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Bremen, Montag 09. Februar 2009, 07.50 Uhr
ОглавлениеSebastian Rotberg, Erster Kriminalhauptkommissar aus der Polizeizentrale Bremen Vahr, war von der Notrufzentrale benachrichtigt worden. Rotberg deutete seiner Kollegin Sabrina Hamm mit einer Geste an, dass sie ihn begleiten solle. Während beide zu dem Einsatzwagen eilten, zogen Sie Ihre Jacken an.
„Was ist passiert?“, wollte sie wissen.
„Es gab eine Gasexplosion in einem Kindergarten im Erdbeerweg. Weißt du, wo der ist?“
Sabrina Hamm zuckte die Schultern. Im Auto angekommen fragten sie über Funk nach dem Weg.
Rotberg und Sabrina Hamm arbeiteten seit zwei Jahren zusammen. In den ersten Monaten hatte Rotberg Probleme damit, dass man seiner Abteilung noch eine Frau zugeteilt hatte. Er hatte gehofft, einen männlichen Mitarbeiter zu bekommen. Immer wieder versuchte er, sie bei der Verteilung wichtiger Aufgaben zu übergehen und ihr untergeordnete Arbeiten zu übertragen. Es hatte ihn insgeheim geärgert, dass sie keine Fehler machte und alles ohne Murren über sich ergehen ließ.
Die Kollegen sprachen ihn nach einigen Wochen an, dass er die feinen Spitzen ihr gegenüber lassen solle, das würde nur Ärger geben. Rotberg zürnte mit sich selbst, dass er sich anstellte wie ein Trottel. Jeder hatte es bemerkt.
Eines Abends klopfte sie an den Türrahmen von Rotbergs Büro, das die meistens offen stand. Er schaute auf.
„Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?“, fragte Sabrina Hamm vorsichtig.
Jetzt bloß nichts anmerken lassen und keine Macho-Allüren, dachte er und sah sie über die Lesebrille hinweg an.
„Ich wollte gern mit Ihnen sprechen“, sagte sie. Rotberg deutete mit einer jovialen Geste auf einen der beiden Stühle, die am kreisförmigen Teil des Schreibtisches standen. Er war bei der Arbeit sehr genau, sah man jedoch den Arbeitsplatz an, konnte man leicht den gegenteiligen Eindruck gewinnen. Er rollte mit dem Sessel an den Besprechungstisch und legte die Aktenstapel auf den Boden, die sich vor Sabrina Hamm auftürmten.
„Was kann ich für Sie tun, Frau Hamm?“
Jeden in der Abteilung redete er mit dem Vornamen an, alle duzten einander – sie sprach er weiterhin mit Frau Hamm an. Kein Wunder, dass es auffiel, dass er Probleme mit ihr hatte.
Sie sah einige Augenblicke auf einen unbestimmten Punkt auf dem Tisch. Sie wirkte nervös, das nahm er wahr. Er merkte einem Gegenüber alles an. Ihn zu belügen war ausgeschlossen. Deshalb ahnte er, was gleich zur Sprache kommen würde.
„Herr Rotberg“, sie suchte nach den passenden Worten, „Sie trauen mir wenig zu, oder?“
„Wie kommen Sie den darauf?“ Ihm wurde unbehaglich.
Jetzt nur nicht unsicher oder rot werden. Früher errötete er leicht, das hatte im Laufe der Jahre mehr und mehr nachgelassen.
„Verstehen Sie mich bitte richtig, ich tue meine Arbeit im Team ausgesprochen gern. Ich versuche alles gründlich und schnell zu erledigen. Ich hoffe, Ihnen ist das nicht entgangen.“
„Nein, natürlich nicht.“
“Die Aufgaben im Innendienst sind sehr interessant – die Routinearbeiten eher eintönig. Jeder in der Abteilung erledigt solche Dinge. Ich bin leider diejenige, die nie draußen ist – an den Tatorten.“
Sie strich mit Daumen und Zeigefinger zweimal über den Naserücken. Das tat sie immer, wenn sie unsicher war. Sie hatte diese Geste bei vielen Menschen beobachtet. Andere rieben sich ein Auge.
