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3.

Ein Traumspiel (7)


Ich schlafe nicht, und ich träume nicht. Aber es gibt keine Worte, die die Bilder besser beschreiben könnten, die um mich wirbeln. Meine Erinnerungen werfen mich hinein, mal in dieses, mal in jenes Ereignis der Vergangenheit.

Es darf nicht vergessen werden, und so erlebe ich es wieder mit, all das Schöne, all das Schreckliche, seit Terra und Luna versetzt wurden. Und ich kann mich auch der Gräber nicht länger verwehren.

Dank der Bilder des Nicht-Traumes habe ich Jathao Vanoths Auftauchen durchlebt ... seine Botschaft, die Unruhen und Aufstände, die er unwillentlich hervorgerufen hat ... und am Ende das Experiment, das Pluto zerrissen hat, zwei Jahrhunderte nach Vanoths Tod, aber angestoßen von seinen Ideen. Ohne ihn wäre es nie geschehen, doch am katastrophalen Scheitern trägt er keine Schuld.

Oder?

Hat er gewusst, dass es scheitern musste und welche entsetzlichen Folgen es nach sich ziehen würde?

Ein letzter Rest Zweifel bleibt, und eine definitive Antwort kann es niemals geben. Damit muss ich leben.

Resident Oratio Andolfi ist gestorben, als Pluto unterging, doch es ist nicht sein Grab, das mir in unerbittlicher Konsequenz vor Augen gerufen wird. Denn es gab nie eines für diesen Mann. Von ihm blieb nichts, das man hätte begraben können, und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er kein Freund von symbolischen Handlungen war.

Die Pluto-Katastrophe ereignete sich lange nach Jathao Vanoths Tod – nachdem ich an seinem sonderbaren Grab gestanden hatte, dem ersten, das in meinen Erinnerungen mit diesen Entwicklungen untrennbar verknüpft ist. Es liegt auf Luna, mitten im Ylatorium, und ich habe es gemeinsam mit Amalia besucht.

Ylanten sahen uns dort an, mit ihren holografischen Gesichtern. Helft uns, sagten sie zu uns, helft uns und schenkt uns Worte, dass wir lernen zu trauern!

Aber wie könnte man Maschinen echte Gefühle lehren? Ist überhaupt jemand dazu in der Lage?

Der Weg zu diesem Grab begann etwa zweihundert Jahre vor Plutos Ende, am 25. September 1674 NGZ, in Terrania, in der Upper West Garnaru Road, vor dem Gebäude mit der Hausnummer 746.

Vor Perry Rhodans Haus.

*

»Gershwin?«, fragte Amalia Serran.

Homer G. Adams war so tief in Gedanken versunken, dass er die Welt um sich vergessen hatte. »Entschuldige!«, sagte er.

»Du hast mich hierhergebracht, um mir etwas zu zeigen. Was genau? Dieses alte Haus?« Sie deutete auf das leer stehende Gebäude zwischen den Bäumen – japanischen Sicheltannen, wenn er sich nicht täuschte. Sie dufteten leicht herb. Unkraut umwucherte den Garten rundum, aber ein Rosenbusch mit hellblauen Blüten hatte sich zu prächtiger Höhe entwickelt; das halbe Bauwerk verschwand dahinter.

»Früher war es die Botschaft eines außerirdischen Volkes«, sagte Adams. »Der Galkiden.«

»Nie gehört«, meinte Amalia.

»Sie sind in der öffentlichen Wahrnehmung nie groß bekannt geworden.«

Ein Gleiter zog über sie hinweg. Dieser Teil der Upper West Garnaru Road hatte nie für das brodelnde Leben gestanden, und seit Jahrhunderten verlor er an Bedeutung. Wer an jenem Ort lebte, genoss eher die Abgeschiedenheit – falls es so etwas in Terrania überhaupt gab.

Nicht die ärmsten Leute zogen sich in dieses Viertel zurück, im Gegenteil, aber auch keine Superstars. Bis auf einen, doch der war bereits vor langen Jahren verschwunden.

»Später hat Perry Rhodan dort gewohnt«, sagte Adams.

»Tatsächlich?«

»Du wusstest es nicht?«

»Ich kenne deinen alten Freund nicht persönlich, Gershwin, schon vergessen? Ich weiß von kaum irgendwelchen Prominenten, wo sie wohnen. Wozu auch?« Amalia sah offenbar gedankenverloren dem Gleiter nach. »Es interessiert mich nicht.« Nach einem kurzen Moment ergänzte sie: »Trotzdem danke, dass du mich hierhergebracht hast. In diesem Fall finde ich es durchaus spannend, weil es ein Teil deines Lebens ist. Warst du oft hier?«

»Hin und wieder«, antwortete Adams. »Leider sehr lange nicht mehr.«

»Seit Perry Rhodans Verschwinden?«, fragte sie.

