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2.

Ein Traumspiel (1)

Ich träume, obwohl es eigentlich kein Traum ist, denn ich schlafe nicht. Und kann man träumen, wenn man nicht schläft?

Die Bilder rufen mir in Erinnerung, was geschehen ist. So ist es jedes Mal, vielleicht weil es zu wichtig ist. Weil es nicht in Vergessenheit geraten darf.

*

»Wenn es heute«, sagte Homer G. Adams, »am Neujahrstag des Jahres 1614 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, ein Gefühl gibt, das die allgemeine Stimmung auf Terra beschreibt, dann ist es eines, das mir nicht gefällt. Aber es nützt nichts, es zu leugnen oder mit schönen Worten drum herum zu reden. Also nennen wir es beim Namen.«

Der alte Mann, der das Schicksal der Erde und der Menschheit seit Jahrtausenden begleitete, legte eine genau bemessene Sprechpause ein. Er stand auf einer Bühne, mitten in Terrania City, nur wenige Hundert Meter Luftlinie vom Tekener-Tower, im Dao-Lin-H'ay-Theater.

Das Gebäude war erst vor drei Wochen eröffnet und dabei von einem findigen Journalisten wegen seiner geradezu katzenhaft geschmeidigen Architektur gelobt worden. Die Ränge waren bis auf den letzten Platz besetzt, und natürlich übertrugen Kamerasonden seine Rede nach ganz Terra, auf die anderen solaren Planeten und weit darüber hinaus.

Vor einer Stunde hatte Reginald Bull eine Nachricht an Adams geschickt, dass er es sich ebenfalls anhören werde und dass er ihm alles Gute wünsche im kommenden, höchst unsicheren Jahr. Ich kann verstehen, dass du auf Terra bleibst, hatte er geendet, und ich hoffe, du verstehst, dass ich mich anders entschieden habe.

Selbstverständlich verstand er. Dem alten Weggefährten war gar keine Wahl geblieben – Bulls Amt, sein Ansehen, die Rolle, die er in der Öffentlichkeit spielte ... all das zwang ihn dazu. Homer G. Adams wusste, wie sich politische Verantwortung auswirkte und dass sie unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen zu unterschiedlichen Entscheidungen führte.

Als sich in seiner 15.000 Personen umfassenden Zuhörermenge Unruhe breitmachte, weil die dramaturgische Pause zu lange dauerte, trat Adams einige Schritte vor. Das Akustikfeld, das seine Worte aufnahm und verstärkte, folgte ihm automatisch.

»Also nennen wir diese vorherrschende Stimmung beim Namen: Angst hat sich auf Terra breitgemacht. Und ich kann es niemandem verübeln. Ich fürchte mich ebenfalls.«

Dieses klare Bekenntnis, dieses Zugeben einer vermeintlichen Schwäche, verfehlte seine Wirkung nicht. Ein Raunen ging durch die Menge. Irgendwo zirpte ein Vogelartiger so laut, dass es alles andere übertönte – eine sintatarische Schreckensmelodie, wenn Adams sich nicht täuschte, eine unwillkürliche Lautäußerung dieses Volkes.

»Es gibt hyperphysikalische Phänomene im Solsystem, deren Natur wir nicht verstehen, weil unsere Wissenschaftler keine Ursache dafür erkennen können. Beängstigende Phänomene, die zu allem Überfluss zunehmen. Sich ausbreiten. Häufiger auftreten. Sich intensivieren.«

Homer G. Adams hatte den Arm erhoben und bei jedem der knappen Halbsätze einen weiteren Finger in die Höhe gestreckt. Nun winkte er ab.

»Euch ist das bekannt. Unmöglich, es in diesen Tagen zu ignorieren, auch wenn man es noch so sehr möchte. Die Medien stürzen sich geradezu auf die neueste Schreckensnachricht. Aber wisst ihr was?«

Er zeigte ein schmallippiges Lächeln. »Glaubt einem alten Mann: Das war schon immer so.«

Es fühlte sich ungewohnt an, derart im Mittelpunkt zu stehen. Es war für Adams zwar keine völlig neue Erfahrung, doch üblicherweise agierte er eher im Hintergrund. Sein Ruf als Finanzgenie, das ungesehen die Geschicke der Galaxis lenkt, gefiel ihm recht gut, obwohl das bei Weitem nicht sein ganzes Wirken beschrieb.

Was die breite Masse über ihn dachte, war ihm seit jeher gleichgültig gewesen. Es gab Wichtigeres.

