Читать книгу Neun ungewöhnliche Krimis Juni 2019 - Pete Hackett - Страница 9
Оглавление4.
Leutnant Oberbeck hatte sich eine Reihe von Notizen gemacht und steckte jetzt den dünnen Stift aus gewalztem Blei in sein Notizbuch zurück. Ein paar Jäger hielten die neugierigen Gaffer zurück, die einen Blick in die Liberei werfen wollten, um vielleicht gar den Leichnam selbst zu sehen. Oberbeck hatte noch nie verstanden, was die Menschen bei solchen Anlässen anlockte – ähnlich wie bei den glücklicherweise kaum noch stattfindenden öffentlichen Hinrichtungen.
Schnell hatte es sich im Andreasviertel der Neustadt herumgesprochen, was geschehen war. Am frühen Morgen war Pastor Heinrich Timpe in die Liberei gegangen, um sich Unterlagen für seine Arbeit zu holen. Dabei hatte er auf der Treppe den ermordeten Nachtwächter gefunden. Die riesige Blutlache zeigte ihm nur zu deutlich, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Trotzdem schickte er den Küster zu einem Arzt in der Nachbarschaft. Er selbst lief, so schnell ihn seine Füße trugen, zur Wache im Schloss, um dort Anzeige zu erstatten.
Der Leutnant richtete sich auf und sah dem Arzt entgegen, der soeben aus der Reichenstraße in die Kröppelstraße einbog und vor ihm stehen blieb.
„Medicus Meibaum persönlich – das ist ja großartig!“, rief er aus, als er den berühmten Mediziner erkannte.
Der stellte seine Tasche ab und drückte dem Offizier freundlich die Hand. „Herr Leutnant – wie ich sehe, kommt meine Hilfe wohl zu spät. Da ist jede medizinische Arbeit vergeblich.“
Er deutete bei seinen Worten auf die große dunkle Blutlache.
„Man hat dem armen Kerl von hinten die Kehle durchgeschnitten. Aber Pastor Timpe hat es gut gemeint und um ärztliche Hilfe gerufen, während er uns alarmierte.“ Der Medicus trat zu dem Leichnam, bückte sich über ihn und ergriff einen seiner Arme. Eine Weile drückte er daran herum, dann wandte er sich erneut an den Leutnant.
„Nach dem Zustand der Leichenflecken zu urteilen, ist er bereits seit gut acht Stunden tot. Die Tat könnte wohl um die Mitternacht geschehen sein, vielleicht etwas später. Der Schnitt ist mit einer sehr scharfen Klinge und unter größter Brutalität durchgeführt worden. Der Mörder muss Erfahrung haben, sonst hätte er die Klinge nicht so gleichmäßig und schnell durch den Hals gezogen. Wenn Ihr einmal hierher schaut, könnt Ihr unschwer erkennen, dass er ihm fast den Halswirbel dabei durchtrennt hat.“ Der Medicus wies auf die hässlich klaffende Halswunde. Wie ein riesiges Maul wirkte die Verletzung. Der Eindruck wurde noch verstärkt durch einen weißlich schimmernden Knochen, der im geronnenen Blut deutlich erkennbar war.
„Armer Kerl – wen mag er da überrascht haben? Das Wetter in der vergangenen Nacht war allerdings für ein Verbrechen günstig – bei dem Sturm war wohl niemand mehr freiwillig unterwegs.“
„Ist es Euch genehm, wenn ich den Toten in das Collegium überführen lasse? Ich würde im Anatomischen Institut gern noch ein paar Untersuchungen anstellen lassen.“
Verwundert blinzelte der Leutnant und warf einen irritierten Blick auf den Toten. „Was meint Ihr, Herr Medicus?“
Der Arzt hob abwehrend beide Hände und lachte verlegen.
„Nein, nichts zur Todesursache, das ist ja nun eindeutig. Aber ich nutze gern die Gelegenheit, anatomische Studien zu treiben. Wie Ihr ja wisst, ist es nicht mehr leicht, an entsprechende Objekte zu kommen. Die Kirche hat da doch immer noch Bedenken ...“ Medicus Meibaum ließ den Satz unvollendet, und Leutnant Oberbeck nickte nur. Er hatte verstanden – und natürlich gab es von seiner Seite keine Einwände. Der Offizier war davon überzeugt, dass es keine medizinischen Fortschritte geben würde ohne entsprechende Studien.
