Читать книгу Entführung in eine bessere Zukunft - Peter Giesecke - Страница 6
ОглавлениеEr spürte ihren Blick für einen Moment, aber sie senkte ihn wieder und sah weiterhin zu Boden. Er hatte beim Frühstück ausführlich berichtet, was er herausgefunden hatte. Er hatte ihnen die Durchgangsstelle gezeigt und die Bedeutung der Stöcke als Wegweiser erläutert, nach dem fünften Stock befand sich der Draht, zwei Handbreit über dem Boden, aber im Gras kaum zu erkennen.
Er hatte vor, in der folgenden Nacht auch den zweiten Eingang auf dem gegenüberliegenden Durchlass zu kennzeichnen und anschließend die nähere Umgebung zu erkunden. Zu diesem Zweck ergänzte er seinen Vorrat an Stöcken und fertigte ein weiteres Seil aus Lianen, das er ebenfalls in Schlaufen legte. Ben und Kees boten sich an, ihn zu begleiten, aber er lehnte ab. Kees war zu alt für ein solches Vorhaben und Ben erschien ihm zu ungeduldig für eine Mission, die absolute Konzentration erforderte. Jörg bevorzugte, allein zu handeln, nur für sich verantwortlich zu sein und sich nur auf sich selbst zu konzentrieren. Sie verstanden dies, als er ihnen erklärte, mit welcher Vorsicht er jeden einzelnen Schritt vorbereitete, sie begannen, ihm zu vertrauen, er war in der Gruppe angekommen.
Kes instruierte ihn weiter. „Weißt du, unser größtes Problem ist natürlich die Ungewissheit über unsere Zukunft, aber gleich danach kommt die Langeweile. Es klingt in dieser Situation paradox, aber wir haben seit Wochen keine Abwechslung außer Kochen und das Haus sauber zu halten. Es gibt kein Licht, die Abende sind daher besonders lang. Wenn wir früh ins Bett gehen, wachen wir nachts auf und können nicht wieder einschlafen. Mit dir ist das ganz anders, und in gewisser Weise beneiden wir dich. Du bist tagsüber mit Vorbereitungen beschäftigt, die wir nicht verstehen, es scheint dich vollständig auszufüllen, und wenn du von deiner Erkundungstour zurückkommst, schläfst du wie ein Stein.“
Jörg war neugierig. „Habt ihr nicht versucht, den Tag und den Abend zu strukturieren?“
Kes antwortete. „Das haben wir tatsächlich. Ich habe zum Beispiel vorgeschlagen, dass wir uns gegenseitig unterrichten. Praktisch jeder von uns hat ein Talent, eine Fähigkeit oder ein Wissen, über das die anderen nicht verfügen. Die letzten beiden Tage haben wir es schleifen lassen, du warst interessanter.“
Jörg war neugierig. „Welche Aktivitäten habt ihr gefunden und wie habt ihr es organisiert?“
Kes zählte auf. „Es ist ein interessantes Spektrum, Ben zum Beispiel ist ein hervorragender Jongleur, wir haben aus unseren Essensvorräten Äpfel entnommen und tragen nun Wettkämpfe aus, wer am längsten zwei Äpfel in Bewegung halten kann, wir gehen inzwischen sogar auf drei über. Ben hat uns erklärt, wie durch diese Tätigkeit völlig neue Verknüpfungen im Gehirn entstehen, er ist wirklich ein toller Motivator. Sue führt uns in den achtfachen Weg des Buddha ein. Sie ist überzeugte Buddhistin und hat auf diesem Gebiet ein fundiertes Wissen.“
Jörg war begeistert. „Wahnsinn, ich versuche mich auch auf diesem Wege.“
Kes war interessiert. „Du willst Buddhist werden?“
Bernd dachte nach. „Das weiß ich eigentlich gar nicht, ich habe die Art kennengelernt, wie die Mönche leben. Ich liebe ihre ruhige Art, ich meditiere mit ihnen, aber ich könnte auf keinen Fall längere Zeit so leben. Immerhin gibt es mir so etwas wie einen Ersatz für meinen verlorengegangenen Glauben an Gott.“
Kes fragte bedauernd. „Du glaubst nicht an Gott?“
Jörg konterte. „Tust du es?“