»Es gibt allerdings gute Nachrichten. Zeichen der Hoffnung, die mich optimistisch stimmen. Darum habe ich mich entschieden, ausgerechnet an diesem Ort meine Neujahrsansprache zu halten, um die mich die Regierung gebeten hat. Seht euch um ... ihr sitzt in einem exklusiven Gebäude, in einem architektonisch kühnen Meisterwerk, das jahrtausendealte akustische Prinzipien aufgreift und mit modernster Technologie und bestem Komfort verbindet. Das Dao-Lin-H'ay-Theater wurde vor nicht einmal einem Monat fertiggestellt – für mich ein Zeichen, dass wir ungebremst in die Zukunft gehen und uns nicht aufhalten lassen! Und ja, ehe sich später die Journalisten auf mich stürzen und mir die Frage stellen – ich kannte Dao-Lin-H'ay persönlich. Ich bin tatsächlich so alt, wie ich aussehe, ob mit oder ohne Zellaktivator.«

Das Publikum lachte, und die Stimmung fühlte sich gleich viel gelöster an. Homer G. Adams gönnte sich ebenfalls ein breites Lächeln.

»Ihr alle, die ihr hier seid, habt euch entschieden, trotz der Gefahr auf Terra zu bleiben. Obwohl sich abzeichnet, dass sich die Hyperphänomene immer mehr auf unsere Heimat konzentrieren. Die Raumfahrt ist im Solsystem nahezu unmöglich geworden. Transmitterverkehr ebenso. Eine Prozession von Geistertieren – ein tolles Wort, das die Presse da vor mehr als einem halben Jahrhundert erfunden und das sich seitdem im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt hat – ist über unsere Heimat gezogen, und wir wissen immer noch nicht, was es bedeutet. Es ist nicht das einzige unverständliche Ereignis. Für ein anderes Phänomen haben die Wissenschaftler immerhin einen Namen gefunden: Hyperlokationswürfel.«

Das letzte Wort betonte er auffällig.

»Ihr habt davon gehört, alle von euch. Höherdimensionale Gebilde. Was in sie einfliegt, wird über Lichttage und sogar weitere Strecken versetzt. Möglicherweise verschwindet es völlig. Es ist gefährlich, niemand, der bei klarem Verstand ist, kann das leugnen. Trotzdem seid ihr geblieben.«

Wieder eine kleine Pause.

»Genau wie ich. Ich weiß nicht, ob wir deswegen Helden oder Narren sind. Vielleicht beides. Sehr viele verlassen Terra nicht – ein Volk von Helden und Narren. Aber auch das, glaubt mir, waren wir schon immer.«

Die letzten Sätze hatte er sich am Vortag zu Hause ausgedacht, und sie gefielen ihm nach wie vor. Sie beschworen das Bild einer Gemeinschaft, der er gerne angehörte.

Er begann eine Wanderung über die Bühne, vorbei an den blauen Halut-Rosen, die nicht das Geringste mit Halutern zu tun hatten, sondern wegen der wuchtigen Blüten so benannt worden waren. Das Marketing funktionierte, sie erfreuten sich großer Beliebtheit, sogar in der Drangwäsche-Edition als steinerne Sammelausgabe.

»Heute beginnt ein neues Jahr, und ich habe keine Ahnung, was es für uns bereithält.«

Er ging zurück zur Bühnenmitte und setzte sich in den Sessel. Von dort aus sah er aus dem Augenwinkel die gewaltige Projektion seiner selbst, die es noch dem Zuschauer in der letzten Reihe ermöglichte, jede Regung seines Gesichts genau mitzuverfolgen.

»Es gibt keinen Gegner, den wir bekämpfen könnten, nur diese Hyperphänomene und ihre Auswirkungen. Eine Naturgewalt? Vermutlich. Vielleicht steht auch jemand im Hintergrund, der die Effekte bewusst auslöst und lenkt. Fakt ist, es bleibt ungreifbar. Und damit unangreifbar. Und das ängstigt mich, das gebe ich zu. Ich hätte es lieber, einem Feind ins Auge zu blicken und zu wissen, womit wir es zu tun haben. Das ist uns diesmal verwehrt. Aber, Freunde ... Terraner! ... ich gehe trotzdem voran, egal, was das Jahr 1614 Neuer Galaktischer Zeitrechnung bringen wird.«

Er hoffte, dass sich sein Optimismus – halb echt empfunden, halb geschauspielert – im Publikum verbreitete.