Vor einiger Zeit hatte ihm Medicus Meibaum, der aus einer berühmten Arzt-Familie stammte, voller Stolz das Anatomische Institut gezeigt. Oberbeck war beeindruckt, was der Medicus ihm über den menschlichen Körper erzählen konnte. Schon sein Vater, Brandanus Meibaum, galt als großer, medizinischer Gelehrter, und Heinrich Johann eiferte ihm nach. Die Talgdrüsen in den Augenlidern heißen seit ihrer Entdeckung Meibaumsche Drüsen.
Es dauerte nur kurze Zeit, und der tote Nachwächter wurde, in ein Tuch gehüllt, auf einen Leiterwagen geladen und fortgebracht.
Leutnant Oberbeck war zu diesem Zeitpunkt jedoch längst mit anderen Dingen beschäftigt. Er hatte Stufe für Stufe genau betrachtet und sich so langsam dem Bereich genähert, an dem offensichtlich die grausame Tat geschehen war. Hier befanden sich deutlich erkennbare Blutspritzer an der Wand. Aber der Jägeroffizier hatte etwas anderes entdeckt, griff erneut zu seinem Notizbuch und zog seinen Hirschfänger aus der Scheide.
Dann bückte er sich über eine Treppenstufe und legte den Hirschfänger neben einen deutlichen Stiefelabdruck in der Blutlache. Er markierte mit seinem Stift die Länge des Abdruckes, schob den Hirschfänger wieder zurück und begann anschließend, den Schuhabsatz abzuzeichnen.
Bei seiner Arbeit völlig konzentriert, achtete er nicht auf seine Umgebung und zuckte richtig zusammen, als ihn sein Sergeant ansprach.
„Herr Leutnant, der Pastor kann noch nicht sagen, ob etwas gestohlen wurde!“
Irritiert sah der Offizier seinen grauhaarigen Sergeanten an, dann ging ihm erst auf, was der Mann ihm mitteilte.
„Oh, gut, dann soll er seine Verzeichnisse durchgehen. Hier ist ein schweres Verbrechen verübt worden, da kann ein möglicherweise gestohlenes Buch Aufschlüsse auf den Täter geben.“
„Ihr meint, ein Bücherdieb hat den Nachtwächter ermordet? Weshalb? Nur weil der ihn auf frischer Tat erwischt hat? Das scheint mir doch sehr weit ...“
„Leutnant Oberbeck, Ihr müsst Euch diesen Raum einmal ansehen!“ Der Sergeant wurde von dem aufgeregten Pastor unterbrochen, der auf dem oberen Treppenabsatz erschien. Nachdem er die Wache alarmiert und mit ihnen zur Liberei zurückgegangen war, durfte er das Gebäude nicht mehr betreten. Nach dem Abtransport der Leiche konnte ihm niemand mehr den Zutritt verwehren, und scheu den Blutflecken ausweichend, eilte der Pastor in den oberen Raum der kleinen Bibliothek.
„Habt Ihr etwas entdeckt?“ Der Leutnant hoffte auf einen Hinweis durch den Geistlichen, aber der schüttelte nur traurig den Kopf.
„So, wie es hier aussieht, können wir erst in ein paar Tagen herausfinden, ob etwas fehlt.“
Die Jäger waren ihm gefolgt und blieben auf der Schwelle stehen. Der Raum sah aus, als sei eine wilde Horde plündernd durch die Bibliothek gezogen. Bücher waren aus den Regalen gerissen und lagen in einem chaotischen Durcheinander, zusammen mit zahlreichen Dokumenten und einigen Karten, auf dem Boden verstreut.
„Das sieht tatsächlich schlimm aus. Gibt es Inventarverzeichnisse der Andreana? Was ist hier überhaupt noch eingelagert – kamen nicht die kostbarsten Bände schon vor langer Zeit nach Wolfenbüttel?“
Pastor Timpe nickte.
„Das ist schon richtig, der Herzog hatte schon vor vielen Jahren dafür gesorgt, dass die wertvollen Bestände alle in die neue Bibliothek nach Wolfenbüttel kamen. Aber wir haben darauf bestanden, einige wichtige Werke zu unserer Verfügung zu halten. Es handelte sich dabei überwiegend um theologische Schriften und Kirchendokumente.“
„Was kann darunter so wichtig sein, dass es jemand um den Preis eines Menschenlebens haben will?“
Der Pastor zuckte hilflos mit den Achseln.
