Читать книгу Neun ungewöhnliche Krimis Juni 2019 - Pete Hackett - Страница 21
15.
ОглавлениеDer große Saal war angefüllt mit Menschen, die alle durcheinanderredeten. Das mächtige Stimmengewirr erfüllte die abgestandene Luft, die ein Gemisch aus Schweiß, Puder und undefinierbaren Gerüchen bildete. Gelehrte der Braunschweiger Institute, sowohl vom Collegium Carolinum wie vom Anatomischen Institut, aber auch zahlreiche Höflinge, adlige Nichtstuer und Neugierige drängten sich um einen Tisch mit allerlei Gerätschaften, Materialproben verschiedener Steine und Erden, dazu Formen, teils geschlossen, teils geöffnet, Porzellanbrände in verschiedenen Stadien und einiges mehr, das sich dem neugierigen Auge nicht sofort erschloss.
Als einer der letzten Gäste traf Leutnant Friedrich Oberbeck ein. Schon auf dem Gang hatte er das gewaltige Stimmengebraus wahrgenommen, und als sein Auge suchend über die versammelte Menge schweifte, stellte er fest, dass sich nicht nur der gesamte Hof eingefunden hatte, sondern offenbar auch zahlreiche Honoratioren der Stadt und Mitglieder des Rates.
Oberbeck stellte sich in der Nähe des Einganges so, dass er alles überschauen konnte. Schlagartig trat Ruhe ein, als sich eine Nebentür öffnete und der Graf von St. Germain, auffällig und sehr modisch gekleidet wie immer, eintrat. So auffallend war die plötzliche Stille, dass man jeden der Schritte des Grafen wie Donnerschläge vernahm, als er jetzt mit weit ausgreifenden, schnellen Schritten den Raum durchmaß.
Dabei warf er nach allen Seiten freundliche Blicke, eilte hinter den langen Tisch und widmete sich dort seinen Geräten. Leise setzten diesmal die Gespräche wieder ein, verstummten aber erneut, als sich eine andere Tür öffnete und Herzog Carl Wilhelm Ferdinand in Begleitung seines Kammerherrn den Saal betrat. Ihnen folgte in kurzem Abstand, schon arg gebückt und auf einen Stock gestützt, Johann Georg von Langen, nicht nur Forst- und Oberjägermeister des Herzogs, sondern auch der eigentliche „Vater des Porzellans aus Fürstenberg“, wie ihn der Herzog gern nannte.
Johann Georg von Langen war es nicht nur geglückt, hinter das Geheimnis der Porzellanherstellung zu kommen, sondern darüber hinaus bewies er mit dem Bau des ersten Brennofens in Fürstenberg an der Weser seine Kenntnis bei der Porzellanherstellung. In den Jahren 1747 bis 1753 verbesserte er seine Verfahren noch wesentlich und lieferte in dieser Zeit das erste Porzellan aus der neuen Manufaktur. Und noch immer galt darüber hinaus sein Interesse dem Wald. Seine Denkschrift von 1755 wies darauf hin, dass neben einer gemischten Anpflanzung von Bäumen insbesondere die Fichten zu setzen wären. Auch um den Kartoffelanbau im Harz hatte sich der jetzt greise von Langen verdient gemacht und stand daher auch im hohen Alter noch immer in allerhöchster Gunst beim Herzog.
Die Anwesenden erwiesen dem Herzog ihre Referenz, indem sie ihn mit den nach oben gekehrten, offenen Händen und der vorschriftsmäßigen Fußhaltung nebst einem geneigten Haupt erwarteten. Auf ein Zeichen von ihm lösten sich alle aus ihrer erstarrten Haltung, und der Herzog begrüßte die Anwesenden leutselig.
