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3.

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Wie ist es nur möglich, überlegte Stahnke, während er den Plattenweg abschritt, der rund um das Haus der Familie Frerichs führte. Da wohnt einer auf dem Land, nicht einmal im Dorf, sondern auch noch ganz am Rand, mitten in der Einöde, und was ist? Mehr Lärm als in der Großstadt. Während der wenigen Minuten seines Aufenthalts waren schon drei Sandlaster mit Hänger die Betonstraße entlanggerumpelt, die dicht an Frerichs’ Haus vorbei zu den Kiesgruben führte, zwei Züge waren auf der Strecke jenseits der benachbarten Felder unüberhörbar vorbeigerauscht, der eine Richtung Emden, der andere nach Leer, und jetzt dröhnte auch noch ein Propellerflugzeug über ihn hinweg, offenbar im Anflug auf den Flugplatz Nüttermoor. Vom beständigen, gleichförmigen Donnern des Verkehrs auf der Bundesstraße, hin und wieder zersägt vom Kreischen eines Zweitaktmotorrads, ganz zu schweigen. Was hier wohl erst im Herbst los war, zur Mäh- und Erntezeit? Schwärme von Fliegen ließen vermuten, dass auf den Feldern, an die das Grundstück grenzte, mit Gülle nicht gespart wurde. Oh nein, dachte Stahnke, dann schon lieber die Leeraner Altstadt mit all ihren lauten Festen, knatternden Teenie-Rollern und grölenden Betrunkenen.

Wie wohl das Ehepaar Frerichs, beide Ende vierzig und kinderlos, hier draußen seine Abende verbracht hatte? Gemeinsam saufend vor dem Fernseher? Eher nicht, schließlich wurden beide in mehreren Vereinen als Mitglieder geführt, nicht nur bei den Jägern und Schützen. Das hieß dann wohl öffentliches Trinken in trauter Gemeinschaft.

»Wo hat sie denn gelegen?«, fragte Stahnke, als er die Umrundung des Hauses abgeschlossen hatte und wieder an der großen überdachten Terrasse angekommen war.

»Dort«, sagte Kramer und zeigte auf eine schmale Tür, die offenbar in die Küche führte. »Sie muss von hier gekommen sein, denn an ihren Arbeitsschuhen war Gartenerde, im ganzen Haus aber nicht. Sie war wohl bei der Gartenarbeit und wollte schnell einen Schluck Tee trinken.«

»Worüber ihr Mann so erzürnt war, dass er sie unverzüglich erschoss«, ergänzte Stahnke. »Kramer, Kramer, wohin soll das noch führen mit Ihren vorschnellen Schlüssen.« Aus den Augenwinkeln heraus versuchte er auszumachen, ob seine Ironie Wirkung zeigte.

Der Oberkommissar reagierte nicht.

Wenn er jetzt doch lachen würde, dachte Stahnke. Oder sich verteidigen oder mich wüst beschimpfen, denn wenn hier einer zu vorschnellen Schlüssen neigt, dann ist das ganz gewiss nicht er. Aber nein, er sagt gar nichts, und jetzt stehe ich wieder da mit meiner blöden Bemerkung und meinem schlechten Gewissen. Warum macht er das bloß immer mit mir? Und warum kann ich denn nicht endlich mal die Schnauze halten, wenn mir so etwas in den Sinn kommt? Einen besseren Kollegen als Kramer könnte ich mir nicht wünschen, ein loyaleren auch nicht. Mehr als einmal hätte er mich schon in die Pfanne hauen können. Dann säße er vielleicht schon auf meinem Pos­ten. Also warum zum Teufel muss ich ihn andauernd pieken?

Maike Rosenbohm fiel ihm ein. Die hätte ihm Contra gegeben. So eine lässt sich nichts gefallen. Astreine Polizistin. Tolle Frau. Die würde ihren Weg machen.

Und wohin würde der sie führen? Zügig zum Hauptkommissar? Und auf seinen Posten?

Na, und wenn schon. Bis dahin war er sowieso schon pensioniert.

