Читать книгу Fürchte die Dunkelheit - Peter Gerdes - Страница 11
6.
Оглавление»Knochen«, dozierte Doktor Mergner, »sind keineswegs stumme Zeugen. Sie können uns viel erzählen. Hören Sie doch bitte einmal aufmerksam zu.« Der kleine Mann mit der wirren Mähne und den flaschenbodendicken Brillengläsern wedelte mit zwei Knochen, dem Aussehen nach vom Unter- und Oberarm, schwang sie elegant wie ein Dirigent beim Auftakt und schlug sie leicht gegeneinander. Es klang hölzern, fast melodisch. »Hören Sie?« Er wiederholte den Vorgang, ein leicht verklärtes Lächeln im Gesicht. Klong. »Die Knochen sind weitgehend frei von Fett und Feuchtigkeit. Das lässt auf eine Liegedauer von zwanzig Jahren oder mehr schließen. Wäre dies nicht der Fall …«
»Es ist gut, Herr Doktor«, unterbrach Manninga. »Kommen Sie bitte gleich zu den Resultaten.«
Der Kriminaldirektor hatte sich seines Jacketts entledigt und die Ärmel seines weißen Oberhemds aufgekrempelt. Er und Stahnke bildeten gemeinsam mit Kramer, KK Rosenbohm, drei Steingesichtern vom LKA, deren Dienstränge außer Manninga niemand kannte, und vier weiteren Kolleginnen und Kollegen, abgestellt vom 2. Kommissariat, einen Halbkreis um die Plastikplanen, zwischen denen Mergner agierte wie auf einer Bühne. Einer mit einem ausgesprochen makabren Bühnenbild.
»Na schön.« Mergner sah etwas enttäuscht aus, musste jedoch akzeptieren, dass der Kriminaldirektor hier das Sagen hatte. Auch Stahnke war klar, dass Manninga einen Fall von diesem Ausmaß einfach an sich reißen musste. Sie alle konnten schon froh sein, dass ihnen das LKA nicht gleich die Zügel aus der Hand genommen hatte. Damit aber fiel ihm die ungewohnte Rolle eines Teamspielers zu, eine Rolle, an die er sich nach all den Jahren als tonangebender Kommissariatsleiter erst mühsam zurückerinnern musste.
»Wir haben hier vier Kinderleichen unterschiedlichen Alters, jedoch sämtlich jünger als dreizehn Jahre, und von ebenfalls stark unterschiedlicher Liegezeit. Das heißt, mit einer Ausnahme.« Mergner wies auf die beiden schwarzen Plastikplanen zu seiner Linken; auf einer davon lag auch der Schädel, den Stahnke selbst aus dem Boden geholt hatte. »Wie Sie sehen, haben wir es hier mit fast vollständig skelettierten Leichen zu tun. Die Knochen haben ihre Elfenbeinfarbe verloren und sehen eher rötlichbraun aus; zusammen mit dem relativ geringen Gewicht der Knochen und ihrem charakteristischen Klang lässt dies auf eine Liegezeit im Boden von mindestens zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Jahren schließen.« Mergner blinzelte zufrieden; jetzt hatte er sein Fachwissen doch noch an den Mann gebracht. »In beiden Fällen handelt es sich um Kinder weiblichen Geschlechts, erkennbar an den höheren, geraden Stirnpartien, den feinen Augenhöhlen und den Ansatzstellen der Nackenmuskulatur, die sich im Unterschied zu männlichen …«
»Reicht«, knurrte der Kriminaldirektor. »Weiter.«
»Das Alter beider Kinder beträgt im einen Fall zirka zehn, im anderen zirka elf Jahre«, fuhr Mergner fort. »Wir erkennen das am leicht unterschiedlichen Verknöcherungsgrad der Schädelnähte …«
»Es reicht!« Diesmal bellte Manninga. »Nur die Resultate, habe ich gesagt.«
»Beide Leichen wurden an unterschiedlichen Stellen des Gartengeländes hier gefunden.« Diesmal ließ sich Mergner nichts anmerken. »Die Liegezeit scheint jedoch annähernd die gleiche zu sein. Es darf also vermutet werden, dass beide Kinder etwa zur selben Zeit hier verscharrt wurden. Lange vor den beiden anderen.«
»Irgendwelche Fundstücke bei den Leichen?«, fragte Kramer.
