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Bremen, Montag 09. Februar 2009, 18.05 Uhr

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Auf der Fahrt zum Präsidium suchte Sabrina Hamm im Internet nach dem Installationsbetrieb. Sie rief dort an. „Mist, Anrufbeantworter!“ Auf der Internetseite des Betriebes fand Sie den vollen Namen des Inhabers und eine Mobilnummer. Sie wählte – beim zweiten Klingelton meldete sich eine ältere Frauenstimme.

„Frau Schreiber? Sind Sie und Ihr Mann Besitzer des Installationsbetriebs Schreiber in Sebaldsbrück?“ Sabrina Hamm lauschte. „Könnte ich Ihren Sohn sprechen?“ Pause. „Okay, vielen Dank.“

Man muss ihr nichts sagen, sie erledigt alles Wichtige sofort, dachte Rotberg. Das mochte er. Sie nahm die beschriebenen Zettel aus der Jackentasche und studierte die Notizen von soeben.

„Herr Jonas Schreiber?“, sie hörte zu und stellte sich vor. Dann fragte sie, ob er bei dem Kindergarten die Wartung durchgeführt habe. Jonas Schreiber kannte den Vorgang, er hatte die Arbeiten aber nicht selbst erledigt – die Rechnung hatte er persönlich geschrieben. Wann es jedoch genau war, musste er erst im Betrieb nachschauen. Sie seien seines Wissens nur einmal vor Ort gewesen. Er sagte, dass er über der Firma wohne und gleich nachsehen würde.

Rotberg sah sie fragend an: „Und?“

„Er sieht in den Unterlagen nach und ruft zurück.“

Beide blieben stumm und sahen auf die Straße. Draußen war es mittlerweile Abend geworden. Der Verkehr lief ruhig. Mit ihr wortlos im Auto zu sitzen strengte nicht an. Es gab Menschen, da hatte man das Gefühl, dass man pausenlos Konversation betreiben müsse, nur um keine Beklemmung aufkommen zu lassen. Es hatte mit Vertrautheit zu tun, wenn man gemeinsames Schweigen aushalten konnte.

Ihr Telefon klingelte. Sie lauschte. „Prima, vielen Dank, Herr Schreiber. Und entschuldigen Sie bitte die Störung.“

„Er hat in den Unterlagen nachgesehen – der Handwerker war nur einmal für die Wartung da. Ohne Folgereparatur. Die Mutter hatte parallel bei dem Gesellen angerufen und sicherheitshalber nachgefragt.“

„Ein aufgeweckter Installateur. Ich glaube, den muss ich mir notieren, falls ich einen Klempner brauche.“ Rotberg lächelte.

„Bei der Stadt erreichen wir wahrscheinlich heute niemanden mehr. Ich kann’s ja mal probieren.“ Sabrina Hamm suchte im Internet nach dem Anschluss. „Anrufbeantworter“, sagte sie mit einem Schulterzucken.

Rotberg dachte, dass so ein Wischtelefon – das war sein Begriff für Smartphones – nicht so übel sei. Er wollte mit seinem Sohn darüber sprechen, was für ihn das Richtige wäre. Jutta hatte ja auch schon daran gedacht, ihm eines zu schenken. Er scheute jedoch die Lernerei für neue technische Geräte. Sein Telefon klingelte in der Jackentasche.

„Rotberg!“ Er lauschte. „Was? Ist was passiert? Wir kommen direkt dort hin.“

„Wir sollen zum Innensenator fahren. Die ganze Mannschaft ist unterwegs, inklusive Polizeipräsident.“

„Das klingt bedeutend. Haben sie dir was gesagt?“, fragte Sabrina Hamm.

„Ich habe kein gutes Gefühl“, sagte er mit einem vagen Tonfall. Er spürte, wie sein Herz bis zum Hals klopfte. „Hoffentlich ist nicht noch etwas geschehen.“

Der Innensenat befand sich in einer schmucken Stadtvilla an der Contrescarpe, der Straße, die entlang des historischen Wallgrabens lief. Der Parkplatz war voller Autos – ungewöhnlich zu dieser Tageszeit. Das Haus war hell beleuchtet. Ein Kamerateam von Radio Bremen lud das Equipment für eine Übertragung aus.

„Da ist bestimmt was durchgesickert“, meinte Rotberg grüblerisch.

„Das kann ohne Bedeutung sein“, antwortete Sabrina Hamm. „Der Senator ist oberster Dienstherr der Polizei und zuständig.“

„Na, wir werden gleich mehr wissen.“ Er hatte deutliche Zweifel in der Stimme.


*

Als beide in das große Besprechungszimmer kamen, lief Wesselmann auf sie zu. „Es ist öffentlich!“, flüsterte er halblaut.

„Was?“, fragte Rotberg. Er begriff nicht.