»Wo hat sie denn gegärtnert, die Frau Frerichs?«, fragte er. Suchend blickte er sich um; der Garten war groß, selbst für ländliche Verhältnisse, und durch mehrere hohe Hecken unterteilt. Vermutlich des Windes wegen, der hier ziemlich heftig übers platte Land wehte. Recht unübersichtliche Gartenanlage, fast schon ein grünes Labyrinth.

»Es gibt mehrere Stellen, an denen kürzlich gegraben wurde. Dort hinten unter den Rosenbüschen, rund um das Stallgebäude und dann noch vorne zwischen Rasen und Entwässerungsgraben.« Ja, das war Kramer: Korrekt, gründlich, unerschüttert. Tröstlich. Und zum Verzweifeln.

Den Stall mit seinen Klinkermauern und dem Satteldach hatte Stahnke erst für ein Nachbarhaus gehalten. Innen waren noch Schweinekoben und Rinderboxen erkennbar, Nutztiere aber wurden hier offensichtlich schon lange nicht mehr gehalten. Alles war sauber gestrichen, und an den Wänden waren Gartengeräte, Holzstapel, Plastikplanen und verschiedene Werkzeuge ordentlich aufgereiht. Frerichs arbeitete seit Jahren im Emder Volkswagenwerk, so wie viele andere Männer auch, die früher in der Landwirtschaft tätig gewesen waren.

Einige der Gartengeräte wiesen noch Spuren anhaftender Erde auf. Der Boden hier schien schwer zu sein, offenbar lehmhaltige Kleierde, obwohl Leer doch auf einem sandigen Geestrücken lag. Entweder verlief hier irgendwo die Grenze zum Marschland, oder aber der Kleiboden war nachträglich aufgebracht worden. Die meisten Erdspuren waren trocken und krümelig, nur die auf einem Spaten und einer Schaufel waren noch klebrig und hinterließen Schmierspuren an den Fingern des Hauptkommissars. Kleiboden trocknete eben selbst bei sommerlicher Hitze nur oberflächlich aus.

»Waren dies die Geräte, mit denen Frau Frerichs gestern gearbeitet hat?«, fragte Stahnke.

»Anzunehmen«, antwortete Kramer. »Draußen liegen jedenfalls keine mehr rum.«

»Also hat die Frau ihre Sachen ordentlich weggestellt. Demnach wollte sie die Gartenarbeit wohl für diesen Tag beenden.«

»Ja, sieht so aus.«

»Aber ihre Schuhe hat sie nicht ausgezogen«, sagte Stahnke. »Und auch nicht saubergemacht, richtig? So wie sie war, mit dicken Erdklumpen an den Sohlen, ist sie ins Haus gelaufen. Können Sie sich das von einer ostfriesischen Hausfrau vorstellen?«

Stumm schüttelte Kramer den Kopf.

Seite an Seite gingen die beiden Männer zurück zur überdachten Terrasse. Neben der Fußmatte, ordentlich ausgerichtet, stand dort ein Paar Slipper, Damenhausschuhe, eindeutig. Erdklümpchen auf der anderen Seite der Matte wiesen den Platz aus, wo die Arbeitsschuhe gewöhnlich abgestreift wurden. Das war gestern unterblieben. Warum?

»Vielleicht hat das Telefon geklingelt«, sagte Kramer.

»Möglich«, sagte Stahnke. »Das ließe sich sogar nachprüfen, die Tatzeit haben wir ja so ungefähr.« Aber wirklich überzeugt kam er sich selber nicht vor.

Behutsam den Trittsteinen folgend, schlenderte er zwischen den Rabatten entlang. Rosenbüsche, alle gleich hoch, alle blühend, allesamt rot. Dazwischen nackte graue Erde. Eintönig. Aber ordentlich, wie manche es mochten. Er nicht. Er liebte Gärten, wo die Stauden so wild und bunt und dicht neben- und durcheinander standen, dass sie sich gegenseitig in die Höhe und zu immer mehr Pracht trieben. Solch einen Garten würde Stahnke natürlich niemals im Griff behalten, das wuss­te er genau. Binnen weniger Monate würde daraus eine grüne Hölle entstehen. Deshalb war sein eigenes Gartenfleckchen eher kahl, genau genommen eine Mooswiese mit einem Baumstumpf in der Mitte. Ideal, um bei Sonne drauf zu sitzen und zu lesen. Trotzdem liebte er prallvolle Wuchergärten. Für ihn war das kein Widerspruch. Lieben hieß ja nicht unbedingt gleich besitzen wollen.