Er zögerte, dachte nach. Ein Vogel flog aus einer der Sicheltannen und glitt mit weit ausgebreiteten Schwingen über sie hinweg. Die Federn leuchteten rot im Licht der langsam jenseits des Häusermeers untergehenden Sonne. Die Glasfassade eines Hochhausturms glitzerte.

»Wenn ich mich nicht irre«, sagte Adams leise und unterdrückte den schmerzhaften Stich von Trauer und Scham, »sogar noch ein paar Jahre mehr. Auch als Perry zuletzt für einige Zeit hier wohnte und nicht unterwegs war, habe ich ihn lange nicht besucht.«

»Wieso nicht?«

Was sollte er darauf antworten? »Weil ich mich geirrt habe«, sagte er schließlich. »Ich dachte, andere Dinge wären wichtiger.«

»Und zwar?«

»Ich erinnere mich nicht mehr daran, und das macht es umso trauriger. Sie können nicht sonderlich bedeutend gewesen sein.«

»Hinterher ist man stets schlauer«, meinte Amalia. »Diese alte Weisheit gilt offenbar sogar für Zellaktivatorträger.«

»Gerade für uns. Denn für uns dauert das Hinterher viel länger, zum Guten und zum Schlechten.« Adams winkte ab. Er bückte sich, hob ein Steinchen auf, nur so groß wie sein Daumennagel. »Sieh her!«

Er warf es an den Sicheltannen vorbei, doch es erreichte das Grundstück nicht, sondern stieß in der Luft mit einem orangegelben Aufflammen gegen ein unsichtbares Hindernis und prallte zurück.

Ein blauhäutiger Ferrone, der auf der anderen Straßenseite vorüberging, sah verwundert auf. Er war momentan der einzige Fußgänger weit und breit, vielleicht einer der Anwohner.

»Ich hatte dafür gesorgt, dass Perrys Anwesen mit einem Energievorhang geschützt wird, als die Vanothen-Konflikte zunahmen. Ich dachte, sein Haus könnte dem radikalen Zweig als eine Art Symbol dienen – ich wollte einen Anschlag verhindern.«

»Aber?«

»Keiner hat es je versucht.«

»Ein gutes Zeichen«, meinte Amalia.

»Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht ist es Interesselosigkeit. Als würde Perry Rhodan immer mehr vergessen.«

»Und das schmerzt dich.«

»Ich frage mich, was es bedeutet.«

»Es schmerzt dich«, wiederholte sie.

Er nickte.

»Vielleicht solltest du das Haus als ein Symbol nutzen«, schlug Amalia vor. »Als eine Art Museum der terranischen Geschichte im ... im echten Universum. Dem anderen. Verflixt, ich weiß nicht mal, wie ich es nennen soll, Gershwin!«

»Was hältst du von Heimatuniversum?«

»Gute Idee.«

In diesem Moment erhielt er eine Nachricht. »Entschuldige«, murmelte er beiläufig und tippte auf den Armbandkommunikator. »Oh.«

»Wer ...«

»NATHAN«, unterbrach er ihre Frage. »Mit hoher Priorität.«

»Sieh es dir an!« Amalia bückte sich, sammelte ebenfalls ein Steinchen und warf es wie zuvor Adams gegen den Schutzschirm. Wieder hüpfte es mit einer kleinen Entladung in der Luft zurück.

Er las die Nachricht. Sie beunruhigte ihn und weckte in ihm eine Mischung aus Trauer und seltsamer Überraschung.

»Jathao Vanoth«, sagte er.

»Was ist mit ihm?«, fragte Amalia.

»Er ist gestorben.«

»Was ist passiert?«

»NATHAN will mich erst vor Ort informieren.«

Sie nickte. »Eine traurige Nachricht. In den letzten Jahren ist er fast ein Freund geworden. Aber Leben wäre kein Leben, wenn es nicht irgendwann endete.« Sie tastete nach seiner Hand und drückte sie. »Bitte, versteh das nicht falsch. Du bist ... also, ich meine, dein Zellaktivator ...«

»Dass du ins Stottern kommst, passiert selten genug. Ich kann dich beruhigen – auch ich werde sterben.«

»Klar«, meinte sie. »Allerdings nach mir, hörst du? So haben wir es ausgemacht!«

Adams lächelte. »Das behauptest du. Tatsächlich hast du das einfach festgelegt.«

»Zurück zur Sache. Vanoth ist tot – wie geht es weiter?«

»NATHAN hat uns nach Luna gebeten. Ins Ylatorium. Es war wohl sein letzter Wunsch, dass wir an seiner Beerdigung teilnehmen, als einzige menschliche Gäste.«

»Nur wir beide?«

»Und Ylanten«, sagte er.