„Der Täter hat sich bei Radio Bremen gemeldet und gesagt, dass er eine Bombe gelegt hat!“

„Wie bitte? Und?“, Rotberg sah Wesselmann fragend in die Augen. „Weiter!“

„Mehr weiß ich auch nicht.“

Herbert Franke, der Innensenator kam mit ernstem Gesicht auf Rotberg zu. „Guten Abend Herr Hauptkommissar, wir sind jetzt komplett und können beginnen.“

„Verzeihung“, sagte Rotberg, „wir haben nicht gewusst ...“

„... konnten Sie ja nicht“, unterbrach ihn der Senator.

Er gab Sabrina Hamm die Hand und stellte sich vor: „Franke.“

„Sabrina Hamm.“

„Wollen wir?“, der Senator sah in die Runde. Er bat, Platz zu nehmen.

Auf dem Tisch standen Getränke und Gläser, auf Tellern lagen verpackte Schokoladenriegel. Vor jedem Sitzplatz befanden sich Block und Kugelschreiber. Rotberg merkte jetzt, wie ihm der Magen knurrte – er würde gleich einige Süßigkeiten essen.

Senator Franke klopfte mit dem Stift an sein Glas. Sofort wurde es still. „Meine Damen, meine Herren“, er sah in die Runde, „ich weiß nicht, was Sie bereits wissen. Ich denke, dass ich den größten Wissensstand besitze. Ich schlage vor, dass ich zunächst berichte, damit alle auf demselben Stand sind. Wir befinden uns noch unter dem Eindruck der Explosion vom Vormittag. Ich konnte mir mit Bürgermeister Cleve vor Ort ein Bild machen. Er wird später zu uns stoßen.“

Franke deutete auf zwei Männer, die rechts von ihm saßen. „Ich möchte Ihnen, falls Sie die Herren nicht kennen, die Kollegen vom Bundeskriminalamt vorstellen. Neben mir sitzt Jan Hofeld, daneben ...“, er sah auf seinen Block, „... Jonas Schellenberg. Da es sich um einen terroristischen Vorfall handelt, bin ich überzeugt, dass es sinnvoll ist, wenn wir kooperieren. Ich will mich zunächst bei allen bedanken, die heute im Erdbeerweg mitgearbeitet haben und die grauenvollen Szenen ertragen mussten. Ich kann Ihnen versichern, dass auch wir erschüttert sind.“

Der Senator trank einen Schluck Wasser. „Wir wissen, dass die Spezialisten an einer Stelle Hinweise entdeckt haben, die auf Sprengstoff schließen lassen. Ich bin darüber umgehend informiert worden. Ich konnte nicht fassen, dass es Menschen gibt, die einen Bombenanschlag auf eine Kindertagesstätte verüben. Wie auch Ihnen, fielen Polizeipräsident von Berghausen und mir in unserem Telefonat sofort die üblichen Kandidaten ein: Islamisten oder politisch Radikale.“

Franke machte eine Geste zu einem Mitarbeiter, der zu dem Laptop ging, das auf einem Sideboard stand.

„Vor etwa einer Stunde rief mich Claus Bergmeister, der Chefredakteur von Radio Bremen, an und spielte mir die Aufnahme vor, die wir gleich hören.“

Der Senator nickte zu dem Mann am Computer. Der startete die Audiodatei. Es war die Stimme eines Mitarbeiters vom Sender sowie die des Anrufers. Dessen Stimme klang technisch verzerrt. Er hatte offenbar Angst davor, identifiziert zu werden.

„Radio Bremen, Dieter Hensell.“

„Guten Abend, spreche ich mit einem Redakteur, der über die Explosion am Kindergarten berichtet?“

„Im Prinzip schon. Worum geht es?“

„Ich habe eine wichtige Mitteilung. Hören Sie genau zu. Ich möchte, dass Sie das heute Abend in den Tagesthemen senden.“

„Schau’n mer mal.“ Man konnte dem Tonfall des Redakteurs anhören, dass er den Anrufer nicht sonderlich voll nahm.

„Sie sollten mich ernst nehmen, guter Mann“, die Stimme bekam Nachdruck.

„Also, legen Sie los. Ich lasse immer ein Bandgerät mitlaufen – das ist Ihnen recht, oder?“

„Ich bitte sogar darum. Ich weiß nicht, ob man am Explosionsort schon etwas gefunden hat, das auf eine Bombe schließen lässt. Ich habe heute den ganzen Tag über die Nachrichtensendungen im Radio und im Fernsehen verfolgt. Entweder hat die Polizei noch nichts entdeckt oder sie hat etwas gefunden, aber keine Pressemitteilung herausgegeben. Wie auch immer. Wir haben Sprengladungen im Kindergarten Erdbeerweg deponiert und sie heute Morgen um halb acht per Fernzündung zur Explosion gebracht.“

Der Redakteur unterbrach ihn: „Sie wollen mich auf den Arm nehmen, oder? Komisch ist das nicht.“

Der Anrufer hob die Stimme und wurde energisch: „Halten Sie bitte den Mund und hören Sie mir zu.“

„Also weiter“, der Journalist klang genervt.