Kes antwortete nur zögernd. „Ich weiß nicht, die Schilderungen in der Bibel halte ich für erfundene Geschichten, die wohl irgendeinen wahren Kern haben. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass Jesus wirklich gelebt hat, aber ich stelle ihn mehr als eine Art Che Guevara vor, der die Welt verändern wollte und sich damit den Unwillen der herrschenden Klasse zuzog. Die angeblichen Wunder können auch tatsächlich einen logischen Kern haben, vielleicht haben ja die Fischer auf dem See Genezareth eine Luftspiegelung gesehen, als Jesus über das Wasser lief. Auch seine Auferstehung halte ich für möglich, vielleicht war er nicht ganz tot und seine Jünger haben ihn im Grab gesund gepflegt, als er dann entkommen ist, erschien die wie eine Himmelfahrt.“
Jörg unterbrach ihn: „Es gibt tatsächlich gewisse Hinweise darauf, dass er bis Indien gekommen und dort gestorben sein soll. Ich selbst kann natürlich nicht ausschließen, dass es wirklich eine Art Gott gibt, aber wenn er existiert, dann sicherlich nicht mit den Attributen, die ihm zugesprochen werden, das wäre unlogisch.“
Kes folgerte. „Du bist offenbar ein großer Logiker, der jedes Problem zerpflückt, bis nichts mehr übrigbleibt.“
Jörg bestätigte. „Wenn du es so nennen willst. Was ich meine ist, dass ein Gott, der uns geschaffen haben will, solche grausamen Dinge zulässt, wie sie Tag für Tag und Jahrhundert für Jahrhundert passieren. Man sagt, er sei allmächtig, warum verhindert er es nicht? Er will am jüngsten Tag über uns richten und die Bösen bestrafen, lächerlich. Er selbst wäre der Schöpfer dieser Bösen. Er müsste selbst in die Hölle. Ich habe mit Theologen über diesen Widerspruch gesprochen und sie sind mir entweder ausgewichen, glauben heißt einfach glauben, oder sie haben mit dem freien Willen argumentiert, nicht Gott, sondern der Einzelne selbst entscheidet, ob er böse oder gut ist.“
Kes bestätigte. „Klingt doch plausibel.“
Jörg widersprach. „Überhaupt nicht, warum hat er Menschen erschaffen, denen er über den freien Willen die Möglichkeit zu dieser Entscheidung gibt. Und haben wir überhaupt einen freien Willen. Oder stimmt die These von Descartes vielleicht doch, dass der Ablauf des ganzen Geschehens abläuft wie ein Billardspiel, jeder Stoß hat eine bestimmte Richtung und eine bestimmte Geschwindigkeit, aus diesen beiden Werten lässt sich mit absoluter Präzision der weitere Verlauf der Kugeln bestimmen, dazu genügen die Anwendung ganz einfacher Rechenvorschriften aus der technischen Mechanik. Dies würde bedeuten, dass bereits seit dem Urknall alle Abläufe absolut unverrückbar festgelegt sind, ein beklemmender Gedanke, und für Gott bleibt überhaupt kein Spielraum mehr.“
Kes wurde sehr nachdenklich. „Ich bin zwar kein Physiker, aber kommt da nicht die Quantenmechanik zu ganz anderen Ergebnissen?“
Jörg dachte nach. „Ja, aber was ist die Wahrheit?“
Kes hatte eine Idee. „Das ist eine gute Gelegenheit für unsere Freizeitgestaltung. Du kennst die Methode der Dialektik?“
Jörg bestätigte. „Vage, in meinem Job habe ich es mehr mit der Eristik zu tun.“
Kes blickte fragend. „Wie geht die denn?“
Jörg erklärte. „Das ist ebenfalls eine Diskussionsmethode, allerdings nicht mit dem Ziel die Wahrheit zu finden, sondern mit dem Ziel, die eigene Meinung durchzusetzen, unabhängig davon, ob sie die richtige ist.“
Kes zweifelte. „Und das ist eine Wissenschaft?“
Jörg bestätigte. „In der Tat, sie geht auf die Zeit des Perikles im alten Griechenland zurück. Damals war es eine Art Volkssport, Mitbürger wegen irgendwelchen erfundenen oder tatsächlichen Delikte anzuzeigen. Da die Institution des Verteidigers damals noch nicht erfunden war, war es lebensnotwendig, sich für die Selbstverteidigung schulen zu lassen. Diese Aufgabe übernahmen die sogenannten Sophisten, die sich ihre Lehre gut bezahlen ließen. Der bekannteste war übrigens ein Herr namens Protagoras, ein Meister in der Anwendung spitzfindiger Argumente. Bei ihm meldete sich eines Tages ein Schüler mit einem überraschenden Angebot. ‚Ich zahle dir das Doppelte des üblichen Honorars, sobald ich meinen ersten Prozess gewinne.‘ Protagoras war einverstanden. Nachdem ein Jahr verstrichen war, wurde er ungeduldig und klagte auf Zahlung seines Honorars.“