Dann rief er die letzten Worte seiner Ansprache: »Ich danke für eure Aufmerksamkeit!«

Er blieb sitzen, weil er glaubte, dass das mehr Ruhe und Zuversicht vermittelte, als sich abzuwenden und die Bühne zu verlassen. Stattdessen fiel vor ihm der Vorhang – zumindest hätte man es früher so genannt. Tatsächlich schalteten die Bühnentechniker ein Dunkelfeld, das den Blick hindurch verwehrte und, wie Adams wusste, vom Zuschauerraum aus einen Sternenhimmel simulierte.

Darauf lief eine perfekt choreografierte Show ab; Raumjäger im Staffelflug, dann ein heranfliegendes Raumschiff des RAS TSCHUBAI-Suchkommandos.

Adams entschied sich, nicht länger zuzuhören. Er war müde, und nun, ungesehen von der Menschenmenge, konnte er die Bühne verlassen. Nur ein Servoroboter kam ihm entgegen und fragte, ob er etwas tun könne.

»Ruf mir einen Taxigleiter!«

»Du kannst selbstverständlich einen der VIP-Gleiter nutzen, die auf der Terrasse im siebenunddreißigsten Stockwerk bereitstehen. Wünschst du eine Schwebeplattform, die dich von hier zu ...«

»Wünsche ich nicht, danke. Ich gehe zu Fuß.«

*

Die Dinge entwickelten sich schneller, als Homer G. Adams ohnehin befürchtet hatte. Jedem, der eine derart rasante Verschlechterung prognostiziert hätte, wäre er offen entgegengetreten und hätte ihn einen Pessimisten genannt. Oder Schlimmeres. Er wusste, was negatives Gerede und Schwarzmalerei anrichteten, wie sie die Atmosphäre vergifteten.

Doch bereits am ersten Tag nach seiner Rede im Dao-Lin-H'ay-Theater versammelten sich etliche Hyperlokationswürfel um Terra und Luna.

Adams kam es von Stunde zu Stunde wahrscheinlicher vor, dass sie gelenkt wurden, obwohl es keinen Beweis dafür gab. Es könnte sich um ein natürliches Phänomen handeln, weil etwas die Gebilde anzog – was immer dieses Etwas sein mochte. Das Universum hielt stets Überraschungen bereit, und die Wissenschaft war bei seiner Erforschung längst nicht in die tiefsten Tiefen vorgestoßen. Und gerade das Solsystem und die Erde bildeten, das durfte man wohl mit Fug und Recht sagen, einen Quell für so manche verblüffende Entdeckung.

Der Funkverkehr von und nach Terra wurde durch die Ballung der Hyperlokationswürfel zunehmend erschwert. Der Raumschiffsverkehr entwickelte sich zu einem riskanten Lotteriespiel und erstarb weitgehend – von Evakuierungsschiffen abgesehen, die höchste Vorsicht walten ließen.

Für die Menschen der Erde stellte sich die Frage, welches Risiko sie eingehen wollten – zu bleiben oder zu fliehen. Beides schien gleich gefährlich, das eine unmittelbar, das andere auf lange Sicht ... und bald wurde es unmöglich, noch von Terra oder Luna zu starten.

Das Mondgehirn NATHAN meldete sich und sprach ungewohnt diffus von einer Bedrohung, der es damit begegnete, jeglichen Funkverkehr nach außen zu kappen.

NATHANS Reaktion führte im Nachhinein dazu, dass der zweite Januar zum Beginn des Change-Everything-Ereignisses bestimmt wurde, jenen vier Tagen, die den Wandel bewirkten.

An dem Tag selbst wusste das niemand, und man versuchte, sich mit dem Mondgehirn zu beschäftigen, herauszufinden, wie der gewaltige Rechner auf die Phänomene reagierte und warum.

Aber es galt so viele Punkte gleichzeitig abzuarbeiten, und Homer G. Adams konnte sich nicht um alles kümmern, obwohl manche das von ihm offenbar erwarteten. Als einziger Zellaktivatorträger, der sich aktuell auf der vom restlichen Universum abgeschnittenen Erde aufhielt, sahen die Medien in ihm die Eier legende Wollmilchsau – auch wenn diesen bereits vor Jahrtausenden aus der Mode gekommenen Begriff nur noch er selbst kannte. Was draußen geschah, wusste keiner mehr. Eine Kommunikation nach außen war völlig unmöglich, und von dort kam keine Botschaft herein.

Terra und Luna waren perfekt abgeriegelt, und die Millionen Menschen, die sich auf dem Planeten und seinem Mond aufhielten, fühlten in kosmischer Hinsicht eine ebenso verwirrende wie beängstigende Einsamkeit.

