war er verstimmt, als er bemerkte, daß jemand in seinem William-Morris-Lehnstuhl an seinem Mahagonischreibtisch mit den vergoldeten Beschlägen saß.
Stuart Alcott lehnte sich in dem Stuhl weit zurück, schob sich die Haare aus den Augen und schlug die Beine in den Stiefeln auf dem grünen Filz der Schreibtischunterlage übereinander. Er hielt ein geschliffenes Waterford-Glas in der Hand.
»Du meine Güte, Geoffrey!« rief er. »Was ist denn mit dir los? Du siehst ja schrecklich aus.«
Diese Feststellung verwirrte Geoffrey, denn er fühlte sich ausgezeichnet. Abgesehen von dem Anflug von Melancholie, den die blühenden Linden hervorriefen, war seine Welt in Ordnung. Nichts hätte besser sein können.
Sein Bruder dagegen ... das war etwas ganz anderes, das heißt, es war das alte Lied. »Du bist betrunken«, sagte Geoffrey, »und es ist gerade erst Mittag.«
Stuart hob das Glas und prostete ihm spöttisch zu. Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. »Gin mit Limonensaft. Das vertreibt die Grippe.«
Ihr Vater hatte den damals neunzehnjährigen Stuart in die Anstalt in Wharton bringen lassen, um ihn von der Alkoholsucht zu heilen. Als er neun Monate später durch die schwarzen Gittertore in die Freiheit trat, kam er nicht nach Bristol zurück. Er war sieben Jahre nicht zu Hause gewesen, nicht einmal zur Beerdigung ihres Vater war er erschienen. Geoffrey sah, daß die Anstalt in Wharton seinem Bruder nicht das Trinken abgewöhnt hatte; statt dessen schien ihm alle Lebensfreude genommen worden zu sein.
Stuart nahm eine Havanna aus dem Zedernholzkästchen, das auf dem Schreibtisch stand. Geoffrey entging nicht, daß die Hände seines Bruders zitterten, als er die Seidenpapierumhüllung der Zigarre entfernte und das eine Ende mit dem kleinen Silbermesser, das an seiner Uhrkette hing, einschnitt. Stuart stand leicht schwankend auf und stieß dabei gegen den Schachtisch mit den Elfenbeinintarsien. Ein silberner Turm fiel zu Boden.
In dem hellen Licht, das durch die Glastüren der Bibliothek drang, sah Geoffrey überdeutlich die glasigen Augen und das unrasierte Kinn seines Bruders. Der Kragen des verschwitzten Hemdes stand offen, und mit Entsetzen und Widerwillen bemerkte Geoffrey die ausgefransten Kragenspitzen.
Als junger Mann hatte Stuart eine Liebe für schnelle Segelboote und Rennpferde entwickelt, den Gefallen an Champagner und Cocktails gefunden. Ihre Welt verlangte wirklich nicht viel von den reichen Söhnen, abgesehen von guten Manieren und gepflegter Kleidung. Aber selbst dazu war sein Bruder nicht mehr in der Lage.
Trotz allem, wenn er in Stuarts gezeichnetes Gesicht blickte, entdeckte er noch immer den draufgängerischen und von allen bewunderten Jungen von einst. Geoffrey hatte seinen Bruder stets beneidet, verehrt und geliebt.
Stuart war schwankend zum Kaminsims gegangen, wo sich in einem Messinggefäß lange Holzspäne zum Anzünden der Zigarren befanden. Er nahm einen heraus und bemerkte erst dann, daß im Kamin kein Feuer brannte. In ihrem Haus in der Hope Street ließ man das Feuer in den Kaminen stets an Ostern ausgehen, und es wurde ohne Rücksicht auf das Wetter erst wieder nach dem Erntedankfest entzündet.
Stuart warf den Zigarrenanzünder in den leeren Kamin. »Bei Gott, hier ändert sich nie etwas! Das allein kann einen um den Verstand bringen.«
»Dort drüben sind Streichhölzer«, sagte Geoffrey und deutete auf einen zierlichen Mahagonitisch, auf dem zwei große schwere Kristallkaraffen in silbernen Haltern standen. »Vielleicht trinkst du noch etwas Limonensaft, denn in diesem Frühjahr grassiert in Bristol eine Grippeepidemie.« Geoffrey setzte sich mit einem leisen Seufzer der Zufriedenheit auf den frei gewordenen Morris-Stuhl hinter seinen Schreibtisch. Er glättete die Stiefelabdrücke seines Bruders auf der grünen Filzunterlage, dann schob er den Perlmuttbrieföffner an den gewohnten Platz zwischen dem Telefon und einer Onyxschatulle mit Briefmarken.
