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2.

Ein Traumspiel (4)


So viele Erinnerungen wehen durch meinen Traum, der kein Traum ist. Sie sind der Grund, weshalb die Bilder nicht enden: Das, was geschehen ist, darf nicht im Vergessen versinken.

Etwas in mir ruft die Szenen der Vergangenheit vor mein Auge – obwohl ich keine Augen mehr habe, um zu sehen; kein Ohr, mit dem ich hören könnte, und doch rauscht der Lärm zu mir, tanzt selbst das leiseste Geräusch in meinen Verstand hinein.

Ich habe gesehen und gehört, geschmeckt und gefühlt, wie ich mit der ganzen Erde versetzt wurde und die extrem erhöhte Hyperimpedanz katastrophale Unfälle bewirkte. Wie einer dieser Unfälle mich zu Amalia führte. Wie die Menschheit mit der neuen STARDUST zum Wegasystem aufbrach und es tot und leer vorfand, was die Topsider auf den Plan rief und uns eine erste Ahnung verschaffte, welche Gefahren auf uns lauern.

Aber bei all dem sind die Bilder des Nicht-Traumes stets einem wichtigen Thema ausgewichen, das ebenfalls nicht im Dunkel des Vergessens versinken darf. Denn Terra ist nicht allein versetzt worden. Der Mond begleitet die Erde, wie es seine angestammte Pflicht ist.

Luna.

Und mit ihm NATHAN, der schläft, wie ich schlafe. Nur dass unser beider Schlaf kein Schlaf ist, sondern mehr als das, und dass der Tag kam, an dem das Mondgehirn erwachte, etwa ein Jahr vor der Begegnung mit den Topsidern und nur einen Tag nach der ersten Rede des Jathao Vanoth.

NATHAN erwachte ...

... und weinte.

*

Am 4. März 1626 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, etwas mehr als zwölf Jahre nach der Versetzung, lief es wie ein Schock durch nahezu sämtliche Rechner auf Terra und Luna. Ein positronischer Aufschrei, der trotz seiner Intensität für jeden Menschen unhörbar verhallte. Roboter jedoch stellten für die Dauer einer Sekunde – einer rechnerischen Ewigkeit – ihre Arbeit ein, Systeme stürzten ab und starteten neu.

Homer G. Adams las in diesem Moment eines der alten Papierbücher seiner Sammlung – das Faksimile einer Erstausgabe eines Klassikers der Science-Fiction-Literatur, die sich damals gerade selbst erfunden hatte und bald von der Wirklichkeit überholt worden war.

Er hätte es nicht sofort mitbekommen, wenn der positronische Aufschrei nicht um 23.35 Uhr stattgefunden und wegen des Absturzes der Hauspositronik auch das Licht erloschen wäre. So legte er »Out of the Silent Planet«, den ersten Teil der »Perelandra«-Trilogie von C. S. Lewis, beiseite. Er stand auf und wollte sich gerade durch das dunkle Zimmer tasten, als die Lampe neben seinem Sessel bereits wieder ansprang.

»Was war das?«, fragte er.

»NATHAN ist erwacht«, meldete die Positronik. »Aufgrund der allgemeinen Vernetzung hat mich die Schockwelle kurzzeitig überfordert.«

»Schockwelle?«, hakte Adams nach, während er bereits darüber nachdachte, ob er mit der Residentin Gisso Appelles Kontakt aufnehmen sollte. NATHANS Erwachen nach zwölf Jahren war nicht mehr und nicht weniger als eine Sensation. Seines Wissens planten die Betreuer keine Aktion, um den lunaren Großrechner aus seiner Inaktivität zu wecken – was seit dem CEE etliche Male versucht worden war. Also war NATHAN wohl spontan erwacht.

»Der Schock der Trauer, die das Mondgehirn empfindet«, erklärte die Hauspositronik.

»Was ist mit NATHAN?«

»Er vermisst seine Tochter, die verschwunden ist.«

So also äußert sich die Trauer eines Rechners, dachte Adams. Oder vielleicht die auf eine reine Informationsebene heruntergebrochene Kopie eines echten Gefühls. »Du redest von YLA?«

»Kennt NATHAN denn ein anderes Kind als einzig das positronische Phantom?«, fragte die Maschine, und die Betonung klang ebenso pathetisch wie die Wortwahl. »YLA ist verloren!« Ein Hauch von Melancholie spielte in den Worten.

*

»NATHAN?«, fragte Adams wenige Stunden später. Er saß mit der Residentin in deren Hauptbüro im Solaren Haus. Die Verbindung mit dem Mondgehirn stand, sie hatten ein Gespräch mit höchster Priorität angemeldet.