Rotberg rieb sich ein Auge und starrte ins Leere. Er hatte sie von Anfang an gemocht. Schon bei der Auswahl der Kandidaten auf die Stelle war sie ihm sofort aufgefallen. Sie war nicht schön im eigentlichen Sinn. Die klugen, dunklen Augen, ihre etwas zu große Nase, der geschwungene Mund, ihr kurz geschnittenes, schwarzbraunes Haar ihre sportliche Figur entsprachen eigentlich nicht dem, was ihm an Frauen gefiel. Und doch faszinierte sie ihn vom ersten Moment an. Sie hatte Vorfahren aus dem arabischen Raum. Konnte Hamm ein Name von dort sein? Er hatte keine Ahnung. Sollte er danach fragen? Nein, das würde wie ein Vorbehalt wirken. Später erfuhr er, dass die Mutter einen Mann aus dem Iran geheiratet hatte. Nach der Scheidung hatte sie dafür gesorgt, dass die Tochter ihren deutschen Mädchennamen erhielt.
Er hatte schon im Bewerbungsgespräch gespürt, dass Sabrina Hamm für ihn mehr Bedeutung bekommen könnte. Weil er kein Argument gegen die Einstellung in sein Team fand, gab er sich jovial und enthielt sich der Stimme. Natürlich sprangen alle jungen Kollegen sofort auf sie an. Es störte ihn – und er ärgerte sich darüber, dass es ihn störte. Deshalb hatte er ständig versucht räumlichen Abstand zu ihr zu halten.
Jetzt, da sie ihm gegenübersaß, spürte er, wie seine Burgmauern Risse bekamen. Er mochte sie – er hatte sie vom ersten Moment an gemocht.
„Sie liegen vollkommen richtig, Sie wurden zu wenig berücksichtigt. Ich war der Auffassung, dass ich Sie am Anfang vor der Wirklichkeit schützen sollte“, log er, „möglicherweise habe ich übertrieben.“
Sabrina Hamm war damals von dem plötzlich veränderten Ton und dem milden Verhalten verdutzt. Skeptisch sah sie ihn an. Er bemerkte das. Dachte sie womöglich, dass er die späte Stunde zu zweit ausnutzen wolle? Bloß das nicht.
Rotberg hatte für jede Situation, die ihm über den Kopf zu wachsen drohte, dieselbe Strategie. Er stellte Fragen. Nach der Familie und Interessen, nach Reisen und Hobbys. Dahinter verbarg er Schüchternheit. Er konnte verebbende Gespräche beleben und manche unangenehme Stille füllen. Menschen sprachen gern von sich. Dass diese Strategie perfekt zu dem Beruf des Kriminalpolizisten passte, war ein Glücksfall.
An jenem Abend lernte er viel über sie. Auch sie stellte ihm persönliche Fragen. Sie unterhielten sich lange, sie lachten und hörten interessiert zu. Er erfuhr, dass Sabrina Hamm eine lose Beziehung mit einem deutsch-türkischen Mann hatte. Die Verbindung sei nicht besonders tief, weil er ihr als Lebenspartner zu dominant sei. Es gab ihm einen Stich.
Er erzählte von seiner Frau und den bereits erwachsenen Kindern. Dabei wurde ihm bewusst, dass er dem Alter nach ihr Vater sein konnte.
Rotberg hatte einige Wochen gebraucht, die schöne Phantasie einer späten Liebschaft loszulassen. Er hatte sie beobachtet, wie sie auf Männer wirkte und es verstand, diese Wirkung einzusetzen. Sie achtete ihn aufrichtig. Ihr Bild von einem Mann an ihrer Seite sah völlig anderes aus. Rotberg spürte genau, wen sie schätzte, welche Menschen ihr nicht gefielen und welcher Typ Mann sie faszinierte. Sabrina Hamms Gegenwart belebte ihn und blieb immer ein wenig prickelnd.