*

»Es ist schön, dass ihr gekommen seid«, sagte der Ylant. Er war der erste in einer schier endlosen Reihe gliederpuppenartiger Bronzeroboter.

Sie alle stellten auf den abgeflachten Kugelköpfen dasselbe Gesicht zur Schau – das des Thesan Jathao Vanoth, mit seiner blassen Haut und den sehr hellblauen, großen Augen. Die Menge der Ylanten verlor sich zwischen den Bronzehütten, die sich in den Weiten des Ylatoriums im Mare Ingenii auf Luna verteilten.

»Ich begrüße euch auch im Namen meines Vaters«, fuhr der Roboter fort.

Adams hörte die Worte über Funk. Im Unterschied zu den Ylanten, die NATHAN als seine Kinder ansah, mussten er und Amalia in der Atmosphärelosigkeit geschlossene Raumanzüge tragen. »Wir erweisen Jathao Vanoth gerne die letzte Ehre«, versicherte er.

»Sein Wunsch lautete, im Ylatorium beerdigt zu werden«, sagte der Ylant. »Vater war zunächst dagegen, doch wir haben ihn davon überzeugt. Vanoth war immer gut zu uns. Wie ihr es ebenso stets seid. Wenn ihr sterbt, setzen wir uns für euch ebenfalls ein, das versprechen wir.«

Die unverblümte Direktheit verschlug Adams den Atem.

»Danke«, meinte Amalia. »Wahrscheinlich ziehe ich ein Grab auf Terra trotzdem vor. Oder auf Skiaparelli. Aber ich denke darüber nach. Ich hätte es zuerst nicht für möglich gehalten, doch es gefällt mir nicht nur auf der Erde, sondern auch auf dem Mars. Und hier bei euch.«

»Der Mars ist ein wunderschöner Planet«, sagte der Ylant. »In den roten Weiten verbirgt sich Poesie.«

»Tatsächlich?«, fragte Amalia.

»Ich wäre gerne einmal dort«, sagte der Ylant, »um die verborgenen Gedichte ans Licht zu bringen und in Worte zu verwandeln.«

»Du bist ein Roboter.«

»Gerade deswegen möchte ich das Wissen erweitern, das in meinen Speicherbanken ruht.« Er hob einen bronzefarbenen Arm und deutete unbestimmt vor sich. »Wenn ihr mir nun folgen wollt? Wir bilden die Spitze der Prozession.«

Mit diesen Worten ging er los – zu Fuß, obwohl er ebenso hätte schweben können. Wegen der geringen Schwerkraft wurde jeder Schritt zu einem kleinen Sprung.

Adams blieb gemeinsam mit Amalia an seiner Seite. »Wieso gehst ausgerechnet du als Erstes?«, fragte er die Maschine.

Die scheinbare oder tatsächliche – was zutraf, vermochte er selbst nach all den Jahren, die er mit NATHANS Kindern umging, nicht mit Gewissheit zu sagen – Individualität der Ylanten faszinierte ihn. Wozu etwa benötigten alle eine eigene Bronzehütte, wenn sie darin doch nicht wohnten?

»Ist dir meine Gesellschaft unangenehm?«, fragte der Ylant.

»Selbstverständlich nicht. Aber warum du und nicht ...«

»... einer meiner Brüder? Ich verstehe deinen Gedankengang und erkläre dir gerne die Beweggründe. Ich habe Jathao Vanoths toten Körper gefunden und ihn zu dem vorher ausgewählten Grabplatz gebracht. Darum hielten wir es für richtig, dass ich euch führe.«

Sie ließen das scheinbar brennende Zentralgebäude und den arkonidischen Trichterbau hinter sich, der dem Institut zur Erforschung des Dyoversums und den auf Luna stationierten Raumsoldaten samt ihren Familien als Heimat diente. Somit gab es im gesamten Ylatorium, das sich über Tausende Quadratkilometer erstreckte, nichts anderes mehr zu sehen als karges Mondgestein und zahllose Bronzehütten.

Diese Quadergebilde fügten sich an etlichen Stellen zu offenbar willkürlichen Ballungen zusammen, stapelten sich aufeinander, teils in schrägen Winkeln, als hätte sie ein gigantischer Bauroboter achtlos fallen gelassen.

Adams zweifelte nicht daran, dass es einen Grund für exakt diese Anordnung gab. Vielleicht folgte sie einer Logik, die sich Menschen nicht erschloss, oder die Ylanten drückten sich auf diese Weise künstlerisch aus.