»Du bist Homer G. Adams«, stellte NATHAN fest – eine geradezu triviale Aussage für den größten Rechner der Menschheit.

»Der bin ich«, sagte er. »Bei mir steht Gisso Appelles.« Natürlich wusste NATHAN das, denn er sah sie – es gab eine Bildverbindung.

»Sie ist die amtierende Residentin dieser LFG.« Damit bewies der lunare Großrechner, dass er sich bereits auf den aktuellen Stand gebracht hatte. Alles andere wäre höchst überraschend gewesen.

»Guten Tag«, sagte Gisso Appelles.

»Es ist schön, begrüßt zu werden. Nicht jeder erweist mir diese Höflichkeit.«

Adams fragte sich, ob er das damals, beim ersten Kontakt mit NATHAN, getan hatte. Es lag zu lange zurück, als dass er sich daran erinnern könnte.

»Ich habe sämtliche Aufzeichnungen über dich gesichtet«, fuhr der Rechner fort. »Die meisten Berichte, die auf Äußerlichkeiten eingehen, betonen, dass du außergewöhnlich groß bist. Ich stelle fest, dass du 2,124 Meter misst und damit mehr als 98 Prozent aller Terraner.«

»Warum sagst du das?«, fragte sie.

»Ich wollte dir mit einem Lob für deine Höflichkeit danken.«

»Für meine Körpergröße habe ich nichts getan.«

»Ich werde das in Zukunft berücksichtigen«, versicherte NATHAN.

Adams fand, dass die künstliche Stimme ... normal klang. Wie immer. Die Art des Gesprächs jedoch war etwas ungewöhnlich, doch das durfte er nicht überinterpretieren. Selbstverständlich wollte er herausfinden, ob NATHAN sich durch die lange Periode der Inaktivität verändert hatte. Und ob möglicherweise etwas ihn beeinflusste. »Wir wollen mit dir zwei wichtige Themen besprechen«, sagte er.

»Meiner Analyse der Gesamtlage zufolge handelt es sich einerseits um das Auftreten des Thesan Jathao Vanoth und seine Botschaft sowie die Konsequenzen, die sich daraus ergeben.«

Die Residentin nickte. Wie immer saß ihre Frisur perfekt – das blonde Haar fächerte sich breit über dem Rücken auf und bedeckte ihn bis zur Taille. »Das ist korrekt. Vanoth stellt uns vor einige Rätsel.«

»Das zweite Thema jedoch ist weniger selbstverständlich«, sagte das Mondgehirn. »Geht es allgemein um die Fortschritte in der Neubesiedelung dieses Solsystems? Oder um die konkreten Pläne zum Ausbau der Infrastruktur von Skiaparelli auf dem Mars?«

Adams wollte antworten, aber Gisso kam ihm zuvor. »Weder noch.« Sie schmunzelte. »Rat weiter!«

»Es gibt etwa vierhundert potenzielle Themen«, sagte NATHAN. »Es würde Zeit sparen, wenn ihr ...«

»Einverstanden«, unterbrach die Residentin. »Wir trauern mit dir um YLA und möchten mehr über die Hintergründe erfahren.«

»Das wäre mein siebzehnter Vorschlag gewesen. Es bleibt nicht viel zu besprechen. Nach meinem Erwachen gab es keinen Kontakt zu YLA, und daran hat sich nichts geändert. Euch ist bekannt, dass ich die positronische Rechengesamtheit, die sich als YLA bezeichnet, als meine Tochter ansehe. Diese Tochter ist offenkundig verloren.«

»Wir bedauern das«, sagte Adams.

»Danke.«

»Wieso bist du nach all der Zeit erwacht?«

»Ich vermag keine Ursache zu bestimmen«, behauptete NATHAN.

»Hat es etwas mit Jathao Vanoth zu tun?«

»Ich verstehe, warum du diese Frage stellst«, sagte der Rechner. »Ich habe zwölf Jahre lang geschlafen und erwache nahezu exakt zu dem Zeitpunkt, an dem Vanoth auftritt und seine Rede hält. Einen kausalen Zusammenhang kann ich dennoch nicht bestätigen. Irgendein Ereignis würde immer in zeitlicher Nähe liegen. Allerdings lässt sich eine Verbindung ebenso wenig ausschließen.«

»Was weißt du über Jathao Vanoth?«, fragte die Residentin.

»Mir ist nicht mehr bekannt als euch. Er bezeichnet sich als Thesan. Von diesem Volk gibt es keinerlei Aufzeichnungen in meiner Datenbank. Die Terraner sind nie auf einen Angehörigen seines Volkes gestoßen. Sollte er sich bereits vor der Versetzung auf Terra aufgehalten haben, weiß ich davon nichts.«

»Dennoch halte ich es für wahrscheinlicher, als dass er aus diesem kosmischen Bereich stammt«, sagte Adams.