„Wir haben heute den Grafen von St. Germain zu Gast, der uns versprochen hat, Mittel und Wege zu kennen, um das in Fürstenberg erzeugte Porzellan erheblich in seiner Qualität zu verbessern. An unserer Seite der überaus verdienstvolle Oberjägermeister Johann Georg von Langen, dem wir die Manufaktur überhaupt verdanken. Es wird für uns alle ein historischer Tag werden, wenn wir erleben, wie uns der Graf von St. Germain zeigen wird, dass auch unser Fürstenberger Porzellan die gleiche Qualität wie das aus Meißen erreichen kann. Graf – bitte beginnt mit Eurer Präsentation!“
Die drei hohen Herren hatten unmittelbar am Tisch Platz genommen und warteten nun ab, was der Gast ihnen bieten würde. Alle drängten sich so dicht heran, wie es nur ging, und vor allem – wie es die Etikette bei Hof erlaubten, denn die Rücksichtnahme auf die Anwesenheit des Herzogs erforderte doch eine geziemende Distanz zum Tisch.
Der Graf begann nun mit schneller Rede auf die Vorzüge eines reinen, zarten Porzellans einzugehen, pries die Möglichkeiten, die Mutter Natur bot mit ihren reichen Vorräten an Feldspat, Kaolin und Quarz. Danach ging er ausführlicher darauf ein, dass die vorhandenen Stoffe in unterschiedlicher Qualität auftraten und dementsprechend das Endprodukt, also das Porzellan, nur von verschiedener Art sein konnte.
„Mit anderen Worten, Durchlaucht – es ist nicht möglich, aus jedem Kaolin das beste Porzellan zu gewinnen. Die Alchemie hat längst erbracht, dass die Zusammensetzung der vorhandenen Mineralien eine entscheidende Rolle dabei spielt, ebenso wie die richtige Sinterung. Nicht nur der Zeitpunkt der Schmelze im Brennofen, die Verbindung des Feldspats mit dem Quarz und dem Kaolin, sondern ein harmonisches Zusammenspiel aller Komponenten, als da sind: Mineralreiches Material, richtige Brenntemperatur und glücklich erfolgte Sinterung können ein Produkt allerhöchster Güte erzeugen.“
Herzog Carl Wilhelm Ferdinand begann, ein wenig unruhig auf seinem weichen Sessel herumzurutschen, und der Graf war klug genug, dieses erste Zeichen richtig zu deuten.
„Was den hohen Gelehrten des Collegium Carolinum vertraut sein mag, wird uns anderen jedoch eher unwichtig sein. Voilà, hier also das Ergebnis meiner letzten Experimente – ein Porzellan allerfeinster Güte, hergestellt aus Kaolin und Feldspat, so wie es an der Weser vorkommt und in der Manufaktur verarbeitet wird – angereichert mit meiner Mineralienmischung, gebrannt nach meinem verbesserten Verfahren, das selbstverständlich“ – damit verbeugte er sich tief vor von Langen – „auf dem von Euch entwickelten Brennverfahren basiert und von mir nur aufgrund neuester Erkenntnisse, langjähriger Studien und zahlreicher Experimente verbessert wurde. Diese erste Tasse weihe ich natürlich Euch, allergnädigste Durchlaucht, aber das zweite Stück würde ich gern, mit Eurer gütigen Erlaubnis, dem hochverehrten Meister von Langen überreichen.“
Mit diesen Worten umrundete der Graf den Tisch, verbeugte sich tief vor Herzog Carl Wilhelm Ferdinand und händigte ihm eine schneeweiße Porzellantasse aus. Einen Moment, in dem er zusah, wie der Herzog die Tasse prüfend gegen das Licht hielt und ein breites Lächeln seine Zufriedenheit ausdrückte, wartete er ab. Anschließend überreichte er dem greisen von Langen ein weiteres Exemplar.
„Erstaunlich, wirklich erstaunlich, und so zart wie ein Engelshaar“, nickte der alte Manufakturgründer, als er die Tasse dicht vor seine Augen hielt und dann bewundernd mit einer Hand über die Form strich. „Das ist die Qualität, wie man sie bislang nur aus Meißen kennt, Durchlaucht.“
„Ich bin überaus zufrieden, Graf, überaus. Mit dieser Probe habt Ihr meine Erwartungen bei Weitem übertroffen. Damit steht auch der Finanzierung Eurer Arbeiten nichts mehr im Wege. Im ersten Zuge werden wir Euch die fünfzigtausend Taler anweisen lassen, die wir im Falle unserer Zufriedenheit zugesichert haben. Nicht wahr, verehrter Kammerherr, es ist doch alles bereits vorbereitet?“
Mit diesen Worten hatte sich der Herzog zu seinem Kammerherrn umgedreht, der ebenfalls gerade einen Blick auf die Porzellantasse geworfen hatte.