Dort war der Entwässerungsgraben, und hier, ebenfalls von mannshohen Buchsbaumhecken umsäumt, die dritte Stelle, an der Frau Frerichs geackert hatte, ein Rasenstück mit fast kahlen Blumenbeeten an zwei Seiten. Die Spuren ihrer Arbeit waren noch zu erkennen, auch wenn der Boden sorgfältig geglättet worden und die Erde inzwischen getrocknet war, so dass sie sich vom Boden rechts und links davon farblich nicht mehr unterschied.

Moment mal. Stahnke trat einen Schritt zurück und Kramer dabei fast auf den Fuß. »Sehen Sie das? Hier ist nur dieses Stück beackert worden, etwas mehr als einen Meter breit. Rechts und links davon nicht. Ist das nicht eigenartig?«

»Na ja, vielleicht ist sie gestört worden. Das Telefon …« Kramer zuckte die Achseln.

»Möglich. Aber warum fängt die Frerichs hier in der Mitte an? Das passt nicht zu einer ordentlichen Frau wie ihr, ebenso wenig wie mit Gartenschuhen ins Haus zu laufen.«

Sein Blick maß den Verlauf der bearbeiteten Stelle ab. Nach hinten reichte sie bis zur Hecke, die hier die Grundstücksgrenze markierte, möglicherweise sogar unter ihr hindurch. Und vorne bis zum Rasen. Oder nein. Stahnke hockte sich hin und fuhr mit der Hand durch die dichten gestutzten Halme. Da waren Erdkrümel. Kurz entschlossen fasste er zu und zog. Ein kurzer Widerstand, dann hielt er eine Grassode in der Hand, sauber viereckig ausgestochen.

»Hier wurde nicht gegärtnert«, sagte er, während er sich erhob und sich die Erde von den Händen klopfte, »hier wurde gegraben. Aus- oder eingegraben. Und anschließend säuberlich wieder abgedeckt.« Mit dem Handrücken wischte er sich die Stirn; bei dieser Hitze trieb ihm selbst eine geringe Anstrengung den Schweiß aus den Poren.

Kramer hatte sich hingekniet und peilte mit schief gelegtem Kopf über das Gras. »Das reicht etwa drei, vier Meter weit in den Rasen hinein«, sagte er. »Dann ist Schluss, dahinter ist alles unverändert. Jetzt, wo man’s weiß, kann man es deutlich sehen.« Keine Entschuldigung, einfach Fakt.

Dann fragte er: »Soll ich?«

Stahnke nickte und krempelte sich die Hemdsärmel hoch, während der Oberkommissar Richtung Stallgebäude sprintete. Als er kurz darauf zurückkehrte, trug er nicht nur Schaufel und Spaten in der Hand, sondern auch zwei Stück Plastikplane unterm Arm. »Für die Rasensoden und die ausgehobene Erde«, erläuterte er überflüssigerweise. »Frau Frerichs muss das ebenso gemacht haben.«

Stahnke griff nach der Schaufel. Während Kramer vom Blumenbeet her die Soden abhob und sie ordentlich so auf ein Stück Plane legte, dass man ihre Lage später rekons­truieren konnte, machte sich sein Vorgesetzter ans Graben. Schaufelblatttief hob er den Boden aus, über eine Länge von etwa zwei Metern, dann machte er kehrt und nahm sich die nächste Schicht vor. Die Erde war locker und fast frei von Steinen und Bauschutt, trotzdem war Stahnkes Hemd schon nach wenigen Minuten schweißnass. Seinem Bauch würde die Bewegung sicherlich gut tun. Allerdings spürte er dabei eher seinen Rücken.