Sie waren bislang auf kein anderes heimisches Sternenvolk getroffen – es gab pflanzliches und tierisches Leben, auch im Solsystem, aber keine intelligenten Wesen. Eines der vielen offenen Themen, um das sich die Menschheit kümmern musste.

»Ohne weitere Fakten ist es pure Spekulation, über Vanoths Herkunft zu sprechen«, stellte NATHAN fest. »Mein Rat lautet: Kontaktaufnahme mit ihm.«

»Der TLD hat versucht, ihn nach seiner öffentlichen Rede zu verfolgen, wurde jedoch abgehängt«, erklärte Adams. »Selbstverständlich suchen wir ihn, hoffen aber gleichzeitig darauf, dass er sein Versprechen wahr macht und sich freiwillig meldet.«

»Gutgläubigkeit war schon immer eine der terranischen Eigenarten«, sagte das Mondgehirn, »die sowohl zum Guten als auch zum Schlechten führen kann. Wäre das alles?«

Die Residentin nickte. »Momentan ja.«

»Dann möchte ich darauf hinweisen«, sagte NATHAN, »dass ich begonnen habe, einen Bereich des Mondes umzuplanen. Zwei Tatsachen sprechen dafür. Erstens die Versetzung in ein unbekanntes kosmisches Gefilde – das Jathao Vanoth als den anderen Zwillingsteil des Dyoversums bezeichnet. Diese Theorie wird zu überprüfen sein. Sicher ist jedoch, dass dieser Bereich des Universums neue Möglichkeiten bietet. Zweitens der Verlust meiner Tochter YLA. Ihr zu Ehren will ich das Ylatorium errichten. Ich werde euch auf dem Laufenden halten. Beizeiten gilt es, einen Vertrag zu unterzeichnen. Den ersten Rohentwurf dieses Positronischen Konkordats findest du als verschlüsselte Datei in deinem persönlichen Nachrichteneingang, Residentin. Eine einfache Stimmmusteranalyse genügt, den Entwurf zu öffnen.«

Adams sah, dass Gisso Appelles aufbegehren wollte, doch er legte ihr die Hand auf die Schulter und bedeutete ihr zu schweigen.

Lesen wir es uns zuerst einmal durch, dachte er. NATHANS ungewohnt forschem Vorgehen entgegentreten konnten sie immer noch.

*

Etwa drei Monate später, am 15. Juni 1626 NGZ, stand die Endfassung des Positronischen Konkordats.

Es handelte sich um die sechsunddreißigste Fassung jenes Dokuments, das NATHAN ursprünglich vorgelegt hatte. Weit mehr als die Hälfte der gewünschten Erweiterungen, Streichungen und Präzisierungen ging auf die Initiative des Mondgehirns zurück.

Homer G. Adams wohnte in seiner Rolle als Advisor und damit als offizieller Berater der Residentin der Vertragsunterzeichnung bei. Die kleine Zeremonie fand in demselben Büro im Solaren Haus statt, in dem das Konkordat zum ersten Mal zur Sprache gekommen war.

Ein Notar verlas mit schrecklich monotoner Stimme alle siebenundvierzig Paragraphen des Konkordats sowie die zahllosen Unterpunkte. Für die Presse gab es eine, wie Adams fand, sehr treffende Zusammenfassung, die sämtliche Details auf die beiden wichtigsten Grundregeln zusammenfasste.

NATHAN würde der Menschheit weiterhin als Hauptrechner zur Verfügung stehen und seine altbekannten Aufgaben übernehmen – wobei das nie zur Debatte gestanden hatte. Das Mondgehirn spielte von Anfang an mit offenen Karten und stellte klar, dass es diesen Teil auf jeden Fall erfüllen würde, schließlich war es dafür erbaut worden. Davon unabhängig hatte es den Begriff der Selbstbestimmung in den Raum geworfen und um eigene Rechte gebeten.

Rechte, die nun das Positronische Konkordat eindeutig und unmissverständlich regelte.

NATHAN erhielt als Grundeigentum ein bestimmtes Territorium auf Luna, auf der erdabgewandten Seite des Mondes, den 282 Kilometer durchmessenden Krater Mare Ingenii –das Meer des schöpferischen Geistes, verkürzt auch als Meer der Begabung bezeichnet. Dass es sich um ausgerechnet dieses Gebiet handelte, war kein Zufall, denn NATHAN wollte den Namen dieses Ortes dort umsetzen – seine Kreativität. Eine experimentelle Siedlung sollte in den nächsten Jahren entstehen.