Adams ließ sich von dem Druck, den die Öffentlichkeit aufbaute, nicht beirren. Bald überlegte er, wie viele seiner 15.000 Zuhörer aus dem Dao-Lin-H'ay-Theater wohl vor dem Verschluss noch gegangen waren. Und später, als die Katastrophe endgültig ihren Lauf nahm, fragte er sich, ob er auch hätte gehen sollen.

Etwas ... geschah um sie.

Jeder schien es anders wahrzunehmen. Für Adams war es wie ein Traum, wenn er in den Himmel sah und dort weder Sonnenlicht noch Nachtschwärze fand, sondern eine Kaskade aus Rot und Blau. Aber niemand sonst teilte exakt diesen Eindruck, und sogar Maschinen, die eigentlich objektive Aufzeichnungen führen sollten, spuckten unterschiedliche Ergebnisse aus.

Als Adams sah, wie das Universum ...

... flackerte, wie es ...

... durchsichtig wurde, als wäre es eine fehlerhafte Projektion, befand er sich in Atlan Village, in einer halbwegs ruhigen Straße.

Er hob den Blick. Mal sah er die Sterne, mal verschwanden sie, und an ihre Stelle trat das Nichts – ein Nichts, das weniger war als das All.

Diese Phase währte nicht lange, und mit einem Mal gab es keine Hyperlokationswürfel mehr, die eben noch in erschreckender Anzahl Terra und Luna eingekreist hatten.

Über Homer G. Adams flog ein kleiner Touristengleiter auf seiner automatischen Sightseeingtour zu den Highlights der Sternenstadt. Wegen der aktuellen Situation war er nur mit einer einzigen Person besetzt, wie Adams im Nachhinein zu seiner Erleichterung herausfand. Dieser Passagier, eine Frau namens Amalia Serran, überlebte mit sieben Knochenbrüchen, wobei der Bruch am Bein eigentlich einer kompletten Zertrümmerung glich.

Der Gleiter schmierte mit einem Mal ab. Mit heulenden Triebwerken neigte er sich zur Seite, schrammte in die Glasfront eines Restaurant-Turms und krachte in einem Hagel aus Splittern und zerfetzten Strahlstreben in die anschließende Parkanlage. Dabei bohrte er sich in den Erdboden, so tief, dass er eine darunter verlaufende Hauptwasserleitung beschädigte.

Eine Fontäne schoss in die Höhe und löschte die Flammen, die aus dem geborstenen Rumpf des Gleiters schlugen.

Adams war nicht der Einzige, der diesen Absturz beobachtete. Eine Menge Menschen strömten zusammen, und aus dem beschädigten Gebäude schwebte ein Medoroboter in Richtung Park. Es handelte sich um ein sehr einfaches Modell, wie Adams bemerkte, als es ihn passierte, aber es würde in der Lage sein, Überlebende zu versorgen, bis weitere Hilfe eintraf.

In den Minuten danach begriff Homer G. Adams, dass dieser Gleiterunfall nur der Anfang gewesen war.

*

In meinem Traum, der kein Traum ist, blitzen all die kleinen Katastrophen auf, die Terra mit einem Netz aus Tragödien überziehen. Aber ich will sie nicht sehen, mich nicht an sie erinnern, und für das Gesamtbild sind sie nicht wichtig genug, als dass mich mein Unterbewusstsein dazu zwingen könnte.

Ja, für die Betroffenen waren sie entscheidend, lebensverändernd, und für viele Familien entsetzlich, wenn Angehörige starben.

Aber auch ich bin nur ein Mensch, der die Erinnerung an so viel Leid nicht ertragen will, und so wandern meine Traumerinnerungsbilder weiter. Hin zu jenem verrückten Moment, der stellvertretend steht für all die Schicksale, die das Ereignis, das alles veränderte, geprägt hat.

Hin zu dem Medobett, in dem eine Frau namens Amalia Serran liegt und mich aus großen Augen anschaut.


*


»Du bist Homer G. Adams«, sagte die Frau im Medobett, deren Gesicht fast so bleich war wie das weiße Kissen, auf dem sie lag, und der Decke, die sie sich bis zum Kinn hochgezogen hatte. Auch ihre Haare waren weiß, was ihr insgesamt einen geisterhaften Touch verlieh.

»In der Tat«, sagte er.

»Eines wollte ich schon immer wissen.« Während dieser Worte fuhr Amalia Serran die obere Hälfte des Bettes hoch, bis sie saß. Dadurch verrutschte die Decke. Sie trug ein tiefrotes Shirt, und nichts mehr erinnerte an das Gespensterhaft-Ätherische, das der Besucher eben noch empfunden hatte. »Was in aller Welt soll Gruhna für ein Name sein?«

»Gruhna?«, fragte er.