»Nein«, sagte Mergner. »Dabei dürfen wir annehmen, dass auch nach dieser langen Zeit noch Gewebereste der Kleidung, auf jeden Fall aber Knöpfe, Gürtelschnallen oder ähnliches erhalten sein müssten. Die Kollegen sieben gerade alles noch einmal gründlich durch, aber bisher wurde nicht das Geringste gefunden. Also können wir davon ausgehen, dass die Leichen unbekleidet vergraben wurden.«
KK Rosenbohm sog die Luft so scharf durch die Nase, dass es zischte. Stahnke beobachtete sie aus den Augenwinkeln: Keine weitere Regung erkennbar. Allerhand, Hut ab. Er selbst war nicht sicher, ob man es ihm nicht vielleicht doch ansehen konnte, wie verstört er war, jahrzehntelanger Routine zum Trotz.
»Können Sie etwas zur Todesursache sagen?« Kramer blieb am Ball.
»Beide Schädel und sämtliche Knochen sind intakt«, sagte Mergner und hob die Schultern. »Natürlich werden wir alles noch genauestens auf eventuelle Geschoss- und Einstichspuren hin untersuchen. Im Moment aber kommt alles in Betracht, sogar natürliche Todesursachen.«
Da keine weiteren Fragen kamen, wandte sich der Arzt den beiden Planen zu seiner Rechten zu. Die kleinen Körper waren weit vollständiger erhalten. Man hatte sie abgedeckt, und Stahnke war dankbar dafür. Einen der beiden hatte er bereits gesehen, und er würde sich alle beide erneut ansehen müssen, in der Gerichtsmedizin, länger und genauer als ihm lieb war. Da war jede Pause wichtig.
»Leiche Nummer drei ist männlich, Alter etwa sechs Jahre. Liegezeit vermutlich um die fünf Jahre. Ebenfalls vollständig unbekleidet. Der Körper weist zahlreiche Wunden auf, überwiegend Stiche und Schnitte, aber auch Verbrennungen. Teilweise vernarbt. Dieses Kind ist über einen längeren Zeitraum schwer misshandelt worden.« Mergner machte eine kleine Pause, aber niemand fragte. Alle waren vollauf damit beschäftigt, ihren Atem zu kontrollieren. Dann fuhr er fort: »Todesursache ist Erwürgen.«
Stahnke versuchte sich Frerichs vorzustellen. Wie er aussah, wie er war. Was er dachte, was ihn bewegte. Er würde sich nachher bei der Vernehmung zusammenreißen müssen. Wir haben nicht zu hassen, rief er sich in Erinnerung, wir haben zu ermitteln und aufzuklären. Wir müssen uns beherrschen. Ob er das konnte, wenn es drauf ankam? Am besten, er nahm Kramer mit.
»Leiche Nummer vier ist weiblich, die Liegezeit beträgt nur sechs bis acht Wochen.« Alle starrten auf die Plane, die sich über der Unterlage wölbte. Eine sehr kleine Wölbung.
»Wie alt?«, hörte Stahnke sich fragen.
»Ein Neugeborenes«, sagte Mergner. »Die Todesursache ist auch hier eindeutig.« Er blickte blinzelnd in die Runde: »Der Kopf wurde mit einer scharfen Klinge vom Rumpf getrennt.«
Wieder zischte es in Stahnkes Ohren, aber diesmal war es nicht Maike Rosenbohms Atem, es war sein eigener. Ein Beben durchlief ihn vom Kopf bis zu den Fäusten.
Fäuste?
Manningas Hand lag auf seinem Oberarm, presste straff gespannte Muskeln. »Abregen, Stahnke«, murmelte der Kriminaldirektor. »Wir sind doch Profis. Ruhig bleiben. Wir haben den Kerl ja schon.«
Stahnkes Mund fühlte sich wie eine Höhle aus Pergamentpapier an, in der ein klebriger Klumpen Zunge sinnlos umherrollte. Er brachte kein artikuliertes Wort heraus.
»Sie bleiben hier, zusammen mit Kramer. Weitere Inaugenscheinnahme des Tatorts, Zeugeneinvernahme, Sie wissen ja. Ich fahre nach Leer und nehme mir mal den Frerichs vor.«
Mit Verspätung nahm Stahnke wahr, dass Manninga mit ihm gesprochen hatte. »Was?«, stieß er hervor. »Sie?«
Manninga war bereits außer Hörweite.
Wieder eine Hand auf seinem Arm. Leichter, wenn auch kaum weniger fest. Kramer? Nein.
»Ist doch besser so«, sagte Maike Rosenbohm leise. »Wir haben schließlich auch so genug zu tun. Außerdem wollten wir doch ins Krankenhaus, wissen Sie noch?«
»Ja«, sagte Stahnke und nickte langsam. »Stimmt. Ist besser so.«