Die ersten achtzig, neunzig Zentimeter in die Tiefe waren kein Problem. Dann wurde die Erde plötzlich fester. Der Hauptkommissar hielt inne und stützte sich auf den Schaufelstiel.

»Tiefer ist hier nicht gegraben worden«, sagte er. »Fast sicher. Jedenfalls nicht in letzter Zeit.«

»Also wurde hier eher etwas ausgegraben«, vermutete Kramer. »Etwas, das hier deponiert war. Ausgegraben und abtransportiert.«

»Dann hat wohl eher der Frerichs selbst hier gegraben«, sagte Stahnke; sein Atem ging keuchend. »Und seine Frau hat ihn dabei gestört. Überrascht. Ob er sie deshalb …?«

»Und was war es, das hier lag?«, fragte Kramer.

»Na, doch wohl das, woran Sie auch denken«, erwiderte Stahnke. »Illegale Waffen, oder nicht?«

Kramer nickte. »Würde ja zu dem passen, was Manninga uns da erzählt hat«, sagte er. »Für wen er die wohl versteckt hat? Russenmafia oder Neonazis? Bunkerware für irgendwelche Islamisten? Aber vielleicht hat er ja auch selber damit gehandelt.«

Stahnke war wieder zu Atem gekommen. »Erst einmal gu­cken, ob noch etwas von dem Zeug hier ist, ehe wir weiterspekulieren«, entschied er und stieg aus der Grube. Sie erinnerte an einen Graben, gut möglich, dass hier einmal längliche Waffenkisten gelegen hatten. Er wandte sich dem nächs­ten Abschnitt zu, dem, der zur Mitte des Rasenstücks wies, unmittelbar vor der unbeschädigten Grasnarbe.

Wieder flog die lockere Erde, floss der Schweiß in Strömen. Stahnke keuchte fast vom ersten Schaufelstich an. Keine Mütze, dachte er, ich habe nichts auf dem Kopf. Wenn hier nichts liegt, mache ich erst einmal Pause, sonst hole ich mir noch einen Sonnenstich.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Kramer versuchte, mit seinem Spaten vor der Hecke zu graben. »Das bringt nichts«, rief er ihm zu, ohne mit dem Schaufeln innezuhalten. »Spaten sind etwas zum Umgraben, nicht zum Löcher machen.« Das hatten sie ihm beim Gullysetzen im Tiefbau beigebracht, wo er als Jugendlicher gejobbt hatte, und er bildete sich eine Menge auf sein Wissen ein. »Lassen Sie das, Sie Kindskopf!« Mist, dachte er praktisch im selben Augenblick. Wieder mal zu weit gegangen.

Da stieß seine Schaufel auf Widerstand.

»Hier ist etwas«, sagte er und winkte Kramer herbei. Er war sich seiner Sache sicher. Das war kein Stein, bestimmt, der Ruck im Schaufelstiel und der Klang waren anders gewesen. Nicht so hart, nicht so hell. Dumpfer, wie Holz eben. Eine Kiste, voll mit Gewehren und Munition? Mit Schwung und voller Ungeduld stieß er das Schaufelblatt in den lockeren Boden und hebelte eine neue Ladung Erde heraus.

Da kam etwas mit.

Es war graubraun, nicht viel anders als die Erde drum herum, und doch heller. Kein Stein, bestimmt nicht. Steine mochten zwar gelegentlich so glatt sein, aber sie sahen nicht so aus. Und sie schauten einen auch nicht so an. Was konnte das sein?

Etwas vom Gewicht einer Baggerschaufel presste seinen Magen zusammen. Unter perlendem Schweiß fühlte sich seine Haut plötzlich eiskalt an.

»Ein Schädel«, sagte Kramer, seine Stoikermaske wieder vor dem Gesicht. Dann runzelte er die Stirn: »Ein kleiner Schädel.«

Stahnke hatte sofort erkannt, was er da auf seiner Schaufel hatte. Noch aber sträubte sich etwas in ihm, das Erkannte auch zu glauben. Vorsichtig legte er es auf die Plane, bettete es sanft in die weiche Erde, der er es gerade entrissen hatte. »Kindskopf«, murmelte er.

Fürchte die Dunkelheit

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