Als der Notar endlich zum Schluss kam, bestätigte Gisso Appelles den Wortlaut und unterzeichnete kraft ihres Amtes als Residentin für die Menschheit.

NATHAN signierte ebenfalls – in seinem Fall durch eine akustische Bestätigung vor allen anwesenden Zeugen. »Ich möchte eine Bitte an den Advisor richten«, ergänzte der Rechner.

»Ich höre«, sagte Adams überrascht.

»Für meine geplante Siedlung wünsche ich mir einen ... Paten.« Dass das Mondgehirn zögerte, war höchst ungewöhnlich; ob es ein gewollter Effekt war, um dem Ansinnen eine Art menschlichen Touch zu verleihen? »Da ich dich seit Langem kenne, Homer G. Adams, bist du die logische Wahl.«

»Ein Pate?«, fragte er.

»Ja.«

»Für eine Siedlung?«

»Nicht nur. Auch für meine ...« Wieder dieses Zögern. »... Kinder.«

»Deine Kinder? Planst du Kopien von YLA?«

»YLA lässt sich nicht kopieren. Meine Tochter war einmalig. Aber sie diente mir als Inspiration. Ich lade dich ein, zum Mare Ingenii zu kommen. Wenn du meiner Bitte folgst, sollst du den ersten Ylanten kennenlernen.«

Adams wechselte einen raschen Blick mit der Residentin, dann nickte er. »Ich danke dir für dein Vertrauen. Die Aufgabe als Pate reizt mich. Ich möchte sie annehmen, aber nicht allein.«

»Brauchst du dabei wirklich Hilfe?«

»Ich werde Amalia Serran fragen, ob sie dieses Amt mit mir teilt. Ich schätze ihren Rat.«

»Ein Advisor für den Advisor«, kommentierte NATHAN. »So sei es.«

*

»Und wir tun was genau, Gershwin?«, fragte Amalia.

»Wir fliegen zum Mond.«

Sie warf ihm einen Blick zu, der zwischen Amüsement und ... und jenem Gefühlsausdruck lag, den nur Amalia Serran beherrschte und der Adams stets das Gefühl gab, zu Hause zu sein. »Schon klar. Und nach unserer Ankunft?« Sie hob fragend die Stimme.

Die beiden saßen in den recht bequemen Sesseln des Beiboots, das sie per Autopilot zum Mare Ingenii brachte. NATHAN sandte bereits einen Leitstrahl, der sie zum exakten Landepunkt führte.

Früher, dachte Adams ein wenig wehmütig, hätten sie mit einem einzigen Schritt zum Mond überwechseln können, aber Transmitter waren so gut wie nicht mehr im Gebrauch. Wegen der extrem hohen Hyperimpedanz verbrauchte diese Technologie nun große Mengen an Hyperkristallen, die ein seltenes Gut waren. Ganz davon abgesehen, dass jeder Durchgang ein Risiko barg, weil es in zwar geringem, trotzdem jedoch relevantem Maß zu Unfällen bei der Rematerialisierung kam. Damit zählte der Transmitter zu einer der vielen früher alltäglichen Technologien, die nur noch für Notfälle bereitgehalten wurden – wovon bei ihrer aktuellen Mission keine Rede sein konnte.

»NATHAN hat uns gebeten, die Patenschaft für sein Projekt zu übernehmen«, sagte Adams.

»Genauer gesagt hat er dich gefragt«, präzisierte Amalia.

»Und mir freie Hand gelassen, dich als Mit-Patin zu wählen.«

»Wie großzügig.«

Er lächelte. »Ich kenne NATHAN schon lange und ...«

»Ich habe es nie verstanden«, unterbrach sie.

»Was?«

»Wie man Gegenstände so personifizieren kann, dass man ihnen Eigennamen gibt. Raumschiffe. Schnittige Gleiter. Und Positroniken.«

»Es ist in der Handhabung viel einfacher«, sagte Adams.

»Und es treibt sogar erfahrene Leute wie dich dazu, so ein Ding zu vermenschlichen. Oder täusche ich mich da, Gershwin?«

»NATHAN auf einen bloßen Gegenstand zu reduzieren, geht an der Realität vorbei.«

»Aha.«

»Was willst du damit sagen?«

»Nichts«, meinte Amalia. »Nur: aha.«

Sie schwiegen, und er wusste nicht, ob er sich über ihre Ignoranz ärgern sollte oder darüber, dass er sich ertappt fühlte. Also entschied er, dieses Thema einfach beiseitezulegen. »Wie auch immer, wir beide sind Paten für NATHANS experimentelle Siedlung. Und für seine Kinder.«

»Roboter?«, vermutete Amalia.