Sie bestiegen einen Hügel aus grobem Gestein, völlig ohne Bronzehütten. Auf dem Gipfel angelangt, sahen sie in den Krater dahinter – ein bizarrer Anblick. Bronzemauern bildeten mindestens zwanzig perfekte, ineinander liegende Kreise. Jeder bot einen Durchgang, gerade breit genug, dass ein Mensch ihn passieren konnte. Die Passagen lagen jedoch nicht in einer Geraden hintereinander, sondern an unterschiedlichen Stellen des Kreisumfangs, sodass man ins Innere nur auf einem labyrinthischen Weg gelangte.

»Vanoths Grab liegt im Zentrum«, sagte der Ylant. »Ich habe euch nach hier oben geführt, damit ihr es seht.«

»Wir könnten hineinfliegen«, sagte Adams. Ihre Schutzanzüge würden es problemlos ermöglichen.

»Es wäre respektlos«, erwiderte der Roboter. »Des Toten soll während des Marsches gedacht werden.«

»Hast du die Form dieses Grabes entwickelt?«, fragte Amalia.

Der Ylant wandte sich ihr zu, und in der Imitation der menschlichen Geste nickte er. »Gefällt es dir?«

»Sehr.«

»Leider hat Vanoth nie etwas über die Begräbnisrituale seines Volkes erzählt«, sagte der Ylant, »daher mussten wir improvisieren.«

»Es hätte ihm sicher gefallen«, sagte Amalia.

»Wie ist er gestorben?«, fragte Adams.

»Unseren Beobachtungen zufolge litt er an einer Krankheit, er hat jedoch nie darüber gesprochen. Vater hatte ihm medizinische Hilfe angeboten, aber er hat stets abgelehnt. Es sei kerras.«

»Kerras?«, hakte Amalia nach.

»Ich bin nicht in der Lage, das Wort zu übersetzen. Jathao Vanoth hat es zu keinem anderen Anlass genutzt. Womöglich bezeichnete er so die allgemeine Korrosion.«

Adams stutzte bei dieser Erklärung des Ylanten und übersetzte sie für sich mit einem Hinweis auf das Schicksal.

Sie stiegen von dem Hügel abwärts und betraten das Kreislabyrinth. Die meisten Ylanten, die ihnen die ganze Zeit über gefolgt waren, blieben draußen zurück – nur insgesamt vier begleiteten sie.

»Die anderen werden nach und nach folgen, sobald wir das Grab wieder verlassen haben«, erklärte ihr erster robotischer Begleiter.

»Dann wird es lange dauern, bis ihr alle darin gewesen seid«, sagte Adams.

»Acht Jahre, zwei Monate, drei Tage und wenige Stunden, wenn wir einen Weg in das Labyrinth hinein und einen zweiten hinaus wählen, der gleichzeitig begangen wird. Doch das macht nichts. Uns bleibt viel Zeit.«

Es dauerte über eine Stunde, bis sie im Zentrum ankamen. Nur ein kleiner Steinhaufen lag dort, völlig schmucklos.

»An diesem Ort habe ich ihn begraben.« In den Worten des Ylanten lag hörbarer Stolz, und im nächsten Moment sprachen alle vier Ylanten gemeinsam, in verwirrender Synchronizität: »Helft uns! Helft uns und schenkt uns Worte, dass wir lernen zu trauern.«

»Ich weiß nicht, wie«, sagte Adams.

»Dann werden wir es selbst herausfinden müssen.«

Amalia nickte. »Euch bleibt ja Zeit.«

*

Die Bilder jenes ersten bizarren Grabes verschwinden, und die Erinnerung zwingt mich in die Reihe der Ereignisse, an deren Ende das zweite Grab steht.

Diesmal liegt kein geheimnisvolles Fremdwesen darin, sondern ein Mensch. Eine Frau, die in den Jahrzehnten nach der Versetzung viel für die Menschheit getan hat.

Ich habe Residentin Gisso Appelles von Anfang an geschätzt, schon ehe sie ihr großes politisches Amt antrat. Wer weiß, was ohne sie geworden wäre? Aber natürlich kam auch ihre Zeit, und das – wie so häufig bei den Besten – zu früh.

*

»Advisor!«, sagte Tomasso Coen mit dem ihm eigenen, mühsam unterdrückten Zorn. »Sag etwas dazu! Bring sie zur Vernunft!« Seine Oberlippe zuckte kaum merklich.

Residentin Gisso Appelles blieb ruhig – ein Fels in der Brandung.

Homer G. Adams nahm den ihm zugespielten Ball auf. »Vernunft ist ein gutes Stichwort. Das wäre ein geeigneter Maßstab, um diese Diskussion fortzuführen.«

Vereinzelt hallte leiser Applaus durch die Menge der Zuhörer. Einige Hundert Leute füllten das Foyer des Appelles-Turms bis zum letzten Platz.