Als er den Kopf hob, lächelte ihn sein Bruder mit ausdruckslosen Augen an und prostete ihm noch einmal spöttisch zu. Diesmal schwappte etwas von dem Inhalt aus dem Glas und tropfte auf den Teppich mit dem Rosenmuster.
»Auf den siegreichen Helden!« sagte er mit schleppender Stimme. »Im Yachtclub und in der Hafenkneipe hat man in dieser Woche nur darüber gesprochen, wie glorreich du Emma Tremayne erobert hast.«
Geoffrey lächelte und schob das mundgeblasene Tintenfaß wieder in die Mitte des Schreibtisches. Wie immer wurde ihm warm ums Herz, wenn er an Emma dachte, und er empfand ein leichtes Staunen darüber, daß sie ihm jetzt wirklich gehörte ... nur ihm.
Die Rückkehr seines Bruders hatte vielleicht seinen Heiratsantrag etwas beschleunigt. Er hatte Emma eigentlich erst im Sommer um ihre Hand bitten wollen –, um genau zu sein, am Vierten Juli. Aber der Blick, mit dem Stuart sie auf der Fuchsjagd angesehen hatte ... Geoffrey rief sich stumm zur Ordnung. Es war natürlich lächerlich, auch nur zu denken, daß sein Bruder jemals die Absicht gehabt haben konnte, ihm Emma wegzunehmen. Stuart hatte schon immer besser ausgesehen und war charmanter gewesen als sein Bruder, aber das ganze Geld gehörte Geoffrey.
Sein Bruder sah ihn durchdringend an, ohne zu trinken. »Was ist?« fragte Geoffrey.
Stuart bekam große Augen und schüttelte scheinbar staunend den Kopf. »Du liebe Zeit, du hättest dein Gesicht sehen sollen, als ich ihren Namen ausgesprochen habe ... man könnte fast glauben, du liebst sie.«
Geoffrey fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich ...« Er richtete die braune Seidenkrawatte. »Sie ...«
Stuart warf den Kopf zurück und lachte laut. »Mein Bruder Geoffrey geht mit seinen Worten noch immer so sorgfältig um wie mit seinem Geld.«
»Ich liebe sie«, sagte Geoffrey und staunte über seine Worte. »Ich liebe sie, seit ...« Er hob die Hände und wurde rot. »Schon immer.«
Stuart sah ihn merkwürdig an. Geoffrey hatte beinahe den Eindruck, daß die Gedanken seines Bruders, worum sie auch immer kreisten, ihm Qualen bereiteten.
»Du wirst sie nicht glücklich machen«, erklärte Stuart.
»Natürlich werde ich sie glücklich machen.« Er drehte das Zigarrenkästchen herum, so daß der dekorative Messingadler zur Tür blickte. »Warum sollte ich sie nicht glücklich machen?«
»Weil unsere liebe kleine Emma schon immer viel zu viel Phantasie hatte. Sie wird irgendwann eine Vorstellung davon bekommen, daß es eine andere Welt außerhalb der ihren gibt, wo sie in einer goldenen Kutsche mit Samtkissen fährt, Austern ißt, Champagner trinkt und Ballkleider von Worth trägt. Wenn das geschieht, wird sie etwas tun, das dich zu Tode ängstigt, und unsere Welt wird sie dafür bestrafen und vernichten.«
»Unsinn!«
Die Uhr auf dem Kamin schlug einmal, und die Standuhr im Eingang stimmte ein. Geoffrey zog seine goldene Taschenuhr hervor, blickte darauf und nickte zufrieden, weil die Zeit wie gewohnt im sicheren Gleichmaß kontrolliert verging.
Er schob die Uhr in die Westentasche zurück und hob wieder den Kopf. »Meine Emma wird mir immer nur Freude machen.«
»Natürlich glaubst du das«, sagte Stuart, »weil dir jede Form von Phantasie fehlt.«
Geoffrey ärgerte sich etwas über die Worte seines Bruders. Stuart verstand es immer, die Dinge so zu drehen, als seien Zuverlässigkeit und Verantwortungsbewußtsein Charakterfehler.