»Vermutlich. Er hat nur eine Bezeichnung genannt – Ylanten. Nach seiner Tochter YLA.«

»Also dem Rechner, in dem NATHAN seine Tochter sah.«

»Einerseits ja – andererseits lässt sich auch YLA nicht darauf beschränken. Man nennt ... oder nannte sie das positronische Phantom. Eine zugegebenermaßen unwissenschaftliche Bezeichnung, die ich allerdings sehr treffend finde.«

»Da sollten wir auf die Ylanten wohl gespannt sein.«

Adams jedenfalls war es.

Das Beiboot landete wie angekündigt auf der Mondoberfläche, schleuste also nicht in einen der Bereiche unter Kuppeln und mit künstlicher Atmosphäre ein. Deshalb trugen die beiden Passagiere Raumanzüge.

Sie erhoben sich. »Schließ den Helm«, forderte er Amalia auf.

Für ihn gehörte es zu den gewohnten, völlig normalen Dingen des Lebens – was für sie absolut nicht galt. Sie war in Sachen Weltraumreisen unerfahren, hatte vor Kurzem, ebenfalls mit Adams, Terra zum ersten Mal mit einem Raumfahrzeug verlassen, um zum Mars zu reisen.

Wenige Augenblicke später sah sie ihn durch die Sichtscheibe des Helms an. »Ich fühle mich eingesperrt«, sagte sie.

»Man gewöhnt sich daran.«

»Das sehe ich nicht als erstrebenswert an.«

»Ach.« Er grinste. »Was tut man nicht alles, um seine Patenkinder zu besuchen?«

Sie verließen das Beiboot, mitten im Mare Ingenii auf Luna. Diese Gegend befand sich weitgehend noch immer im ursprünglichen Zustand. Normalerweise hätte im gesamten gewaltigen Krater – Adams wusste, dass er 282 Kilometer durchmaß – momentan Finsternis geherrscht. NATHAN sorgte jedoch für etwas Helligkeit. Aus dem Boden flutete im Umkreis um den Landeplatz an etlichen Stellen Licht, wie von Scheinwerfern. So konnten die beiden Gäste einige Hundert Meter weit sehen.

Sie standen inmitten von dunkel-kargem Basaltgestein, das eine schier unendliche Felswüste formte. Ein helles, wirbelförmiges Gebilde wirkte wie ein Fremdkörper – ein Swirl, vor Ewigkeiten auf natürlichem Weg entstanden und mit dem stärksten lokalen Magnetfeld des Mondes verknüpft, das eben hier im Mare Ingenii lag. Ob NATHAN deshalb ausgerechnet diesen Krater gewählt hatte?

Am Rand des beleuchteten Bereichs begann ein tieferer Einschlagkrater, dessen Ende sich jedoch in der Finsternis verlor. Unter Adams' Füßen sah es aus, als hätte das Gestein Blasen geschlagen und kleine, natürliche Röhren geformt, manche gerade einmal fingerdick.

Amalia sah sich um und ließ den Eindruck offenbar ebenso auf sich wirken wie er. Karg, still und tot ... aber in der lautlosen, erstarrten Weite trotzdem auf unbestimmbare Weise erhebend.

»Und jetzt?«, stellte sie nach einigen Minuten die durchaus berechtigte Frage über Helm-zu-Helm-Direktfunk; es gab keine Atmosphäre, die Schallwellen hätte übertragen können.

Die Antwort kam bronzefarben.

*

Die Gestalt war menschenähnlich, und sie erinnerte weniger an einen Roboter als vielmehr an eine elegante, sich eigenständig bewegende Gliederpuppe. Sie bewegte sich nach Menschenart; die Arme schlenkerten bei jedem Schritt an den Seiten des schmalen Körpers. Auf Geschlechtsmerkmale hatte der unbekannte Designer – wahrscheinlich NATHAN selbst – verzichtet.

Die gesamte Oberfläche schimmerte matt bronzefarben. Teile sahen verwittert aus, ähnelten eher altem, knorrigem Holz als Metall. Ein Gesicht gab es nicht; der Kopf glich einer an der Vorderseite etwas abgeschliffenen Kugel.

»Wir bekommen Besuch«, sagte Adams zu Amalia, und als er den Blick wieder zu dem Gliederpuppen-Roboter richtete, sah dieser ihn aus blaugrauen Augen an. Die Iriden waren ungewöhnlich groß, und es gab keine Brauen, aber der Anblick kam Adams sofort bekannt vor.

Im nächsten Augenblick formte sich eine Nase, ein Mund, und als die Puppe redete, blitzten weiße Zähne auf. Unheimliche Momente, in denen das Gesicht binnen weniger Sekunden entstand.

»Ich heiße euch willkommen«, sagte die Gestalt über Funk.

»Sprichst du für NATHAN?«, fragte Adams.