Die Tickets für die Eröffnungsfeier des Gebäudes und damit auch des Museums für terranische Geschichte hatten reißenden Absatz gefunden, weil sich die Residentin zu dieser Gelegenheit dem Schlagabtausch mit ihrem schärfsten Konkurrenten stellte: Tomasso Coen.

Vor einem Jahr noch völlig unbekannt, faszinierte er die Mengen durch seine Tatkraft ... und zu einem nicht geringen Teil wegen seiner gelegentlichen cholerischen Aussetzer. Sein Wahlspruch So bin ich eben, ein Terraner wie ihr alle galt als beliebtestes Zitat in der jungen Generation, und aus diesen Reihen kam sein größter Zuspruch.

Aktuell versuchte Tomasso offenbar, die Feierstunde zur Eröffnung des Appelles-Turms in eine Propagandashow für seine eigenen Thesen zu verwandeln.

»Einverstanden«, sagte die Residentin. »Vernunft. Gut.«

Sie atmete tief durch, und Akustikfelder übertrugen das Geräusch bis in den letzten Winkel des Foyers. Sie wusste sich auf Bühnen perfekt zu inszenieren, hatte sich bei den besten Rednern schulen lassen.

»Man hat mir die Ehre erwiesen, diesen Turm nach mir zu benennen«, fuhr sie fort. »Was übrigens nicht meine Idee war, und kein einziger Galax der Baukosten stammt von der Regierung. Dieses Gebäude beherbergt ab sofort das Museum für terranische Geschichte. Als Ort dafür war zuerst das Haus im Gespräch, in dem Perry Rhodan einst wohnte, doch die Dinge haben sich anders entwickelt.«

»Auch das ist ein gutes Stichwort«, sagte Tomasso Coen. »Terranische Geschichte! Du bist offenbar der Meinung, das wäre eine Sache der Vergangenheit ... ein wehmütiger Rückblick auf ein verlorenes Universum. Aber hey – aufwachen! Geschichte wird hier geschrieben. Jetzt! Entdecken wir diese Galaxis, die uns geschenkt wurde!«

Der Applaus, der nun durch die Menge hallte, tönte merklich lauter als zuvor.

»Ich höre diesen Aufruf nicht zum ersten Mal«, sagte Homer G. Adams. »Jathao Vanoth hat ihn aufgebracht. Ich kannte Vanoth gut. Er war fast ein Freund.«

»Fast?«, fragte Coen.

»Er blieb mir zu fremd, um wirklich von Herz zu Herz zu sprechen, und so wollte er es auch. Ich habe nie verstanden, was ihn im Innersten bewegte. Abgesehen von seiner Botschaft, die er öffentlich verkündet hat. Aber das war nicht alles. Er war mehr als das.«

»Jeder ist mehr als das, was er nach außen zeigt.« Coen hob beide Hände und klopfte sich selbst mit überkreuzten Armen auf die Schultern. »Sogar ich.«

Diesmal erntete er kein Klatschen, sondern Gelächter.

»Ich ebenfalls«, sagte Adams. »Und das ist gut so. Aber zurück zu Vanoth. Wusstest du, dass er mich gebeten hatte, an seiner Beerdigung teilzunehmen? Mich und eine zweite Person – sonst kein lebendes Wesen.«

Das konnte er guten Gewissens behaupten, denn was immer die Ylanten genau waren, sie lebten nicht. Also zählten NATHANS Tausende Kinder nicht.

»Wer war diese zweite Person?«, fragte Tomasso Coen.

»Das gehört zu den Dingen, die Vanoth nicht in die Welt hinausposaunen wollte, und solange meine damalige Begleitung nicht entscheidet, es von sich aus mitzuteilen, steht es mir nicht zu, es zu sagen.« Amalia Serran hielt er seit jeher aus der Öffentlichkeit heraus. Die wenigsten kannten überhaupt ihren Namen.

»Einverstanden. Worauf willst du hinaus, Advisor?«

»Dass ich Jathao Vanoth kannte. Dass ich seine Botschaft verstehe. Und dass ich sie nicht ablehne ... aber dass er nur eine Sicht der Dinge repräsentiert. Ich habe nie verheimlicht, wie ich es beurteile, und er hat mich trotzdem geschätzt.«

Coen nickte gönnerhaft. »Das sehe ich genau wie er. Ich werde mich zur Wahl stellen. Sollten mir die Bürger der Liga Vertrauen schenken und für mich stimmen, hoffe ich, dass du auch mein Advisor sein wirst, wie du es für Gisso Appelles warst. Ein guter Berater ist Gold wert! Dabei spielt es keine Rolle, ob er ...« Coen legte eine kurze, dramatisch zweifellos exakt bemessene Pause ein, ehe er neu ansetzte. »... ob er aus der terranischen Vergangenheit stammt.«

Und wieder erntete er Gelächter ebenso wie Begeisterung, das war deutlich zu spüren.