Jetzt saßen sie im Wagen, sie bugsierte ihn durch die verschiedenen Stadtteile Bremens bis zu dem betroffenen Kindergarten.
Rotberg musste das Auto abseits abstellen. Er konnte nicht näher heranfahren, weil die Straße mit Trümmerteilen übersät war. Die Lüftung des Autos sog Rauchgeruch ins Wageninnere. Beide blieben einen Moment im Fahrzeug sitzen und ließen schweigend die bizarre Szene wirken. Menschen, die scheinbar ziellos umherliefen, Weinen, Schmerzlaute. Sie sahen den routinierten Tätigkeiten der Feuerwehr zu. Rund um das zerstörte Gebäude standen Krankenwagen und Notarztfahrzeuge. Es kamen laufend neue.
Die Polizei versuchte die Nachbarn, die zuerst geholfen hatten, mit diplomatischem Geschick von der Unglücksstelle fortzuschicken.
Sabrina Hamm holte tief Luft und fragte mit zugeschnürter Kehle: „Wollen wir?“ Ihr ging es nicht gut.
„Wir stehen hier mehr im Wege, als nützlich zu sein. Aber, wir müssen wohl!“
Auch Rotberg war mulmig zumute. In den langen Jahren der Berufstätigkeit betrat er viele Unglücksstellen. Zu Beginn der Laufbahn bei der Bereitschaftspolizei und später bei der Kriminalpolizei.
Er hatte verletzte und schockierte Menschen erlebt, hatte Bewusstlose und Tote gesehen. Nach solchen Unglücken haftete der Geruch von Bränden, von verbranntem Fleisch und Blut in seiner Nase. Er hatte nächtelang wach gelegen und die verzweifelten Leute, die nach Angehörigen fragten, vor dem inneren Auge gesehen. Am Anfang richteten ihn die erfahrenen Kollegen auf. Manchmal trank er des Nachts zwei oder drei Schnäpse, damit er wieder einschlafen konnte. Ab und zu hatte es geholfen.
Am meisten hatte ihm zu schaffen gemacht, wenn er unvermittelt vor einem Toten oder Schwerstverletzten stand. Beim Öffnen einer Tür, beim Hochheben eines Trümmerteils oder Durchsuchen eines Gebüsches. Dann fuhr ihm der Schreck direkt in den Magen, das ein oder andere Mal so heftig, dass er sich übergeben musste. Dafür hatte er sich geschämt. Trotz der Zusicherung einiger Kollegen, dass man sich dafür nicht schämen müsse, spürte er genau, dass es unter ihnen genügend Männer gab, die ihn für zu weich hielten. Später bei der Kriminalpolizei vermied er es, an solchen Plätzen voreilig jedes Stück Holz anzuheben. Das überließ er den Leuten von der Spurensicherung oder der Bereitschaftspolizei.
Je dichter sie dem zerstörten Gebäude kamen, desto schwieriger wurde das Gehen und umso intensiver waren die Eindrücke. Es gab kleine Ecken, in denen es brannte oder gebrannt hatte. Die Feuerwehr, die zuerst vor Ort war, hatte bereits die stärksten Brände gelöscht. Auf den Trümmern riefen erwachsene Personen verzweifelt Namen: Levi, Marie, Isabella, Oskar. Vermutlich Kindernamen. Er dachte an die eigene Enkeltochter Ella. Er hatte gestaunt, dass ein Kind von heute einen so traditionellen Namen trug. Ella hießen für ihn ältere Damen.
Rotberg bat Sabrina Hamm, die Forensik anzurufen. Im Augenblick beschäftigte sich die Feuerwehr noch mit der Bergung. Sie würden ihre Experten auch bald vor Ort haben, um nach den Ursachen zu forschen. Während sie telefonierte, bedeutete er ihr, dass er zu dem Feuerwehrmann gehe. Dessen Gesicht erkannte er gleich, er hatte aber vergessen, wie er hieß.