»Ich kann Vater nicht ersetzen und stehe nicht für seine volle Weisheit, aber er hat mich geschickt, ja.« Die Stimme klang sanft und zutiefst menschlich. Adams fühlte sich an einen jungen Mann erinnert – oder eine Frau, seltsam, er konnte es nicht bestimmen. Mehr noch, die Sprachmelodie ließ unwillkürlich einen Charakter entstehen; einen Menschen, der die Natur liebte und Einsamkeit, der um allgegenwärtige Probleme wusste, aber nicht daran verzagte. »Ich bin der erste Ylant.«

»Hast du einen Namen?«

Die Gliederpuppe kam einen Schritt näher, die Bewegung sah elegant und weich aus. »Mein Vater hat mir keinen verliehen. Ich bin ein Ylant, genügt das nicht?«

»Doch, es genügt«, versicherte Amalia. »Dein Gesicht erinnert mich an meinen Begleiter und an mich.«

»Das hast du gut beobachtet«, sagte die melodiöse Stimme. »Ich dachte, es könnte euch helfen, mich zu verstehen, wenn ich äußere Merkmale nutze, die ihr kennt. Die Vermischung und leichte Verfremdung sollte gleichzeitig verhindern, dass der Eindruck entsteht, ich würde eure Privatsphäre verletzen. Ich kann die holografischen Systeme der Projektion auch neu einstellen, falls ihr das wünscht.«

Amalia schüttelte den Kopf. »Du bist sehr gut, wie du bist.«

Der Ylant sah sie lange an. »Wenn ihr mir nun in die Bronzehütte folgen wollt?«

Während sie der Aufforderung folgten, fragte sich Adams, was es mit dem erwähnten Gebäude auf sich haben mochte. Falls es sich überhaupt um ein Gebäude handelte und die Bezeichnung nicht in die Irre führte.

Der Ylant ging voraus, Richtung Süden, wo das Licht am nächsten aus dem Boden flutete. Als sie die Quelle passierten, zündete ein weiterer Scheinwerfer, etwa hundert Meter vor ihnen.

Was die Helligkeit aus der Finsternis riss, war zweifellos die Bronzehütte.

Ein würfelförmiges Metallgebilde, bronzefarben wie der Ylant, aber ohne die verwitterte Holzoptik, stand dort einsam in der Ebene, als wäre es vergessen worden. Die Wände ragten doppelt oder dreifach mannshoch auf.

Sie traten durch eine Tür ein, die sich als äußeres Schleusentor erwies. Das Innere des Gebäudes bestand aus einem einzigen großen Raum, die Decke lag weit über ihnen. Es gab keinerlei Einrichtungsgegenstände.

»Ihr könnt den Helm öffnen«, sagte der Ylant. »Die Atmosphäre ist für euch atembar. Willkommen im Kern des Ylatoriums.«

Adams tat, wie ihm geheißen. Die Luft roch frisch und ein wenig würzig, wie in einem blühenden Wald. Er nickte Amalia zu, sie folgte seinem Beispiel.

»Ich sehe«, klang NATHANS Stimme auf, »mein Kind hat euch empfangen. Seid ihr bereit, meiner Bitte zu folgen und als Paten zu dienen?«

»Sind wir«, sagte Amalia, »falls du zustimmst, gegebenenfalls auf unseren Rat zu hören.«

»Ich werde es abwägen. Und du, Ylant? Akzeptierst du meine Gäste?«

Was für eine befremdliche Frage, dachte Adams.

»Sie scheinen eine gute Wahl«, sagte die Gliederpuppe, »denn sie haben mir Höflichkeit erwiesen.«

»Dann sei es. Mein Kind wird euch zeigen, wie der Ausbau des Ylatoriums laufen soll, doch zunächst ist vielleicht eine aktuelle Entwicklung auf Terra von Interesse. Im Residenzpark hat eine Demonstration begonnen.«

*

NATHANS schlichter Satz lässt in meinem Nicht-Traum die Bilder explodieren. Die Erinnerungen kämpfen um die Vorherrschaft und fließen ineinander.

Amalia und der Ylant in jener ersten der zahllosen Bronzehütten. Die Demonstranten auf Terra. Das Holo, das NATHAN uns zeigt. Die Schreie, viele Stunden danach auf der Erde. Die Panik im Residenzpark. Dann wieder die Ruhe des Mare Ingenii. Ein Sprung in der Zeit voran, mitten hinein in das wachsende Feuer des Ylatoriums.

Alles trudelt um mich, um meinen Verstand; die Bilder explodieren. Wäre es ein Traum, würde ich aufwachen, nach Luft schnappen, die Hände verschwitzt, der Nacken verkrampft.

