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9.


Am späten Nachmittag desselben Tages erschien Pastor Heinrich Timpe von St. Andreas auf der Wache im Residenzschloss. Sein kummervolles Gesicht wies Leutnant Oberbeck schon darauf hin, dass der Geistliche mit einer schlechten Nachricht zu ihm kam.

Seine ersten Worte bestätigten dann auch diese Annahme. Kaum hatte der Pastor ihn entdeckt, als er ausrief:

„Herr Leutnant, es ist einfach schrecklich, ganz schrecklich – ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht! Dieses Verbrechen hat alles durcheinandergewirbelt, in der gesamten Andreasgemeinde wird über nichts anderes mehr geredet, und jetzt auch noch dieser Verlust, es ist einfach schrecklich.“

Ermattet sank der Pastor auf einen der einfachen Holzschemel, die in der Wachstube standen.

„Ihr wisst nun also, welches Buch gestohlen wurde? Ist es sehr wertvoll?“

Der Pastor sah mit kummervollem Gesicht zu dem Offizier auf.

„Wertvoll? Ihr fragt im Ernst, ob es ein wertvolles Buch ist, das aus den Beständen der Andreana gestohlen wurde? Herr Leutnant, muss ich Euch darauf hinweisen, dass es für den Dieb so wertvoll war, dass er darüber zum Mörder wurde?“

Leutnant Oberbeck legte dem Pastor beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Nein, daran müsst Ihr mich nicht erinnern. Natürlich war es ein wertvolles Buch, ohne Frage. Aber erklärt mir doch bitte, was den Wert ausmachte. Wenn es einen mit Edelsteinen besetzten Einband aufwies, wäre es die Beute eines einfachen Diebes gewesen. Ist es dagegen vom Inhalt her wertvoll, kommen ganz andere Täter in Betracht.“

„Da habt Ihr ganz recht vermutet, Herr Leutnant!“, rief der Pastor aus. „Es handelt sich um eine Abschrift, und ist eigentlich nur ein ganz schmales Bändchen gewesen, deshalb konnte ich es auch nicht sogleich benennen, als ich mir dieses Durcheinander besah, das der Dieb in der Bücherei hinterlassen hatte. Ja, ich wäre noch nicht einmal auf den Gedanken gekommen, dass sich jemand für dieses Buch interessiert hätte, es ist viel zu spezifisch, um das Interesse eines einfachen Bücherdiebes zu erwecken. Nein, Herr Leutnant, ich habe keine Ahnung, was der Dieb mit diesem Werk beabsichtigt, aber er hat es ganz gewiss in unserer Bücherei vermutet und ist deshalb eingebrochen.“

„Um was handelt es sich also bei diesem besonderen Buch, Pastor Timpe?“

Der Geistliche seufzte tief auf, dann stand er von seinem Schemel auf und sah dem Offizier ernst ins Gesicht.

„Es handelt sich um eine Schrift, die ein Rezept für flüssiges Feuer enthält. Eigentlich ist es eine Abschrift, aber trotzdem sehr, sehr selten. Das Buch heißt Liber ignium und stammt von Marcus Graecus. So, jetzt wisst Ihr alles und müsst unbedingt handeln, es kann viel davon abhängen, den Mörder und Bücherdieb so rasch wie möglich zu finden!“

Der Pastor hatte erregt gesprochen und jetzt seinerseits den rechten Arm des Leutnants gegriffen und fest gedrückt.

Leutnant Friedrich Oberbeck sah den Pastor einen Moment verblüfft an, dann schüttelte er den Kopf.

„Liber ignium? Bester Herr Pastor, ich habe weder davon noch jemals von einem flüssigen Feuer gehört. Was soll das sein?“

„Entschuldigt mein Temperament, Herr Leutnant, ich hatte vorausgesetzt, dass jedermann darüber Bescheid weiß. Man nennt es auch ‚Griechisches Feuer‘ oder bezeichnet es als die ‚Geheimwaffe der Byzantiner‘. Ich bin kein Alchemist oder Wissenschaftler, aber der Überlieferung nach hatten die Byzantiner bereits eine fürchterliche Waffe, die mit einem Siphon dieses Feuer auf Schiffe oder auch in Städte warf und sie damit dem sicheren Untergang weihte.“

Der Leutnant lächelte, als er den aufgeregten Geistlichen betrachtete.