»Dein zweiter Vorname. Homer G. Adams. Gruhna.«

Er lächelte. »Es steht für Gershwin.«

»Nicht Gruhna?«

»Nein.«

Amalia winkte ab. »Auch nicht besser. Was führt dich hierher?« Sie fragte es in einem Tonfall, wie sie wahrscheinlich ihre Nachbarin begrüßt hätte, mit der sie seit Jahrzehnten gemeinsam Gemüse im Schrebergarten anbaute.

»Du«, sagte er.

»Zu viel der Ehre. Oder soll das heißen, das ist ein Presse-Prestige-Auftritt, und draußen wartet eine Horde Journalisten, vor denen du mir gleich medienwirksam die Hand geben willst? So in der Art: Homer G. Adams besucht eines der Opfer des Technikausfalls wegen der stark erhöhten Hyperimpedanz?«

Ihre schnoddrige Art gefiel ihm. »Keine Reporter«, versprach er.

»Prima, ich hätte nämlich nicht mitgespielt. Ich kann nicht aufstehen, weißt du, und im Liegen möchte ich nicht in die Nachrichten. Ganz davon abgesehen, dass ich sowieso nicht verstehe, welche Art von Technologie versagt und welche nicht. Ich wäre also kein kompetenter Gesprächspartner.«

»Diese Frage ist selbst für Spezialisten nicht leicht zu beantworten«, meinte Adams. »Es kommt zu Systemversagen bei Geräten, die normalerweise nicht betroffen wären, denn es treten Rückkopplungen und Überlastungen auf, die sich sekundär auswirken und zu Ausfällen führen. Nimm deinen Gleiter – eigentlich hätte er nicht abstürzen dürfen, aber es gab eine Kaskade von Komplementärschäden. Außerdem sammeln wir andere Erfahrungen als beim damaligen Hyperschock, weil die Hyperimpedanz gerade extrem erhöht ist.«

Amalia deutete auf ihre unter der Decke verborgenen Beine. »Klingt ziemlich abstrakt dafür, dass ein Medoroboter acht Stunden gebraucht hat, meinen linken Unterschenkel wieder so zusammenzupuzzeln, dass ich einigermaßen gerade werde laufen können. Sonst geht es mir am Ende noch wie dir.«

»Du bist sehr charmant.«

»Entschuldige, du kannst nichts für deinen verkrümmten Gang, ich weiß. Ich wollte dich nicht beleidigen, ich trage mein Herz einfach auf der Zunge.«

»Das macht dich sympathisch.«

»Lass die Ironie, alter Mann!«

»Keine Ironie.«

Nun lächelte sie. »Da wir uns nun abgetastet haben, gebe ich offen zu, dass ich dich ebenfalls sympathisch finde und neugierig bin, was einen so prominenten Menschen wie dich zu mir führt.«

»Ich hatte deinen Unfall beobachtet.«

»Den Absturz, der mich vor zwei Wochen in diese Klinik befördert hat? Weißt du, was so ein kahlköpfiger Arzt dazu gesagt hat? Ich hätte Glück gehabt. Glück!« Sie schüttelte übertrieben stark den Kopf.

»Er hatte recht.«

»Findest du?«

»Du könntest tot sein.«

»Und? Wäre vielleicht besser.«

»Sei nicht so egoistisch.«

Das verschlug ihr offenbar die Sprache.

»Nimm zum Beispiel nur dieses Gespräch«, sagte Adams. »Wir könnten es nicht führen, wenn du tot wärst. Ich würde das bedauern. Es gibt mir viel.«

»Du würdest es nicht bedauern, denn du wüsstest es ja gar nicht.«

»Siehst du? Es macht Spaß, mit dir zu philosophieren.«

»Noch mal ... warum bist du hier, Gershwin? Ich darf dich doch Gershwin nennen?«

»Das tut niemand.«

»Umso besser, dann bin ich die Einzige. Also, du hast den Absturz beobachtet, aber das ist keine Antwort. Gehört dir der Restaurant-Turm, den der Gleiter beschädigt hat? Willst du Schadensersatz? Ausgerechnet bei mir?« Sie lachte.

Von Sekunde zu Sekunde fühlte er sich wohler. Es kam nicht oft vor, dass Menschen sich so rasch seinem Herzen näherten. Er lebte lieber zurückgezogen. Oder, wie manche es ausdrückten, isoliert.