Aber ich schlafe nicht.

Ich habe keinen Körper.

Ich kann den taumelnden, einander jagenden Erinnerungen nicht entfliehen. Ich versuche, mich zu fokussieren, auf jenen ersten Moment der Ruhe in der Bronzehütte, doch es gelingt mir nicht, denn andere Bilder der Vergangenheit schreien lauter und heischen Aufmerksamkeit.

Sie schreien.

Sie ...

*

Sie schrie.

Homer G. Adams sah in nüchterner, brutaler Deutlichkeit, wie die Frau angestoßen wurde und fiel, wie sie schrie, als Füße sie traten und über sie trampelten.

Ein Mann stellte sich den nachrückenden Massen in den Weg, ein breitschultriger Arkonide mit weiß wallendem Haar. So bildete sich für wenige Sekunden eine Schneise in der in Panik geratenen Menschenmenge, und die Frau konnte aufstehen. Ihr Gesicht war verdreckt, und sie blutete an der Wange. Im nächsten Augenblick verschwand sie in der Menge, ebenso der unbekannte Arkonide, der ihr vielleicht das Leben gerettet hatte.

Ein Heer aus Ordnungs- und Medorobotern strömte in die Menge. Mehr als viertausend Demonstranten hatten sich am Ufer des Residenzsees versammelt. Anfangs eine friedliche Zusammenkunft der Anhänger von Jathao Vanoth – einige Holobanner, ein paar Reden, Werben um Sympathie und Unterstützung bei den Passanten im Park. Doch dann erschien der Mann, der mit den Worten Man muss Widerstand leisten eine Bombe zündete.

Das Holo vor Homer G. Adams vergrößerte den Aufnahmewinkel, bis keine einzelnen Menschen mehr zu erkennen waren, nur noch die gesamte Menge. Die Bombe war dicht am Ufer detoniert und hatte einen Krater gerissen. Wasser war hineingeschwappt, Tote trieben darin. In der Nähe brannten die Kronen einiger Bäume.

Adams hielt sich in einem Einsatzgleiter des TLD auf, zusammen mit Tessa Parr, der Chefin des Geheimdienstes.

»Die Einheiten der Ordnungskräfte bekommen die Lage in den Griff«, sagte sie. »Ich habe Funkverbindung mit dem Medoroboter im Explosionskrater. Die Maschine meldet drei Tote und acht Verletzte. Die Versorgung läuft.«

»Gab es keine Anzeichen?«, fragte Adams.

Tessa Parr schüttelte den Kopf. »Du warst dabei, genau wie ich. Dieser Warun Mueller schwingt seine große Rede, einer der Zuhörer ruft seine Parole – dann die Explosion.«

»Wir waren nicht so dabei wie die anderen«, widersprach Adams, »hier in unserem geschützten Gleiter.«

»Wir hatten Glück«, sagte die TLD-Chefin.

»Es gab also keine Ankündigungen, auch keine inoffiziellen? Nicht mal Wortmeldungen von irgendwelchen ...«

»Nichts! Sonst hätte ich nicht mit dir in aller Seelenruhe aus reinem Interesse an der Gesamtentwicklung der Rede des Chef-Demonstranten zugehört! Das Ganze läuft seit sechsunddreißig Stunden. Niemand konnte mit einer derartigen Eskalation rechnen! Der Attentäter ist tot. Meine Leute haben Mueller in Gewahrsam genommen. Verhören wir ihn. Du begleitest mich doch? Dein vertrautes Gesicht wirkt vielleicht Wunder.«

Adams nickte. Am Vortag hatte er mit dem Ylanten gesprochen, der ihm fremdartig und bizarr vorgekommen war. Ein Mensch allerdings, der eine Bombe zündete, um sich und andere in den Tod zu reißen, war ihm noch weitaus unverständlicher als eine von einer Großpositronik entwickelte robotische Gliederpuppe in Bronzeoptik.

»Mueller wird in etwa drei Minuten im Tekener-Tower ankommen. Ich bringe uns dorthin.« Sie gab dem Autopiloten den entsprechenden Befehl.

Der Gleiter setzte sich in Bewegung. Bald erreichten sie die Khooloi Road und den Jen-Salik-Park, in dem das auffällige Gebäude des Tekener-Towers aufragte. Kurz vor dem CEE, als der Tower wegen der Neueröffnung des nahe stehenden Dao-Lin-H'ay-Theaters und der gemeinsamen Vergangenheit der beiden Namensgeber wieder in die aktuelle Presse gekommen war, hatte ein Journalist den Turm als weißen Zaubererhut eines Architekten mit zu viel Phantasie bezeichnet. 120 Stockwerke ragten oberirdisch auf, nur die wenigsten kannten den gleich großen unterirdischen Teil im Hauptsitz des Liga-Dienstes.