Der begrüßte ihn mit einem festen Händedruck: „Moin, Herr Rotberg!“
Mist, der Mann erinnerte sich an ihn – er musste fragen. „Tut mir leid, mir fällt nicht mehr ein, wie Sie heißen. Es ist schon ein Jahr her, oder?“
„Timm, Günter Timm!“
„Klar, richtig. Herr Timm“, sagte er, als sei es ihm gerade erst entfallen. „Sind Ihre Brandermittler bereits hier?“
„Nein“, wehrte der Feuerwehrmann ab, „wir suchen und bergen ja noch. Es sollten jetzt bald Spürhunde eintreffen. Vermutlich gibt es einige verschüttete Personen.“
„Wissen Sie, ob es Tote gab?“
„Ja, wie viele kann ich im Moment nicht sagen und natürlich auch nicht, ob Menschen vermisst werden.“
„Gab es Kinder unter den Opfern?“
„Ja“, antwortete Timm knapp. „Leider.“
Sabrina Hamm trat zu ihnen. „Die Spurensicherung ist unterwegs“, sagte Sie an Rotberg gewandt. Sie gab dem Feuerwehrmann die Hand: „Herr Timm, oder?“
Der nickte.
„Sabrina“, bat Rotberg, „sei so gut, sorge dafür, dass alle Toten in die Gerichtsmedizin gebracht werden.“
„Ist veranlasst – es sind Fahrzeuge auf dem Weg.“
Rotberg fragte Timm, ob er eine Idee habe, was geschehen sein konnte.
„Möglicherweise eine Gasexplosion“, antwortete der, „wir haben bisher keine Pläne des Kindergartens eingesehen. Die Leiterin hat uns gezeigt, wo die Küche stand und wo die Heizanlage. Es wurde mit Gas gekocht und geheizt. Der Haupthahn ins Gebäude wurde von unseren Männern freigelegt. Gott sei Dank ist er funktionsfähig. Die Stadtwerke sind verständigt – ein Trupp sollte unterwegs sein, um die Hauptleitung zu schließen.“
„Wir wollen die Kindergartenleitung sprechen, wissen Sie, wo sie ist?“
Timm schüttelte den Kopf: „Sie ist ins Krankenhaus gebracht worden – sie war äußerlich nicht verletzt, hatte aber einen Zusammenbruch, nachdem sie begriff, was geschehen war.“
Rotberg, Sabrina Hamm, Timm und der stellvertretende Einsatzleiter der Feuerwehr besprachen das gemeinsame Vorgehen. Es wurden weitere Kollegen der Kriminalpolizei angefordert. Beamte in Uniform und in Zivil sprachen mit den umstehenden Menschen. Sie nahmen Personalien von denen auf, die im Moment nicht in der Lage waren zu sprechen. Erstarrt schauten die Augenzeugen, wenn ein Sarg an ihnen vorbeigetragen wurde. Sie versuchten einen Blick auf die zu werfen, die verletzt in einen Krankentransporter getragen wurden.
Die Eltern, die ihr Kind noch nicht gefunden hatten, probierten immer wieder in die Ruinenlandschaft zu gelangen. Polizei, Feuerwehr und die mittlerweile eingetroffenen Krisenhelfer bemühten sich Väter, Mütter und Großeltern fernzuhalten. Niemand wollte riskieren, dass ein Angehöriger sein schwerverletztes oder gar totes Kind in den Trümmern entdeckte.
Innerhalb einer Stunde war die Szene mit unzähligen Helfern gefüllt. Die ersten Suchhunde trafen ein und machten sich sofort an die Arbeit. Feuerwehr und Technisches Hilfswerk hatten schweres Gerät herangeschafft. Von den Rändern der Unglücksstelle her, versuchte man größere Gesteinsbrocken beiseitezuschaffen. Dort, wo ein Hund anschlug, wurden mit einem Schwerlastkran aus sicherer Entfernung Steine angehoben.