»Und du«, erwiderte Geoffrey, »hast stets die unglückliche Angewohnheit, deine Übertreibungen und unberechenbaren Gefühle auf andere zu übertragen. Aber das eine kann ich dir versichern, nur, weil du zwanghaft glaubst, gegen ›unsere Welt‹ rebellieren zu müssen, hegen die anderen von uns nicht insgeheim auch ähnliche Absichten. Es entbehrt meiner Meinung nach nicht einer gewissen Komik, daß du all das tust und dich dabei mit Gin aus einem Glas betrinkst, das mehr wert ist, als einer meiner Arbeiter in einem Jahr verdient.«
Stuart lächelte plötzlich und nahm noch einen großen Schluck. »Du hast natürlich recht. Das Leben eines Rebellen ist nur in der Theorie romantisch.« Er lachte höhnisch. »Und diesen Luxus kann ich mir vermutlich nicht erlauben. Das bringt uns wieder einmal, und wie ich gestehe, zu Recht zum Thema Geld und damit zu meinem Geldmangel ...«
Geoffrey unterbrach ihn mit einer knappen Handbewegung. »Ich dachte, ich hätte meinen Standpunkt in dieser Sache unmißverständlich klargemacht. Ich kann vor Ende des Vierteljahrs nicht noch einen Scheck aus deinem Fondsvermögen ausstellen. Als Treuhänder habe ich gewisse Pflichten, die mich zwingen, die Verfügungen im Testament unseres lieben Vaters buchstabengetreu zu erfüllen, auch wenn ich seine Haltung nicht unterstütze ...«
Stuart schlug mit der flachen Hand heftig auf den Tisch. »Scheiß auf deine Pflichten! Scheiß auf dich und ihn! Bei Gott, du bist so schlimm wie unser lieber Vater, so zugeknöpft wie eine Nonne.« Er rang um Selbstbeherrschung und holte tief Luft. »Um Himmels willen, Geoff, zwing mich nicht, um Geld zu betteln.«
Geoffrey griff nach dem Tintenfaß, das bei dem Zornesausbruch seines Bruders wieder beiseite geschoben worden war. Stuart hatte keinen Grund, ihn so unflätig zu beschimpfen. Wenn sein Bruder zu Lebzeiten ihres Vaters etwas mehr Verantwortungsbewußtsein und Zuverlässigkeit bewiesen hätte – Charakterfehler, wie Stuart es nannte –, dann hätte der alte Alcott sein Erbe vielleicht nicht so sicher wie die Unschuld einer Nonne geschützt. Aber dagegen konnte man nichts mehr tun ...
Geoffrey hob den Kopf, um das seinem Bruder zu sagen, als die Tür der Bibliothek sich öffnete, und Emma erschien.
Umrahmt vom silberhellen Tageslicht war sie nur eine mädchenhafte Silhouette im Türrahmen. Dann trat sie über die Schwelle, und er sah ihr Gesicht, das unter der steifen Krempe ihrer Segelmütze im Schatten geblieben war, und sein Herz schlug, wie jedesmal bei ihrem Anblick, vor Überraschung schneller.
Ihrer Kleidung nach zu urteilen, kam sie geradewegs vom Segeln. Sie trug einen marineblauen, mit Goldlitze besetzten Rock und ein Oberteil mit einem breiten Matrosenkragen. Er fand sie einfach hinreißend.
Geoffrey sprang auf und eilte ihr durch den Raum entgegen. Sie hatte leicht gerötete Wangen. Er hoffte, daran sei nur der Wind schuld und nicht die vulgären Worte seines Bruders.
Glücklich über ihren unerwarteten Besuch legte er ihr den Arm um die Taille und führte sie zu einem dunkelbraunen Ledersofa. Er drückte ihr direkt unter den Rippen die Hand in die Seite und spürte ihren Körper, die sanfte Bewegung des Brustkorbs beim Atmen. Er fand, daß er sich die Freiheit zu dieser intimen Berührung erlauben durfte. Mit der Verlobung schien es nur natürlich, daß er sie nun öfter berührte und nicht mehr nur ganz förmlich. Aber er mußte trotz allem vorsichtigen Abstand wahren, denn er begehrte sie sehnlicher denn je.
»Mein Liebling«, sagte er, und seine Stimme klang unter dem Ansturm der Gefühle leicht belegt. »Welch eine wundervolle Überraschung.«
Sie hob das Gesicht und sah ihn an. Ihre rosige Haut schimmerte so zart und durchsichtig wie eine Muschel im Meer. »Ich bin gerade in deiner Spinnerei gewesen, Geoffrey. Es war ... mir fehlen die Worte, um darüber zu sprechen. Ich hatte die ganze Zeit die entsetzliche Vorstellung, die Maschinen würden außer Kontrolle geraten und die Kinder verschlingen.«
Die Nachricht, daß sie von der Spinnerei kam, schockierte ihn, denn das war kein Platz für eine zartfühlende Dame. Kein Wunder, daß sie zitterte. Der Lärm und die Gerüche mußten sie bereits einer Ohnmacht nahe gebracht haben. Schuld daran war nur die törichte Frau, die bei der Fuchsjagd im vergangenen Monat ihr verunglücktes Kind anklagend der Jagdgesellschaft vorgezeigt hatte. Seine liebe kleine Emma hatte schon immer großes Mitgefühl für alle Geschöpfe Gottes, sogar für die Iren. Er setzte sich neben sie und näherte seinen Kopf dem ihren. Sie duftete nach Fliederparfüm und dem Meer.