Spätestens in diesem Augenblick wusste Homer G. Adams, dass dieser Mann die kommende Wahl gewinnen würde.

Die Ära von Gisso Appelles, die nach der Versetzung die Menschheit an diesem isolierten Ort in die Zukunft geführt hatte, neigte sich dem Ende zu.

Wahrscheinlich war es gut so.

Veränderungen bildeten stets die Triebfeder für Fortschritt und Weiterentwicklung – und vielleicht lag darin der Kern von Jathao Vanoths Botschaft.

*

Später saßen sie zu dritt auf der Panoramaterrasse des Appelles-Turms und blickten durch die Panoramascheibe auf das unendliche Häusermeer Terranias.

Spiegelflächen reflektierten das Licht der Sonne, die aussah wie Sol, sich anfühlte wie Sol, aber eben nicht Sol war, sondern ein Zwilling, entstanden als Ergebnis einer kosmischen Evolution, die auf erstaunliche, ja unglaubwürdige Weise jener im Heimatuniversum glich.

Eines der vielen Rätsel, die es zu lösen galt.

Sollte es plötzlich einen Rückweg in die Heimat geben, wusste Adams nicht, ob er ihn gehen würde, solange es offene Fragen gab. Er hatte das einmal Amalia gegenüber erwähnt, und auf ihre unnachahmliche Art hatte sie es auf den Punkt gebracht: Kümmern wir uns um das Hier und Jetzt. Die Dinge, die später kommen, dürfen gerne später kommen.

Die Thermofunktion seines Sessels wärmte Adams' Rücken. Es machte ihn schläfrig, aber er genoss es. Er hatte um dieses Treffen gebeten und eröffnete nun das Gespräch. »Ich freue mich, dass ihr mitgekommen seid.«

»Wie könnte ich die Einladung zu einer Zusammenkunft mit zwei derart illustren Menschen ausschlagen?«, fragte Coen. »Es ist mir eine Ehre, und ich fühle mich entsprechend nervös. Entschuldigt also, wenn ich ... unprofessionell wirke.« Während dieser Worte saß er absolut gelassen auf dem einfachen hölzernen Stuhl, den er für sich gewählt hatte, das linke Bein über das rechte geschlagen, die Ellenbogen auf den Lehnen abgelegt, ein Glas roten Perlwein in der Hand, den der Robotdiener beim Eintreten angeboten hatte.

Gisso Appelles lächelte. »Oh, ich glaube, es wird für dich bald völlig normal sein, dich in den höchsten politischen Kreisen zu bewegen.«

»Tatsächlich?«, fragte Tomasso Coen unschuldig. Er nahm einen Schluck. »Ein guter Tropfen. Man schmeckt einen sonnenverwöhnten südlichen Sommer.« Ein erneutes Nippen. »Ein Hang auf einer der Neu-Atlantischen Inseln?«

»Diese Frage kann ich dir leider nicht beantworten«, sagte die Residentin. »Ich bevorzuge weißen Tee. Aber ich denke, wir haben genug geplaudert. Die kommende Wahl wird entscheiden, ob ich in eine weitere Amtszeit gehe oder ob du meine Nachfolge antrittst.«

Coen stellte das Glas auf dem kleinen Tischchen neben sich ab. Er hielt den Blick nach draußen gerichtet, stand auf und tippte an die Panoramascheibe. »Zeig mir den Residenzpark!«

Die Scheibe verdunkelte sich kurz, ehe sie wieder durchsichtig wurde. Ein winziger Bereich in südöstlicher Richtung leuchtete heller als zuvor.

»Vergrößern!«

Ein schwarzer Kreis zeichnete sich ab und erweiterte seinen Radius und damit die weitgehend grüne Fläche darin. Bald wurde die Wasserfläche des Residenzsees sichtbar, ein schattig dunkles Blau. Am oberen Rand des Ausschnitts lagen die ersten Häuser des angrenzenden Stadtteils Antares City.

»Was dort passiert ist, als Jathao Vanoths Botschaft die Runde machte, darf sich nicht wiederholen«, sagte Coen. »Das Attentat, die späteren Aufstände ... wir müssen verhindern, dass so etwas erneut geschieht, und das können wir am besten, wenn wir zusammenarbeiten.«

»Da kann ich dir nur zustimmen«, sagte Adams.