Graf Florian von Osten-Waldeck warf einen raschen Blick zum Graf von St. Germain, dann antwortete er dem Herzog:
„Alles, wie Ihr es angeordnet habt, Durchlaucht. Der Graf kann in wenigen Tagen über diese Summe verfügen.“
„Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. Und wann könnt Ihr uns mit der ersten größeren Porzellanlieferung versehen, Graf?“
„Durchlaucht, Ihr seid überaus großzügig, es ist eine Freude, mit Euch Geschäfte zu machen. Ich erwarte schon in den nächsten Tagen eine größere Ladung Kaolin, die ich dann in meinem Labor aufbereiten werde. Danach wird das verbesserte Material nach Fürstenberg weitergehen und in die nächste Produktion kommen. Für die Überwachung des Brennprozesses werde ich mich persönlich in die Manufaktur begeben und nicht eher die Stätte verlassen, als bis eine fertige Produktion erfolgreich abgeschlossen ist.“
„So wollen wir es halten, mein Lieber. Wir erwarten dann die erste größere Lieferung zum Ende des Monats. Wir dürfen in keinem Fall den Termin der November-Messe verpassen, um entsprechende Verkäufe zu erzielen – das wird doch kein Problem werden, oder?“
Der Graf von St. Germain beeilte sich, mit einer weiteren Verbeugung, zu versichern:
„Alles, wie Durchlaucht befiehlt. Es wird mir geradezu eine Wonne sein, die erste Lieferung zur Braunschweiger Messe persönlich zu begleiten und mich vom guten Erfolg zu überzeugen.“
„Ausgezeichnet, lieber Graf, ausgezeichnet.“ Der Herzog war die verkörperte gute Laune in Person, als er sich jetzt an das versammelte Auditorium wandte.
„Meine Herren, überzeugen Sie sich von der Qualität dieser Arbeit und feiern Sie mit mir den Erfolg des Grafen, der einem Triumph der Wissenschaft nahe kommt. Die Zeiten, wo wir gegen Meißen einen schweren Stand hatten, gehören nunmehr der Vergangenheit an!“
Der Herzog klatschte in die Hände, und auf dieses Zeichen öffneten sich alle Türen zu dem großen Saal, und Diener eilten herbei, um den Gästen Gläser mit Champagner zu reichen.
In der allgemeinen Aufregung, die jetzt wieder zu lautstarker Unterhaltung bei den Anwesenden führte, nutzte Leutnant Oberbeck die Gelegenheit, sich wie unbeabsichtigt zum Grafen von St. Germain zu begeben. Der prominente Gast stand noch immer bei seinem Tisch und unterhielt sich mit mehreren Gelehrten des Collegium Carolinum. Der Offizier tat, als interessiere er sich für die aufgebauten Geräte, Töpfe und Brennformen.
Als er zu einem seltsamen Gerät griff, hörte er die Stimme des Grafen direkt neben sich.