„Es muss jemand mit den Journalisten reden“, meinte Rotberg. „Ist der Pressesprecher schon hier?“
Sabrina Hamm verneinte.
„Sei so gut und sprich du mit ihnen“. Er wollte sich selbst nicht in der Zeitung oder im Fernsehen sehen. Sabrina Hamm kannte das bereits. Es war nicht Koketterie – er mochte es einfach nicht. Sie hatte damit keine Probleme. Sie ließ sich gern fotografieren und gefiel sich eigentlich immer auf Bildern. Sie fand ihre Nase zwar ein wenig zu groß, hatte aber gelernt, dass sie beim männlichen Geschlecht vielleicht gerade deshalb gut ankam.
Sie klopfte den Staub von der Hose und ging auf die Gruppe Journalisten zu. Die grellgelbe Sicherheitsweste mit dem Aufdruck machte sie als Polizistin kenntlich. Die Reporter richteten sofort Kameras und Mikrofone auf sie.
„Guten Tag, meine Damen und Herren“, sagte sie in die versammelte Runde. Alle brannten darauf, etwas von dem zu erfahren, was sie nur aus der Ferne beobachten konnten. „Ich bin Sabrina Hamm, ermittelnde Beamte bei der Kriminalpolizei Bremen. Der Pressesprecher kommt später, ich stehe ihnen für erste Antworten zur Verfügung. Es ist leider noch nicht viel, was wir wissen.“
Alle Medienvertreter redeten gleichzeitig. Sie machte eine abwehrende Geste mit beiden Händen.
„Die Feuerwehr geht im Augenblick von einer Gasexplosion aus. Sie sehen mich erschüttert. Leider mussten wir Tote und Schwerverletzte bergen. Bis jetzt sind es etwa dreißig Verletzte und ebenso viele Tote – leider überwiegend Kinder“, sagte Sabrina Hamm mit gesenkter Stimme: „Wir versuchen in Erfahrung zu bringen, wie viele Menschen sich zum Zeitpunkt des Unglücks im Gebäude aufhielten.“
Die Presse hatte versucht mit den Angehörigen der Opfer zu sprechen, was die Polizei jedoch verhinderte. In einem abgesperrten Areal standen Zelte des Technischen Hilfswerks, dort konnten Angehörige betreut werden, ohne dass sie von Kameras beobachtet wurden. Immer wieder spielten sich dramatische Szenen ab, wenn Eltern glaubten, das eigene Kind entdeckt zu haben. Die Journalisten brauchten solche Bilder. Ein Teil in Sabrina Hamm verstand das gut. Dennoch appellierte Sie an das Gewissen der Medienvertreter. Sie sah, dass nicht alle unter ihnen hartgesottene Profis waren. In vielen Gesichtern bemerkte sie Erschütterung und Anteilnahme. Manch einer musste spürbar um Fassung ringen.
Nach einer Viertelstunde verabschiedete sich Sabrina Hamm von dem kleinen Pulk. Sie suchte Rotberg und fand ihn im Trümmerfeld inmitten einer Gruppe von Forensikern in ihren weißen Overalls. Die Leute starrten auf eine Stelle in den Trümmern. Sie fürchtete, dass es dort etwas Unangenehmes zu sehen gab und überlegte, ob sie sich den Anblick ersparen sollte. Jetzt war sie aber darauf eingestellt, wie Rotberg es ihr als Tipp gegeben hatte.Sie ging entschlossen auf die Kollegen zu.
„Was gibt’s?“, fragte sie.
„Hier scheint der Explosionsherd zu sein“, antwortete er. „Ein Hund hatte Witterung aufgenommen. Nachdem der Kran ein heruntergestürztes Teil der Decke hochgehoben hatte, wurde die stark verbrannte Leiche einer erwachsenen Person entdeckt – wahrscheinlich eine Frau. Ein Experte der Feuerwehr hat die Stelle untersucht und gemeint, dass dies höchstwahrscheinlich das Zentrum sei. Frag’ mich bitte nicht, woran der das erkennt.“
„An der verbrannten Frau!“, spekulierte Sabrina Hamm.