Gisso Appelles nickte. »Und ich schließe mich an. Aber Tomasso – erlaubst du, dass ich dir einen Tipp gebe?«

»Selbstverständlich.«

»Es ist schwierig, in der Öffentlichkeit ständig eine Rolle zu spielen.«

Er drehte sich zu ihr um. »Wie kommst du darauf, dass ich das tue?«

»Weil du jetzt völlig anders bist als dort draußen.«

»Sind wir das nicht alle? Haben wir nicht alle ein Ich für die Menge, die uns zuhört?«

»Ich nicht«, sagte Gisso Appelles.

»Darum warst du eine gute Residentin, all die Jahre. Aber die Zeiten ändern sich. Und deshalb werde ich für die Zukunft ein besserer Resident sein.«

»Dich plagen keine Zweifel, ob du gewinnen wirst?«, fragte Adams.

Coen lächelte.

Auch Adams glaubte, das Ergebnis der nächsten Wahl bereits zu kennen. Und er hatte kein schlechtes Gefühl dabei.

»Mit der Phase Neuland hast du die Neubesiedlung dieses Solsystems ausgerufen«, sagte Coen. »Ein Schritt in die richtige Richtung. Ich werde mit Phase VASCO DA GAMA weitergehen. Ich sehe Schiffe einer neuen ENTDECKER-Klasse vor mir – der VASCO-Klasse. Sie sollen die Sonnensysteme ansteuern, die wir mit einer anstrengenden, aber machbaren Reise unter den hiesigen Bedingungen gerade noch erreichen können.«

»Es ist zu früh für eine Besiedlung«, mahnte Gisso Appelles.

»Wer schreibt dieses Gesetz vor? Du?«

»Die Vernunft.«

»Ach?« Tomasso Coen schnappte sich erneut sein Glas und trank. »Der Vernunft will ich mich selbstverständlich nicht verschließen. Erstes Ziel: keine Besiedlung, sondern Informationsbeschaffung und potenzielle Kontaktaufnahme mit neuen Völkern.«

»Wieso habe ich das Gefühl, dass du dieses Gespräch genau so geplant hast?«, fragte Adams.

Coen hob die Schultern. »Ich weiß nichts über deine Gefühle. Ich bin bloß ein Terraner wie alle anderen.« Er tat überrascht. »Oh. So viel also zu der Rolle, die wir spielen. Oder auch nicht.«

»Immer wenn ich denke, ich verstehe dich«, sagte Gisso, »gibst du mir neue Rätsel auf.«

»Wäre es sonst nicht langweilig?« Coen setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Zurück zu den VASCO-Schiffen. Spürt ihr nicht die Aufbruchsstimmung auf Terra? Seid ihr wirklich taub und blind dafür geworden? Da draußen wartet ein ganzes Universum darauf, entdeckt zu werden – bekannt und doch völlig unbekannt!«

Die Residentin ging zur Sichtscheibe, stützte beide Hände daran ab, lehnte die Stirn dagegen. In diesem Moment, fand Adams, sah sie unendlich müde aus.

Ein Touristengleiter zog vorbei, sehr nah, offenbar auf Besichtigungstour. Unter anderem saß einer der wenigen Blues darin, die es auf Terra noch gab. Er streckte den Arm aus, drehte den Tellerkopf, und der Mund im dünnen Hals stand weit offen. Wahrscheinlich fiepte er überrascht im Ultraschallbereich. Im nächsten Augenblick war er vorbeigezogen.

»Dann will ich dich ebenfalls überraschen«, sagte die Residentin. »Ich trage diese Entscheidung schon länger mit mir herum, und dieses Gespräch macht es mir einfacher. Ich werde mich nicht erneut zur Wahl stellen, aber dich als meinen Nachfolger empfehlen.«

»Was?«

Gisso sah zufrieden aus. »Es wäre doch langweilig, wenn du alles vorausberechnen könntest, nicht wahr?«

*

»Ich habe genug getan«, sagte Gisso später. »Ich war sechzig Jahre Residentin. Vielleicht gäbe es eine Chance auf eine neue Amtsperiode, aber ... ich hatte meine Zeit.«

Sie waren zu dritt auf der Aussichtsterrasse im Appelles-Turm; allerdings war Tomasso Coen mittlerweile gegangen, stattdessen leistete ihnen auf Bitten der Residentin Amalia Gesellschaft.

»Ich möchte, dass du als mein Advisor meine Entscheidung verstehst«, fuhr Gisso fort. »Und es mir nicht übel nimmst, dass ich sie ohne Beratung mit dir getroffen habe.«

»Das kannst du selbstverständlich«, sagte Adams. »Meine Befugnis umfasst nicht ...«

»Es geht ihr nicht um Befugnisse«, unterbrach Amalia. »Sondern um Freundschaft. Also um etwas, das prinzipiell sehr gut ist, in den hohen Ämtern, die ihr bekleidet, jedoch vielleicht hinderlich sein kann.«

Gisso Appelles lachte. »Ich bin froh, dass ihr mir zur Seite steht. Mein offizieller Advisor und dessen eigene inoffizielle Advisorin. Ich darf mich wirklich glücklich schätzen, einer der drei Menschen gewesen zu sein, die die ersten Jahre im Dyoversum maßgeblich geprägt haben.«

»Und prägt«, sagte Adams.