„Ich kann es mir beim besten Willen nicht denken, Herr Leutnant. Dies ist eine kleine Bibliothek, die zwar einst ihre Bedeutung als öffentliche Einrichtung hatte, aber heute interessiert sich kein Mensch mehr für die hier verwahrten Schriften.“
„Bis auf einen, der dafür sogar mordet!“, erinnerte der Leutnant.
Pastor Timpe seufzte schwer auf.
„Das ist unbegreiflich – ich kann es mir beim besten Willen nicht erklären.“
„Wann habt Ihr einen Überblick gewonnen?“
„Das kann ich in keinem Fall sagen. Wir werden sogleich mit dem Aufräumen beginnen, und zusammen mit dem Küster und dem Kirchendiener werden wir die Verzeichnisse durchgehen. Sobald ich etwas entdecke – ein fehlendes Buch oder ein Dokument – werde ich Euch benachrichtigen lassen.“
„Das wäre mir sehr lieb, und zwar je eher, desto besser. Wenn wir den Täter fassen wollen ... Wer kommt da jetzt?“
Der Leutnant schaute aus dem Fenster, als er den sich rasch nähernden Hufschlag vernommen hatte. Kaum entdeckte er den grün-rot gewandeten Jäger, als er auch schon die Stufen hinuntersprang und den Mann empfing.
„Nun, Müller, was gibt es so eilig? Brennt das Schloss?“
„Zum Glück nicht, Herr Leutnant. Aber der Kammerherr hat Euch augenblicklich zu sich befohlen – egal, was Euch gerade beschäftigt.“
„Der Kammerherr?“ Leutnant Oberbeck drückte den Dreispitz fest und schwang sich in den Sattel seines Pferdes, das von einem der anderen Jäger gehalten wurde. „Na, das hat mir zu meinem Glück gerade noch gefehlt – eine Eilorder zum Grafen und ein frischer Mord – ich hoffe nur, er hat davon nicht schon erfahren und erteilt mir wieder Anweisungen, wie ich vorzugehen habe, um niemand bei Hofe in Verruf zu bringen. Wissen Sie mehr, Müller?“
Es war seit der Zeit Friedrich II. üblich, dass die Jäger von den Offizieren gesiezt wurden. Auch damit hoben sie sich deutlich von den anderen Soldaten ab, bei denen die übliche Ansprache in der dritten Person erfolgte.
Jäger Müller verneinte, und der Leutnant trieb sein Pferd schon an, als er seinen Leuten zurief:
„Sergeant Eggeling und zwei Mann folgen mir, der Rest sichert die Liberei und lässt niemand hinein, der dort nichts zu suchen hat! Vorwärts, wir wollen den Kammerherrn nicht warten lassen!“
Gleich darauf sprengte der kleine Trupp in scharfem Galopp über die Reichenstraße, bog in die Lange Straße zum Hagenmarkt ein und war schon wenige Minuten später vor dem Portikus. Sein Pferd stand noch nicht richtig, als der Leutnant schon aus dem Sattel war und im Schloss verschwand.
Mit gemischten Gefühlen eilte er den langen Gang hinunter, der ihn zum Antichambrierraum und von dort in den Raum des Mächtigen führte. Er erinnerte sich in diesem Augenblick nur ungern daran, wie sich der Kammerherr bei dem letzten Fall verhalten hatte, der unter dem Titel Der Richmond-Mord zu den Akten gelegt wurde. Graf Florian von Osten-Waldeck hatte dem Leutnant untersagt, weiter zu ermitteln – für ihn waren die Zigeuner schuld am Tod des jungen Schafhirten. Nur der Hartnäckigkeit des Leutnants, der sich über diese Anweisung hinwegsetzte, war es zu verdanken, dass dieser Fall doch noch aufgeklärt wurde.
Als er die Tür zu dem Antichambrierraum öffnete, starrten ihm wohl zwanzig Augenpaare zugleich entgegen. Der Leutnant ignorierte die Blicke, durchquerte den Raum eilig und musste noch nicht einmal vor dem Diener warten, der bei seinem Anblick sofort einen Flügel der Tür aufriss und ihm Zeichen gab, unverzüglich einzutreten.
Das verstärkte die Befürchtungen des Offiziers noch, denn der Kammerherr schien nur darauf zu warten, ihm erneut Anweisungen für seine Arbeit zu geben.