„Bitte um absolut behutsame Behandlung, Herr Leutnant. Es wäre ein nicht abzusehender Schaden, wollte Euch dieses Mikroskop aus den Händen gleiten.“
„Ein Mikroskop? Wie überaus interessant!“, antwortete Oberbeck und stellte den Messingzylinder zurück auf den Tisch. „So hatte ich mir die Erfindung des Holländers gar nicht vorgestellt.“
„Ich bin überrascht, dass Ihr davon gehört habt. Als Soldat ist man ja nicht unbedingt der Wissenschaft verbunden. Umso mehr freut mich Euer Interesse, aber was Ihr hier seht, hat auch mit der Erfindung des Antoni van Leeuwenhoek nur entfernt noch etwas gemein. Auch wenn der gute Mann weit über fünfhunder Mikroskope baute, so waren sie doch nur sehr begrenzt verwendungsfähig. Nein, seine wie auch die Arbeiten seines Vorgängers Hans Lipperhey stammen aus dem vergangenen Jahrhundert und wurden inzwischen durch mich bedeutend verbessert. Schon Galileo Galilei hatte da hoch interessante Vorarbeiten geleistet, die mir bei meinen Studien sehr geholfen haben. Schaut einmal auf diesen Zylinder. Ich kann ihn mithilfe eines Zahnrädchens in der Höhe verändern und Dank der ausgezeichneten Arbeit einiger Linsenschleifer die verwendeten Linsen nicht nur miteinander kombinieren, sondern auch durch die Verwendung eines Objektträgers aus Glas die untersuchten Dinge besser durchleuchten – seht ihr – hier ist zudem noch ein kleiner Spiegel angebracht, und das zusammen ergibt ganz bedeutende Vergrößerungen, weit entfernt von den ersten Versuchen dieser Art.“
Der Graf von St. Germain hatte plötzlich seine stets distanzierte Haltung gegenüber dem Jägerleutnant aufgegeben und sich warm geredet. Vielleicht war er wirklich von dem Interesse des Leutnants überrascht, vielleicht wollte er ihn aber auch nur beeindrucken.
Leutnant Oberbeck hielt sein Auge über den Zylinder und richtete das Mikroskop so neben einem Kerzenleuchter aus, dass er genügend Licht hatte, um ein buntschillerndes Objekt zu betrachten, nachdem sich sein Auge an die ungewohnte Sichtweise gewöhnt hatte.
„Beeindruckend, Herr Graf, und was ist es, das ich dort sehen kann?“
Der Graf hatte sich aufgerichtet und sah den Leutnant in der gleichen, spöttischen Weise wie zuvor an.
„Das, Herr Leutnant, ist ein Stückchen Haut, menschlicher Haut, wohlgemerkt. Ich habe mein Mikroskop gerade Medicus Meibaum vorgestellt, um ihm zu beweisen, dass er für seine medizinischen Studien künftig nicht mehr ohne ein solches Gerät auskommen wird.“
„Menschliche Haut? Das interessiert mich natürlich sehr“, antwortete der Leutnant und warf einen zweiten Blick durch das Gerät. Wie beiläufig, und ohne den Grafen anzusehen, zog er ein kleines Stück Stein aus der Tasche seiner Kniebundhose und hielt es dem Graf auf der offenen Handfläche entgegen. „Kann man eine Probe davon auch untersuchen, oder könnt Ihr mir als Gelehrter schon so sagen, um was es sich hierbei handelt?“
Ohne zu zögern griff sein Gegenüber den weißen Stein, warf einen kurzen Blick darauf und reichte ihn dem Leutnant zurück.
„Bei diesem Stück handelt es sich ohne Frage um Kaolin, warum fragt Ihr danach? Was für eine Bewandtnis hat es damit, stammt es hier von meinem Tisch?“
Der Leutnant lächelte verschmitzt. „Kann man denn mithilfe des Mikroskops erkennen, vorher dieses Kaolin stammt? Ich meine, lässt sich damit sagen, ob es aus Meißen oder aus Fürstenberg stammt?“
„Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Eine Orts- oder Herkunftsbestimmung ist damit nicht möglich, aber warum wollt Ihr das wissen?“
„Rein wissenschaftliches Interesse, Herr Graf. Entschuldigt mich jetzt, mich ruft die Pflicht, und ich muss dringend in unsere Wachstube zurück. Wir haben noch zwei ungelöste Mordfälle.“
„Zwei Fälle?“, rief der Graf erschrocken aus. „Meiner Treu, Braunschweig scheint mir ein gefährliches Pflaster zu sein, Herr Leutnant. Sind Eure Männer denn nicht in der Lage, das Gesindel aus der Stadt herauszuhalten?“
„Das Gesindel?“, antwortete der Leutnant schon im Gehen mit einem merkwürdigen Blick auf den Grafen. „Es wäre einfach, wenn man es immer gleich erkennen könnte.“
Damit ließ er seinen Gesprächspartner stehen und eilte aus dem Saal zurück in die Wachstube der Jäger.