„Möglich“, meinte er.
Bevor man Stein um Stein beiseite räumte, erfassten die Spezialisten der Kripo den Abschnitt mit dem Drei-D-Scanner. Mit jeder Schicht, die abgetragen wurde, gab es einen weiteren Scan. Man fror einen Tatort quasi ein. Der Computer rechnete später aus Einzelscans eine komplette räumliche Situation zusammen. Selbst kleine Teile, die am Ort eines Verbrechens oder an einer Unfallstelle möglicherweise übersehen wurden, ließen sich nachträglich nochmals genauer betrachten. Man konnte analysieren, wie die Dinge im Raum verteilt waren und Rückschlüsse auf die Ereignis-Reihenfolge ziehen.
Rotberg fiel es anfangs schwer, diese Technik zu nutzen. Er hatte nicht sofort die Vorteile erkannt. Dabei war ihm durchaus bewusst, wie viele Probleme er hatte, anhand von Tatortfotos das Gesamtbild der Umgebung im Kopf zusammenzusetzen. Genauso widerstrebte es ihm zunächst, vor Ort einen weißen Overall zu tragen. Jeder Polizist sah gleich aus.
Die jüngeren Kollegen waren aufgeschlossener. Sie brachten ihm neue Methoden mit Begeisterung näher. Mittlerweile war er ein routinierter Nutzer aller Möglichkeiten. Er ging zwar nach wie vor lieber an die echten Tatorte – um auf gute Ideen zu kommen, wie er es nannte. Es faszinierte ihn aber, wie viele Bausteine heute zur Verfügung standen, um eine Tat nachzuvollziehen und eine Beweiskette lückenlos zu schließen.
Jetzt sollten sie diesen Platz besser den Experten überlassen. Wenn es irgendeinen noch so kleinen Hinweis gab, würden sie ihn finden.
Sabrina Hamm und Rotberg beschlossen in Erfahrung zu bringen, in welche Krankenhäuser die Verletzten gebracht worden waren. Es handelte sich um drei: Klinikum Links der Weser, Mitte und Bremen-Ost. Er rief vier Kriminalbeamte hinzu. Harald Wesselmann, mit dem er seit fast zwanzig Jahren eng zusammenarbeitete. Sven Grabert, ein jüngerer Beamter, der einigen Kollegen wegen seiner an Pedanterie grenzenden Genauigkeit auf die Nerven ging. Von der starken Seite dieses Verhaltens hatte aber manche Arbeit profitiert. Carola Menge, eine überaus kommunikative Beamtin und der wortkarge Ralf Köster – ein ideales Duo. In vielen Befragungen von Zeugen oder Verdächtigen führte die Mischung zu erfreulichen Ergebnissen. Die Zeitgenossen, die bei Carola Menges sprudelndem Charakter dichtmachten, knickten bei Kösters mürrischem Schweigen ein. Man konnte, wenn man ihn nicht kannte, unmöglich hinter seine Fassade sehen. Das schüchterte viele Menschen ein, ohne dass ein gereiztes Wort fiel.
Rotberg teilte die Gruppe ein: „Du Ralf, fährst mit Carola ins Krankenhaus Links der Weser, Harald und Sven fahren zum Klinikum Mitte. Sabrina und ich machen uns auf den Weg nach Bremen-Ost. Wir nehmen dort alle Namen und Daten der eingelieferten Personen auf. Falls ihr die Erlaubnis der Ärzte bekommt, solltet ihr die ansprechbaren Zeugen befragen.“
Er hob den Zeigefinger und sah mit hochgezogenen Augenbrauen in die Runde: „Aber auf jeden Fall immer das Klinikpersonal um ein Okay bitten. Nicht wahr, Carola.“
Er zwinkerte ihr im Gehen zu. Sie verdrehte mit gespielter Genervtheit die Augen.