Dorthin brachte Tessa Parr ihn, bis ins achtundvierzigste Untergeschoss, wo in einem schmucklosen Raum Warun Mueller saß. Vor ihm auf dem einfachen Holztisch stand ein Trinkglas, das er offenbar noch nicht angerührt hatte. Als die beiden Neuankömmlinge eintraten, blieb er sitzen.

»Mein Name ist Tessa Parr. Meinen Begleiter wirst du wahrscheinlich kennen.«

»Soll ich mich geehrt fühlen?«, fragte Mueller.

»Das liegt ganz bei dir.«

»Dann fühle ich mich stattdessen entführt. Man hat mich ohne Grund festgesetzt. Ich habe eine angemeldete Demonstration geleitet und eine Rede gehalten. Mehr nicht.«

»Du bist keineswegs verhaftet«, stellte die TLD-Chefin klar.

Er breitete die Arme aus. »Also bin ich hierher ... eingeladen worden?«

»Sag du es ihm«, bat Tessa Parr.

»Es steht dir frei, jederzeit zu gehen«, antwortete Homer G. Adams. »Wir hoffen jedoch, dass du Kooperation zeigst. Niemand klagt dich an.«

»Ich werde nicht verhört, weil ihr mir Mittäterschaft bei diesem irrsinnigen Selbstmordattentat vorwerft?«

»Dann sähe es hier völlig anders aus.« Die TLD-Chefin deutete auf das Glas vor ihm auf dem Tisch. »Du kannst es trinken. Es enthält weder Gift noch sonst eine Droge.«

Mueller sah mit einem Mal wesentlich entspannter aus. »Kein Wahrheitsserum?«

»Kein Wahrheitsserum«, sagte Tessa. »Sprich aus freien Stücken mit uns. Wir stehen auf derselben Seite, wir alle. Gab es Anzeichen, dass jemand die Demonstration ausnutzen könnte? Irgendwelche Gerüchte, und seien sie noch so vage?«

Warun Mueller nahm das Glas, sah nachdenklich drauf und trank einen Schluck. »Hätte ich etwas geahnt, hätte ich mit allen Kräften versucht, es zu verhindern. Diese Explosion schadet den Vanothen und ihrem berechtigten Anliegen, weil es ...«

»Den Vanothen?«, unterbrach Adams.

»Kein offiziell bekannter Begriff«, sagte Mueller. »Ich nutze ihn für Jathao Vanoths Anhänger. Für die, die seinen Inhalten glauben. Die Versetzung in das Zwillingsuniversum war keine Katastrophe, sondern eine Chance! Ein Neuanfang! Hier ist unsere Heimat, und ...«

»Du musst uns nicht predigen«, unterbrach Adams. »Wir kennen seine Botschaft. Stehst du in Kontakt mit ihm?«

»Leider nicht.«

»Wir versuchen, mit ihm zu reden.«

»Heißt das, der TLD weiß nicht, wie er Vanoth finden kann?«, fragte Warun Mueller verblüfft.

»Er hat nach seinen ersten Auftritten versprochen, sich zu melden. Das liegt drei Monate zurück.« Seitdem war er nie wieder persönlich aufgetreten – nur in Form von Holos oder Funkbotschaften.

Der Demonstrant hob die Schultern.

»Das wirkt, als wäre der Verkünder der Botschaft, die dich so fasziniert, nicht sehr zuverlässig«, sagte Tessa Parr hart.

»Vielleicht steht ihm nicht der Sinn danach, in einem dieser Räume hier zu versauern, weil ihr ihn wahrscheinlich nicht so leicht wieder gehen lassen würdet wie mich.«

»Das ist das, was du glaubst«, sagte die TLD-Chefin. »Tatsächlich werden wir niemanden festhalten, der kein Verbrechen begangen hat. Und das hat er nicht. Wofür hältst du die Liga? Für ein Unrechtssystem? Niemand setzt willkürlich Leute fest.«

Auf Adams' Armbandkommunikator ging eine Nachricht ein. Er sah rasch nach. Sie stammte von der Residentin und trug einen hohen Dringlichkeitsvermerk. Er entschuldigte sich und verließ den Raum.

Draußen im Korridor spielte er die Botschaft ab, stutzte und sah sie sich erneut an.

Gisso Appelles wirkte wachsam und aufgeregt zugleich. »Ich erwarte dich so rasch wie möglich in meinem Büro. Du wirst es nicht glauben, aber Jathao Vanoth ist in aller Seelenruhe ins Solare Haus spaziert und hat um ein Gespräch mit mir gebeten.«

Perry Rhodan-Paket 62: Mythos (Teil2)

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