Kes musste lachen. „Lass mich raten: egal, wie der Prozess ausging, der Schüler kam um die Bezahlung herum.“
Jörg bestätigte. „Richtig, die Methode der Dialektik ist da bestimmt ehrlicher.“
Kes führte aus. „Sie funktioniert nach einem sehr einfachen Prinzip. Jemand formuliert eine These, beispielsweise die Definition: Gerechtigkeit ist, wenn alle gleichbehandelt werden. Die führt dann zur Antithese: Es kann nicht gerecht sein, wenn ein Verbrecher und ein guter Mensch gleichbehandelt werden. Die Antithese ist einsichtig und erfordert eine Modifizierung zur sogenannten Synthese: Gerechtigkeit ist, wenn jeder gemäß seinem Beitrag zur Allgemeinheit behandelt wird. Dies könnte dann zur nächsten Antithese führen, dass Kranke oft nicht in der Lage sind, ihren vollen Beitrag zu leisten, und so fort. Wenn sich dann im Laufe der weiteren Diskussion keine weiteren Einwände ergeben, kann man annehmen, der Wahrheit recht nahe gekommen zu sein.“
Jörg war beeindruckt. „Eine tolle Methode, vielleicht sollten wir sie mal darauf anwenden, die Wahrheit über unsere Situation herauszufinden.“
Kes stimmte zu. „Keine schlechte Idee, aber dazu bräuchten wir noch mehr Informationen.“
Jörg hatte das Bedürfnis, seine Einstellung zu Gott mit einem anschaulichen Beispiel zu demonstrieren. „Ich habe übrigens einen Lehrauftrag an der TU Darmstadt, um dort praktisches Wissen über die Anwendung technischer Lehrinhalte zu geben. Meine Studenten sind angehende Mechatronik Ingenieure und ich habe für sie einen Lehrsatz formuliert: ‚Wenn du einen Roboter mit künstlicher Intelligenz programmierst, stelle sicher, dass er später stolz auf dich ist.‘“
Kes musste lachen. „Klingt wie ein höchst intelligenter Witz.“
Jörg bestätigte. „Das soll auch so sein, aber dennoch mit einem ernsten Hintergrund. Ich möchte meinen Studenten klarmachen, welche Verantwortung sie mit der Programmierung übernehmen, schließlich erheben sie sich damit selbst zum Schöpfer.“
Sie merkten plötzlich, dass Sue und Ben ihrem Gespräch aufmerksam gefolgt waren, Pierre saß wie meistens abseits und schien gelangweilt. Es war Sue, die das Wort ergriff. Alle waren freudig überrascht, sie schien zumindest wieder für einen Moment ins Leben zurückzufinden. Ihre Stimme klang aufgeregt, sie war aufmerksam und hoffnungsvoll zugleich.
„Ich möchte unbedingt mehr darüber wissen, wie Menschen der westlichen Kultur den Buddhismus erleben, was sie empfinden, was ihnen fremd bleibt, was ihr Denken und Verhalten ändert. Bitte, ich bitte dich.“
Jörg fühlte ein angenehmes Gefühl der Wärme in sich aufsteigen. Wie konnte es sein, dass dieses herrliche zerbrechliche Wesen genau die gleichen Fragen stellte, die er mit seinem Freund im Tempel diskutieren wollte. Er hätte sie am liebsten in die Arme genommen, nur so, nichts mehr, nur ihre Wärme spürend. War da mehr in ihm als nur Interesse am Buddhismus? Die Drei schauten ihn erwartungsvoll an. Er zögerte, er wollte sie nicht durch zu viel Nähe erschrecken und wandte sich deshalb an alle drei.
„Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass man solche Fragen nicht mit einigen Sätzen beantworten kann. Ich betrachte den Buddhismus nicht als Religion, sondern als Philosophie. Religionen erschaffen einen Gott, der ihnen dazu dient, die Menschen zu manipulieren, sie zu unterdrücken und auszubeuten, sie morden zu lassen, in seinem Namen. In seinem Namen! Mit dem Versprechen, dafür im Jenseits zig Jungfrauen schwängern zu dürfen. Und die sogenannten Gläubigen glauben diesen Scheiß. Entschuldige, Sue.“
Sie nickte nur, blickte ihn weiterhin erwartungsvoll an.