Die Residentin neigte den Kopf leicht. »Aber ich darf mich zurückziehen, im Unterschied zu euch beiden.«

»Oh, ich kann das ebenso gut«, widersprach Amalia. »Ich tue es täglich, weil ich kein öffentliches Amt tragen muss.«

»Trotzdem bleibst du wegen Homer zu nahe dran, um die Verantwortung wirklich loszuwerden«, sagte Gisso.

Amalia pfiff vergnügt vor sich hin. »Jedem wird sein eigenes Joch aufgelegt. Doch eines Tages werde ich ihn allein lassen.« Sie legte Adams eine Hand auf die Schulter. »Und das ist sein Joch ... ein kleiner Chip in seinem Körper, der es ihm antut, dass er all seine Freunde überlebt.«

Adams wollte etwas sagen, doch er brachte kein Wort heraus.

Also schwiegen sie, schauten auf die Weiten von Terrania, und nach einer Weile konnte er die Stille genießen.

*

Jahre später, als die Phase VASCO DA GAMA längst lief und kurz davorstand, eine dramatische Wende zu nehmen, erinnerte sich Homer G. Adams an Amalias Worte über das wahre Joch, das er tragen musste.

Und ihm kam das seltsame Grab im Ylatorium in den Sinn, gestaltet von Robotern, die auf unbestimmbare Weise mehr waren als bloße Maschinen.

Das Grab, in das er diesmal blickte, sah weitaus konventioneller aus, ebenso die Schar der Besucher, die der ehemaligen Residentin die letzte Ehre erwiesen. Ihr Sohn stand in der Menge, mit seiner gesamten Familie, den vier Enkeltöchtern der Verstorbenen, den zwölf Urenkeln und ungezählten Ururenkeln sowie den Zwillings-Urururenkeln, die gerade ihre ersten Schritte taten und deren Geburt Gisso so sehr zum Lachen gebracht hatte.

Eben beugte sich Resident Tomasso Coen zu den beiden – in seinen fünf Amtsphasen hatte er sich als ein zuverlässiger, besonnener Mann bewiesen, der seine Rolle als gelegentlicher Choleriker nach und nach abgelegt hatte.

Adams trat an das offene Grab – Gisso hatte sich eine Erdbestattung gewünscht, im Schatten der alten Bäume, auf ihrem Privatgrundstück, am Ufer des Residenzsees.

»Ich durfte Gisso Appelles als Advisor zur Seite stehen«, sagte er, »in einer Zeit, als die Zukunft unsicher war und niemand wusste, wohin es uns verschlagen hat und was die kommenden Tage bringen werden. Sie hat die Liga weise geleitet und das Zepter in die Hand des zweiten Residenten nach der Versetzung gelegt, der uns zu anderen Sternsystemen geführt hat.

Damals hat sich Gisso in ihr Privatleben zurückgezogen, mit ihrer Familie. Diese Jahre, in denen ich ihr ein Freund sein durfte, hat sie sich verdient. Tomasso Coen mag nun ihre politischen Verdienste würdigen, ich möchte in Erinnerung rufen, was für ein Mensch sie war. Jeder Terraner und alle Gäste auf Terra und Luna, die die Versetzung zu neuen Bürgern gemacht hat, konnten sich auf sie verlassen. Sie hat dafür gesorgt, dass unser Planet auch in diesem fremden Zwillingsuniversum eine Heimat geblieben ist.«

Er schloss die Augen und öffnete sie erst nach Sekunden wieder. Dann verließ er seine Position an der Spitze des Grabes ohne ein weiteres Wort, ging zurück zu Amalia und stellte sich neben sie.

Während der folgenden Ansprache des aktuellen Residenten entdeckte er einen ungewöhnlichen Gast dieser Trauerfeier – einen bronzefarbenen Roboter, ganz am äußersten Rand der Menschenmenge. Adams fragte sich, wie viel mehr als bloße Maschinen die Ylanten letztlich waren.

Nach der Beerdigung kam Tomasso Coen zu ihm. »Wir müssen reden, Advisor, und nein – leider bleibt auch an einem Tag wie diesem keine Zeit bis morgen.«

»Ich höre.«

»Die VASCO-Expedition im Beteigeuzesystem hat Probleme mit den Topsidern.«

Perry Rhodan-Paket 62: Mythos (Teil2)

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