Behutsam nahm er ihre Hand, die sie zur Faust geballt im Schoß hielt, und löste einen Finger nach dem anderen. »Nein, die Kinder werden bestimmt nicht von den Maschinen verschlungen. Du erlaubst deiner Phantasie mit dir durchzugehen.«
Stuart stieß einen Laut aus, der halb wie ein Schnauben und halb wie ein Lachen klang. Er stand inzwischen am Kamin und stützte sich mit eleganter Lässigkeit auf den Sims. Aber Geoffrey war entschlossen, ihn nicht mehr zu beachten. Er blickte nur noch in Emmas Gesicht und in ihre Augen, die jetzt die Farbe des Meeres an einem stürmischen Tag hatten. Er zweifelte nicht daran, daß er sie kannte, aber manchmal glaubte er tief in ihrem Innern eine kleine weiße Flamme wahrzunehmen, die sie verzehrte.
Emma entzog ihm die Hand. »Nach der Besichtigung hatte ich ein sehr aufschlußreiches Gespräch mit Mr. Stipple. Ich habe von ihm erfahren, daß du diesen armen Kindern nur einen Dollar fünfzig die Woche zahlst. Niemand kann von einer so jämmerlichen Summe leben. Es ist lächerlich und grausam, das zu glauben.«
»Für sie ist es wohl kaum eine jämmerliche Summe. Schon bei ihrer Geburt stand fest, daß sie von kaum mehr als von Kartoffelschalen würden leben müssen.«
Emma umklammerte den Griff des Sonnenschirms so fest, daß ihr Handgelenk über dem Handschuh ganz weiß wurde. Mit großen Augen sah sie sich in der Bibliothek um, als werde ihr plötzlich bewußt, daß sie sich im falschen Haus befand.
Als ihr Blick sich wieder auf ihn richtete, funkelten ihre Augen. »Ich glaube, diese Seite an dir verachte ich, Geoffrey Alcott.«
Stuart schnaubte noch einmal. »Sie hat nicht nur Phantasie, sondern auch einen scharfen Blick. Das ist wahrhaft eine tödliche Kombination, Geoffrey.« Er lachte. »Ich wiederhole: Tödlich!«
Geoffrey wollte wieder nach ihrer Hand greifen, aber sie entzog sie ihm. »Findest du nicht, daß dein Urteil ungerecht ist, Emma? Diese Menschen kommen ohne Geld und ungebildet aus ihrem bitter armen Land, und ich gebe ihnen Arbeit. Hier können sie die wahren christlichen Tugenden lernen und ernten die Früchte ehrlicher Arbeit.«
»Und was sagen die Gesetze dazu?«
Geoffrey konnte die Augen nicht von ihrer bebenden Unterlippe wenden. Ihn bezauberte die Art, wie sich ihre Brust vor Erregung hob und senkte. Er war so sehr in den Anblick versunken, daß er die Konzentration verlor und nicht mehr auf ihre Worte und den Fluß seiner Gedanken achtete. »Gesetze?«
Sie stand auf und ging ein paar Schritte durch den Raum. Dann drehte sie sich entschlossen um, kam zurück und setzte sich wieder neben ihn. »Die Gesetze verbieten, daß Kinder unter zwölf Jahren in Spinnereien arbeiten. Geoffrey, wenn dort auch nur ein Kind älter als zwölf war, dann würde es mich überraschen.«
»Ihre Eltern sind für die Altersangaben verantwortlich. Wenn sie aus Irland hierherkommen, tragen sie ihre Geburtsurkunden nicht an einer Schnur um den Hals. Außerdem sind die meisten älter als es den Anschein haben mag.«
»Mahlzeiten aus Kartoffelschalen«, warf Stuart ironisch ein, »fördern nicht gerade das Wachstum.«
Geoffrey wollte seinem Bruder sagen, er solle gefälligst den Mund halten, aber er biß sich auf die Lippen und griff wieder nach Emmas Hand. Diesmal entzog sie ihm die Hand nicht.