„Der Buddhismus versucht, die Welt zu verstehen und zu erklären, wie die Welt wirklich ist. In seiner reinen Form dient er nicht der Unterdrückung, sondern zeigt Wege auf, die auf der Erde zu einem besseren Leben und später zu einem friedlichen Abschluss führen. Dies ist ein Ansatz, der in völligem Gegensatz zu den drei monotheistischen Religionen steht, es ist der Gegensatz zwischen Wissen und Glauben. Auch in unserer Kultur gab und gibt es Denker, die die Welt erkennen wollen, wie sie wirklich ist. Die meisten davon finden wir im antiken Griechenland, ich habe mich mit ihren Gedanken eingehend beschäftigt und war immer wieder fasziniert.“
Inzwischen hatte sich auch Pierre zu ihnen gesellt, er schien wie immer gelangweilt, konnte sich eine Bemerkung allerdings nicht verkneifen. „Aber heute wissen wir doch, das war alles Quatsch.“
Die anderen erschraken, sie hatten Angst, die Stimmung könnte kippen und Sue wieder in ihre alte Lethargie verfallen. Jörg war ebenfalls verärgert, ließ sich aber nichts anmerken, wer auf Aggression mit Aggression reagiert, lässt sich die Spielregeln des Aggressors aufdrängen, keine gute Methode.
„Ich verstehe, was du meinst, tatsächlich ist vieles durch die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften überholt, aber um die Leistung dieser Denker zu begreifen, müssen wir uns in ihre Zeit versetzen. Die Beschreibung des kleinsten nicht mehr teilbaren Teilchens, das Demokrit Atom nannte, war eine großartige Leistung. Auch wenn wir heute wissen, dass sich auch Atome weiter zerlegen lassen, und dass selbst Elektronen nicht die kleinsten Teilchen sind, bleibt die Kernaussage dennoch gültig, irgendwann stoßen wir auf etwas, dass das wirklich Kleinste ist, seien es Quarks oder was auch immer.“
Sue konnte es kaum abwarten. „Du hast es genau so beschrieben, wie wir es von einem Menschen deiner Kultur erwarten würden, und im Wesentlichen stimme ich dir zu. Ich bin unheimlich neugierig, mehr über eure alten Denker zu erfahren, und am erstaunlichsten finde ich, dass sie sich solche Fragen überhaupt stellten.“
Jörg stimmte ihr dankbar zu. „Du hast den Punkt erfasst, das Stellen von Fragen ist das wesentlichste Merkmal der Philosophie, die Antworten rangieren erst an zweiter Stelle.“
Dieser Punkt verwirrte Sue etwas, offenbar waren für sie Antworten wichtiger. Sie verfiel in Nachdenken, aber ihre Körpersprache verriet, jetzt waren es positive Gedanken.
Schließlich brach Kes wieder das Schweigen. „Ich denke, wir haben in dir etwas gefunden, das unser Strukturprogramm ungemein anreichern wird.“
Sue nickte stumm. Ihre Augen glänzten. War da ein Lächeln? Sie sahen sich an, zufrieden und entspannt. Für eine Stunde hatten sie ihre Situation vollständig vergessen, waren eingetaucht in eine andere Welt.
Jörg riss sich mit Gewalt wieder in die Wirklichkeit zurück. Heute Nacht wollte er das Camp seitwärts verlassen und eine größere Strecke zurücklegen. Er wollte wissen, wie weit sich die Insel nach Südosten erstreckte, auch wenn er die Küste nicht erreichen würde, gäbe seine Exkursion doch zumindest eine untere Grenze der Ausdehnung. Sein einziges Problem war die Orientierung, er brauchte eine Methode, wieder zurückzufinden. Die Angst, entdeckt zu werden, war praktisch Null, dafür war die Insel einfach zu groß.
Und da war noch etwas, er glaubte mit ziemlicher Sicherheit, den Zweck ihrer Mission zu kennen, und für die Organisation hinter dieser Mission gab es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Es war völlig egal, welche der beiden wirklich verantwortlich war, die Konsequenzen waren sowieso die gleichen. Aber er war auch sicher, selbst wenn sie ihn erwischen würden, würden sie ihn nicht töten, er war für ihre Mission unentbehrlich. Er rechnete schlimmstenfalls mit Schlägen oder einer Scheinhinrichtung. Er hatte beschlossen, seinen Gefährten nichts von seinen mehr als begründeten Verdacht zu sagen, es war einfach zu furchtbar um sie zu beunruhigen, dabei dachte er vor allem an Sue. Er dachte immer öfter an sie.