»Kein Geld«, versicherte er. »Keine Presse, keine Publicity, nichts in der Art. Es gab so viele kleine Unfälle, aber deinen musste ich miterleben. Ich wollte einfach nur wissen, wie du es überstanden hast. Ich trage zwar einen Zellaktivator ...« Er klopfte sich unters Schlüsselbein. »... aber ich bin immer noch ein Mensch. Mit Gefühlen. Und Interesse an anderen Menschen und ihrem Schicksal.«

»Es geht mir gut. Und ich kann prima lügen.«

Darüber musste er nachdenken.

»Eigentlich fühle ich mich schrecklich«, ergänzte sie. »Ich schlucke tolle Schmerzmittel, und irgendein medizinisches Dingsda unterdrückt die Impulsweiterleitung der Nervenbahnen an mein Gehirn, sodass die Schmerzen erst gar nicht dort ankommen. Aber ich erinnere mich an die Zeit, als ich nach dem Absturz im Gleiter lag. Mein Bein war ...« Sie winkte ab. »Ach, egal. Ich gebe zu, dein Besuch muntert mich auf. Darf ich dir eine Frage stellen?«

»Nur zu!«

»Es gibt etwas, das ich schon immer wissen wollte. Nicht nur diese Gruhna-Geschichte. Nämlich, wie es sich anfühlt, einen Zellaktivator im Körper zu tragen. Nicht, dass ich einen haben möchte – eine entsetzliche Vorstellung. Aber ... ich finde es interessant. Also erzähl mir davon, wenn es deine Zeit erlaubt.«

Eigentlich blieb ihm die Zeit nicht. In einer Stunde stand eine Besprechung mit Gisso Appelles an, der Frau, der Adams zutraute, in dieser Krisenzeit die politische Führung der Menschheit zu übernehmen und sie hier – wo auch immer dieses Hier sein mochte – in die Zukunft zu führen.

Aber Besprechungen, das lehrten ihn alle Erfahrungswerte als ältester lebender Terraner, konnten warten. »Gerne«, sagte er deshalb. »Lass mich nur vorher einen Tee für uns besorgen.«

»Marsianische Fenchelminze, bitte, falls du es schaffst, welche aufzutreiben.«

»Ich bevorzuge einen guten Earl Grey.«

»Jeder hat seine Charakterschwächen. Geh nur, ich bleibe hier. Aber bilde dir bloß nichts darauf ein, dass ich in der Zwischenzeit nicht weglaufe. Ich kann nicht.« Wieder deutete sie auf ihre Beine.

Homer G. Adams verließ das Krankenzimmer und fragte sich, was soeben passiert war.

*

Adams stellte die Tasse ab. »Es ist Minze, immerhin. Als ich nach deinem speziellen Wunsch gefragt habe, teilte mir der Mesero – so heißen die hier tatsächlich, eine Abkürzung von Medo-Servo-Robot, nehme ich an – mit, dass dies kein Luxushotel sei. Und dass es keine Verbindung zum Mars mehr gäbe, um Nachschub zu ordern. Das Letzte sollte wohl ein Witz sein. Humor zu programmieren, ist schwierig.«

»Ich wundere mich über dich«, sagte Amalia.

»Ja?«

»Es heißt, du wärst eher wortkarg.«

»So?«

»Über prominente Leute wie dich kursieren viele Behauptungen, und die meisten widersprechen einander.« Sie nahm das Getränk. »Danke, übrigens. Wahrscheinlich wurde dein Wunsch im Gegensatz zu meinem erfüllt?«

Er roch an seiner Tasse. »Earl Grey. Aber nicht gerade herausragende Qualität.«

»Tja«, sagte sie. »Ich glaube, ehe du mir erzählst, wie es sich anfühlt, einen Zellaktivator zu tragen, wäre ich froh, von dir ein paar Dinge aus erster Hand zu erfahren. Du hast ein gutes Stichwort gegeben: Es gibt keine Verbindung mehr zum Mars. Gershwin, was ist da draußen los?«

Er dachte nach, weil ihm jede schnelle Antwort zu billig erschien. Hin und wieder musste er in den Medien Stellungnahmen abgeben, wobei er dabei den Wortlaut der offiziellen Regierungsverlautbarungen virtuos beherrschte. Aber diese Floskeln kannte diese erstaunliche Frau namens Amalia Serran aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls.

Er nippte an seinem Tee. Er war zu heiß. »Eines vorweg: Ein Zellaktivator verhindert nicht, dass man sich die Lippen verbrennt.«

»Du bist witzig«, sagte sie. »Und so viele Behauptungen über dich auch kursieren, von Humor als Eigenschaft des großen Homer G. Adams habe ich noch nie etwas gelesen.«

»Ich fühle mich gar nicht, als wäre ich irgendein historischer Fakt«, meinte er. »Ich komme mir sehr gegenwärtig vor.« Und ziemlich lebendig, seit ich dieses Krankenzimmer betreten habe.