Ihre Finger zitterten wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln. In ihrem Gesicht spiegelte sich ein solcher Aufruhr der Gefühle, daß er Mühe hatte, sie zu entschlüsseln – Vorwurf, Kummer und Schmerz. Plötzlich kam ihm die leicht erschreckende Erkenntnis, daß er sie vielleicht doch nicht so gut kannte, wie er geglaubt hatte. Ihm war es immer so vorgekommen, als warte sie bloß auf etwas. Und bis zu diesem Augenblick hatte er immer angenommen, dieses Etwas sei er.
»Behandle mich nicht, als sei ich eine dumme Gans«, sagte Emma. »Der verunglückte Junge war bestimmt nicht älter als sechs.«
Er legte seine andere Hand auf ihre, um sie zu beruhigen. »Zufälligerweise habe ich einen Bericht mit Vorschlägen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Spinnereien in Auftrag gegeben«, erwiderte er wahrheitsgemäß, obwohl die Schwerpunkte des Berichts Produktivität und Leistungssteigerungen waren. Trotzdem hatte er nichts dagegen, auch andere Gesichtspunkte einzubeziehen, wenn das seine Emma beruhigen würde.
Er rieb mit dem Daumen über die Naht ihres Handschuhs. »Wenn der Bericht vorliegt, bist du vielleicht so nett, ihn zu lesen und deine Vorschläge hinzuzufügen ... ich meine, aus dem Blickwinkel einer Frau.« Lächelnd hob er die Hand und strich über ihre zarte Ohrmuschel. »Die sanften und mitfühlenden Augen und Ohren einer Frau sehen und hören Dinge, die wir, die herzlosen Männer, außer acht lassen.«
»Wenn ich etwas zum Frühstück gegessen hätte«, murmelte Stuart, »dann müßte ich mich jetzt übergeben.«
»Machst du dich auch nicht über mich lustig, Geoffrey?« Sie blickte ihn aufmerksam an, und etwas veränderte sich in ihren Augen, die plötzlich grauer und entschlossener wirkten. »Ich habe mir nämlich bereits ein paar Gedanken gemacht ... ich meine, über Dinge, die verbessert werden können. Ich denke zum Beispiel an so etwas Einfaches wie etwas mehr Licht, denn in der Halle mit den schmutzigen, schmalen kleinen Fenstern ist es so dunkel und düster wie in einem Gefängnis.«
»Liebling ... wirst du mir glauben, wenn ich dir versichere, daß ich kein herzloses Ungeheuer bin? Das Leben meiner Arbeiter ist bereits sehr viel besser als das der meisten im Land. Und die Sache mit dem Jungen. Emma, es war ein Unfall ... ein bedauerlicher, ja sogar schrecklicher Unfall.«
Sie stieß mit einem langen zitternden Seufzer den Atem aus. »Ich möchte dir glauben, Geoffrey.« Ihr Blick fiel auf ihre ineinander verschlungenen Hände. Ihr Mund wurde weicher. »Wenn wir verheiratet sind, kann ich auf diese Weise für dich von Nutzen sein.«
»Aber natürlich kannst du das«, versicherte er und lächelte sie zärtlich an. Er zweifelte nicht daran, daß sie nach der Hochzeit zu sehr damit beschäftigt sein würde, seine Frau zu sein, um sich noch mit dem Schicksal der arbeitenden Iren abgeben zu können. »So, bleibst du zum Essen, Emma?«
Sie erhob sich anmutig. »Vielen Dank für die Einladung, aber ich muß nach Hause. Ich bin in meinem Segelboot hier, und wie du weißt, macht sich Mama immer Sorgen um mich.«
Er blickte durch die Glastüren ins Freie. Die hellgrünen Lindenblätter bewegten sich im Wind. »Es wird bereits zu stürmisch, um das Boot sicher zurückzusegeln. Komm, ich bringe dich im Landauer nach Hause.«
Aber sie entfernte sich bereits von ihm. »Bitte, Geoffrey, jetzt fang du nicht auch noch an, dir Sorgen zu machen. Ich bin allein hierher gesegelt, also komme ich auch allein zurück.«
Er begleitete sie zur Haustür und sah ihr nach, wie sie über die Marmorplatten eilte und zwischen den Bäumen abwechselnd durch Sonne und Schatten lief, während der betäubende Duft der gelben Blütenblätter in der Luft lag und ihre Wangen und Haare küßte.
Geoffrey traten Tränen in die Augen. Er hielt es für unmöglich, sie mehr zu lieben als in diesem vollkommenen Augenblick eines von Blütenduft erfüllten Frühlingstages.