„Nun, davon habe ich in der Tat schon gehört, aber das sind doch alles alte Legenden. Ein flüssiges Feuer, das mit einem Gerät über Mauern geschossen werden kann oder von einem Schiff zum anderen – mit Verlaub, das ist einfach Unsinn. Keine Waffe ist in der Lage, ein flüssiges Feuer zu transportieren. Wie sollte das funktionieren? Geschosse wie Kugeln aus Pistole, Gewehr oder Kanone benötigen Schwarzpulver, um zu fliegen – und das Pulver verträgt sich sehr schlecht mit jeder Art von offenem Feuer, das dürft Ihr einem erfahrenen Offizier wohl glauben. Und mittelalterliche Katapulte wollen wir wohl doch nicht mehr verwenden.“

„Da mögt Ihr nicht Unrecht haben, Leutnant. Doch trotzdem: Die Byzantiner haben eine solche Waffe gehabt, da besteht keinerlei Zweifel. Zu vielseitig sind die Berichte über ihre Waffe, aber niemand hat überliefert, wie sich dieses flüssige Feuer zusammensetzt – nur Marcus Graecus überlieferte das Rezept. So ist es durchaus möglich, dass ein Verbrecher es gestohlen hat, um damit seine nächsten Untaten zu verüben. Es ist einfach unvorstellbar, was geschieht, wenn ihm das gelingen sollte.“ Der Pastor rang verzweifelt seine Hände und sah den Offizier flehentlich an. Aber der Leutnant hatte längst den Ernst der Situation erkannt.

Ein Rezept zur Herstellung einer in früherer Zeit erprobten Waffe? Womöglich noch mit allen Angaben, wie man sie effektvoll einsetzen kann? Nicht auszudenken, was man damit alles erreichen konnte!

„Wie ist es denn möglich, dass ein solch gefährliches Buch überhaupt noch in Eurer kleinen Bibliothek aufbewahrt wird? Hätte es nicht längst in den Bestand nach Wolfenbüttel gehört, oder besser noch, in die Hände unseres Herzogs?“

„Nun, Herr Leutnant, Ihr werdet Euch vielleicht wundern“, entgegnete der Pastor, indem er sich aufrichtete und seinen schlichten, schwarzen Rock glatt strich. „Vor gut zehn Jahren habe ich schon darauf hingewiesen, dass sich dieses Büchlein in unserem Bestand befindet. Es wurde von mehreren Wissenschaftlern des Collegium Carolinum angesehen und als unwichtige Kopie einer Phantasie aus dem Altertum an mich zurückgegeben. Mehr noch, man behandelte mich, als wäre ich ein Narr, nur weil ich auf die Gefährlichkeit dieser Schrift hingewiesen habe.“

„Es wurde überprüft und für ungefährlich gehalten? Das ist ja unvorstellbar, verehrter Herr!“

Leutnant Oberbeck schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Obwohl – wenn ich es recht bedenke, erscheint es mir nach wie vor recht unglaubwürdig. Und wenn die hohen Herren es überprüft haben, kann es nicht so gefährlich sein, wie Ihr vermutet. Indes kommt es durch die Bluttat, die mit seinem Diebstahl verbunden ist, in ein ganz anderes Licht. Jedenfalls danke ich Euch für diese rasche Information, ich weiß nun, dass wir es mit einem besonderen Täter zu tun haben und keineswegs nur mit einem Einbrecher, der bei seiner Tat überrascht wurde. Der Täter wusste genau, was und wo er suchte – und es war ihm egal, dafür zu töten. Das macht die Suche nach ihm vielleicht leichter.“

„Glaubt Ihr denn, eine Spur zu finden, die Euch zu ihm führt?“

Jetzt lächelte der Leutnant wieder leicht, als er antwortete.

„Nun, Pastor Timpe, eine Spur vielleicht noch nicht, nur einen Verdacht oder einen Gedanken. Aber Ihr könnt Euch darauf verlassen, dass wir alles versuchen werden, um den Mörder zu finden. Ihr hört wieder von mir, wenn ich etwas in Erfahrung gebracht habe. Inzwischen werde ich mich einmal am Collegium erkundigen, ob die Herren es tatsächlich für möglich halten, das flüssige Feuer herzustellen. Das wäre in der Tat schrecklich.“

Damit begleitete der Leutnant Pastor Timpe hinaus und eilte gleich über den Bohlweg, um die gewünschte Auskunft im Collegium Carolinum einzuholen.

Neun ungewöhnliche Krimis Juni 2019

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