»Wie gesagt, du bist witzig. Aber zurück zur Sache, Gershwin – was ist da draußen los?«

»Terra befindet sich noch im Solsystem«, sagte Adams, »daran kann kein Zweifel bestehen. Allerdings ist ebenso sicher, dass es sich nicht um unser Solsystem handelt.«

»Also ein Paralleluniversum?«

Über diese naheliegende Vermutung zerbrachen sich die klügsten Leute der Menschheit – zumindest diejenigen, die sich noch auf Terra oder Luna aufhielten – seit zwei Wochen den Kopf. Seit dem CEE, dem Change-Everything-Event, das den Planeten und seinen Mond ... versetzt hatte. Ihr Ergebnis brachten sie überraschend einmütig vor.

»Nein«, sagte Adams. »Kein Paralleluniversum.«

»Aha«, machte Amalia. »Sondern?«

»Wenn wir das nur wüssten.«

Sie schwiegen kurz, tranken Tee, dachten nach. »Wieso kein Paralleluniversum?«, fragte sie. »Ich meine ... wie will jemand das entscheiden?«

»Es gibt vor allem ein Anzeichen dafür. Einen Beweis. Kennst du dich aus mit der Theorie und Geschichte von Paralleluniversen?«

Sie lächelte. »Du fragst mich Dinge, die nie zuvor jemand von mir wissen wollte.«

»Und?«

Sie verneinte. »Ich bin ein ganz normaler Mensch, weißt du? Nicht wie du.«

Er fühlte den Drang zu widersprechen, verkniff es sich aber. »Wenn man in ein Paralleluniversum wechselt, kommt es zu Strangeness-Effekten. Es dreht sich dabei um eine veränderte Grundkonstante, die wir Strangeness nennen und die wir vor allem fühlen können – je fremder ein Universum, desto ...« Er überlegte, wie er es ausdrücken sollte; mit wissenschaftlich korrekten Termini könnte Amalia womöglich nicht viel anfangen.

»Desto mehr haut es einen aus den Socken?«, schlug sie vor.

»Gut ausgedrückt, ja.«

»Und die erhöhte Hyperimpedanz weist nicht auf ein Paralleluniversum hin?«

»Absolut nicht. Eine Erhöhung der Hyperimpedanz ist schließlich auch im Einstein-Universum aufgetreten, vor ein paar hundert Jahren.«

»Klingt, als ob das für dich ein überschaubarer Zeitraum wäre. Für mich sind das Generationen. Ich kann meinen Familienstammbaum gar nicht so weit zurückverfolgen.«

Er hob die Schultern. »Überschaubar würde ich es nicht nennen. Hör zu, obwohl wir nicht viel über den Bereich wissen, in dem wir uns nun befinden, steht fest, dass es keine von unserer eigenen abweichende Strangeness gibt. Wir halten uns nicht in einem Paralleluniversum auf. Aber die Wissenschaftler glauben auch nicht, dass dies nach wie vor unser angestammtes Universum ist, also das Einstein-Universum.«

»Habe ich das richtig verstanden?«, fragte Amalia. »Wir sind weder zu Hause noch irgendwo sonst?«

»So sieht es aus, ja.«

»Wenn es nur um mich ginge, würde ich sagen, ich bin tot und nun in einem anderen Gefilde. Aber hat man je gehört, dass ein ganzer Planet samt seines Mondes und der nicht gerade kleinen Bevölkerung stirbt, ohne es zu bemerken?«

»Hat man nicht«, sagte Adams, »und daran glaube ich auch nicht.«

»Also geht es um Glaube statt um Wissenschaft und Hyperphysik?«

»Vielleicht ja um beides.« Er wunderte sich selbst über diesen Satz, der seinen Mund entschlüpft war, ohne dass er darüber nachgedacht hatte. »Wobei dem, was mit der Erde passiert ist, nichts Mystisches anhaftet, davon bin ich überzeugt. Wir brauchen keinen Parapsychologen, um Antworten zu finden. Es hat uns lediglich in einen Bereich verschlagen, den wir nicht kennen und an den nie jemand zuvor jemals gedacht hat.«

»Klingt nicht sonderlich einfach«, meinte sie.

Womit sie den Nagel auf den Kopf traf. Tatsächlich war es sogar alles andere als das. »Das Solsystem, in dem wir uns gerade aufhalten ... also, es ist unser heimatliches Sonnensystem, aber zugleich ist es das auch nicht. Pluto zieht ganz ungerührt seine Bahn, obwohl er vor langer Zeit beim Angriff der Takerer zerstört wurde. Außerdem gibt es den Planeten Zeut noch, der bereits viel länger kein Teil des Solsystems mehr ist. Und Medusa ist da, der Himmelskörper, von dem wir erst seit Kurzem wissen, dass er vor Ewigkeiten zum Solsystem gehörte. Manche der elf Planeten ähneln den Gegenbildern im Einstein-Universum fast völlig, andere weichen ein wenig ab. Die markantesten Unterschiede weist der Mars auf – eine paradiesische Welt mit Wasser und Meeren und sogar einer für uns atembaren Atmosphäre!«

»Du bist wirklich nicht so wortkarg, wie man dir nachsagt«, kommentierte sie. »Ich könnte dir stundenlang zuhören. Du solltest über eine Laufbahn als Poet nachdenken.« Sie zupfte sich ihr Shirt über der Schulter zurecht. »Aber sag mir eins, Gershwin: Wir befinden uns doch auf Terra, oder? Wir wurden nicht alle auf einen Planeten versetzt, der der Erde ähnlich ist?«

»Es ist das echte Terra.«

»Womit sich die Frage stellt, was aus der Welt geworden ist, die ursprünglich in diesem Solsystem ihre Bahn gezogen hat. Ich meine, es muss eine gegeben haben, oder täusche ich mich da?«

»Du hast recht. Das gesamte Gleichgewicht des Systems wäre sonst unausgewogen. Und die Ähnlichkeiten werden kaum ausgerechnet an dieser Stelle enden. Zumal es, soweit wir es bislang beurteilen können, um uns herum das gesamte Universum gibt, wie wir es kennen. Ein zweites Wegasystem, auch alle anderen bekannten Sterne und Galaxien.«

»Also stellt sich eine Frage«, sagte sie. »Wenn wir hier diesen Platz einnehmen ... wo sind dann die Erde und der Mond dieses Solsystems?«

Adams zerbrach sich darüber nicht zum ersten Mal den Kopf. »Vielleicht gab es einen Austausch. Möglicherweise beschäftigen sich unsere Leute zu Hause gerade mit der brennenden Frage, wo denn diese andere Erde und der andere Mond herkommen.«

Seine Worte brachten sie offenbar zum Nachdenken, denn sie schwieg eine ganze Weile. »Gershwin?«, fragte sie schließlich.

»Ja?«

»Der Unfall hat mich schwer verletzt, und diese Behandlungen, die Schmerzmittel, der Heilungsvorgang ... das alles macht mich müde. Ich muss schlafen. Tut mir leid. Aber eine letzte Frage. Stimmt es, dass da draußen kein Leben existiert? Dass wir, wohin immer es uns verschlagen hat ... dass wir hier völlig allein sind?«

Damit sprach sie genau das aus, was ihn mehr als alles andere erschütterte. Sie rührte an einer seltsamen Angst: gemeinsam mit allen anderen Menschen allein zu sein.

»Für das Solsystem gilt das ganz sicher«, sagte er. »Kein intelligentes Leben außer uns. Nirgends. Sonst können wir noch keine definitive Aussage treffen. Wegen der erhöhten Hyperimpedanz sind nahezu sämtliche Raumschiffe, die mit uns versetzt wurden, funktionslos. Wir empfangen keinen Hyperfunk, falls es welchen gibt, solange wir die Technologie nicht angepasst haben. Was einige Zeit dauern wird.«

»Aber du kannst mir nicht erzählen, dass es nicht bei einem oder zwei Geräten inzwischen gelungen ist. Ihr hattet vierzehn Tage Zeit und wollt garantiert wissen, was dort draußen ...«

»Du hast recht. Und nein – bislang konnten wir keine Nachricht aufgefangen. Keine einzige. Wo immer wir sind, es ist möglich, dass es niemanden außer uns gibt.«

Sie schwiegen.

Irgendwann sagte sie: »Jetzt haben wir gar nicht über deinen Zellaktivator gesprochen. Kannst du wiederkommen, Gershwin? Ich würde gerne mit dir den Mars besuchen oder diesen Ozean auf dem Jupitermond. Ich glaube, dort draußen gibt es viel zu entdecken.«

Davon war er auch zutiefst überzeugt. »Ich komme wieder«, entschied er.

Als er die Klinik verließ, legte er sich eine Notiz an: Marsianische Fenchelminze besorgen.

Perry Rhodan-Paket 62: Mythos (Teil2)

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