„Die Explosion wurde mit Plastiksprengstoff herbeigeführt. Um einen möglichst großen Schaden anzurichten, wurden an zwei Stellen Bomben platziert. Eine bei der Gastherme und die andere dort, wo die Gasleitung in die Küche führt. Wir haben die Bomben bewusst an diesen Stellen positioniert, um die Schäden zu maximieren.“

„Ich weiß nicht, was Sie mit Ihrem Telefonat bezwecken. Ich habe aber keine große Lust ...“

Der Anrufer unterbrach in schroff: „Ich hatte gesagt, dass Sie den Mund halten sollen!“ Er machte eine kurze Pause. Erkundigen Sie sich bei der Polizei, ob sie Hinweise auf Sprengstoff gefunden hat. Wenn nicht, werden die Experten anhand meiner Angaben schnell etwas entdecken.“

„Wissen Sie eigentlich, wie es am Explosionsort aussieht? Das wird nicht so einfach sein, dort etwas zu finden.“

„Natürlich werden die etwas aufspüren.“

Die Stimme klang kalt und berechnend. Rotberg musste an das Gespräch mit Sabrina Hamm denken. Ein Soziopath? Er sah sie an – sie ahnte wohl, woran er dachte.

„Jetzt nehmen wir mal an, dass es stimmt, was Sie behaupten. Was ist Ihr Ziel? Gibt es politische Forderungen? Sind Sie Deutscher?“

Der Anrufer lachte gekünstelt: „Sie meinen, ob ich Islamist bin. Nein.“

„Wenn es sich heute tatsächlich um einen Anschlag gehandelt hat und Sie wirklich dahinter stecken, müssen Sie doch Ziele haben.“

„Lassen Sie die Konjunktive. Erstens war es eine Bombenexplosion. Zweitens wurde sie durch uns ausgelöst.“

„Wer ist wir?“

„Verdammt noch mal, Sie hören zu, ich rede! Natürlich haben wir ein Ziel – ein einziges, ganz banales Ziel. Wir wollen Geld! Viel Geld!“

„Wie viel?“

„Einhundert Millionen Euro.“

Es entstand eine Pause. Der Redakteur überlegte wohl, wie es weitergehen kann.

„Wer soll die Summe bezahlen?“

„Ist mir völlig egal. Sie? Die Stadt? Die Republik? Der amerikanische Präsident? Vollkommen gleichgültig“.

„Ihren Namen verraten Sie mir nicht zufällig, oder?“

Der Anrufer lachte rau.

„Wie geht es jetzt weiter?“

„Sie spielen der Polizei das Band vor. Hat die bisher nichts gefunden, wird Sie, da bin ich ganz sicher, aufgrund unseres Telefonats zum Erfolg kommen. Bis zu den Tagesthemen ist ja noch Zeit. Ich möchte, dass die entscheidenden Passagen dieses Gesprächs gesendet werden. Sonst bleibt es ungemütlich.“

„Zünden Sie dann eine weitere Bombe?“

„Wie sagten Sie und Franz Beckenbauer: Schau’n mer mal!“

Es knackste in der Leitung. Der Redakteur fragte in die unterbrochene Verbindung: „Hallo?“

Das Telefonat war beendet. In den Gesichtern am Tisch war bereits während der Wiedergabe jede denkbare Emotion abzulesen: Skepsis, Überraschung, Ungläubigkeit, Entsetzen. Jetzt herrschte Schweigen. Was konnte man sagen?

Rotberg hob die Hand und redete sofort los: „Wir waren bis eben unterwegs“, damit machte er eine Handbewegung zwischen Sabrina Hamm und sich. „Wir haben uns in der Klinik mit der Kindergartenleiterin unterhalten. Hiervon wussten wir nichts. Was ich natürlich zuerst wissen möchte: Hat man an der Stelle, an der die Küche war, einen weiteren Hinweis auf einen Sprengsatz gefunden?“

Rotberg sah seine Leute an, den Polizeipräsidenten und den Senator.

Polizeipräsident von Berghausen hob kurz die Hand: „Darf ich?“

Senator Frank gab ihm mit einer Geste das Wort.

„Ja, wir haben Hinweise auf eine zweite Explosionsstelle entdeckt. Wir und die Spezialisten der Feuerwehr hätten das auch ohne das Telefonat gefunden, allerdings nicht mehr heute.“

„Das bedeutet dann doch, dass der Anrufer authentisch ist, oder?“, fragte Rotberg.

„Bei aller Vorsicht, davon müssen wir ausgehen“, antwortete der Senator.

Eine solche klare Aussage aus dem Munde des Innensenators der Freien Hansestadt Bremen wischte die letzten Zweifel aus den Gesichtern der Skeptiker. Die einen schwiegen betreten, andere murmelten etwas zu ihren Sitznachbarn. Niemand wusste im Grunde, wie man beginnen sollte.

Sabrina Hamm räusperte sich und hob die Hand.

„Für alle, die mich nicht kennen, mein Name ist Sabina Hamm, ich arbeite im Team von Polizeihauptkommissar Rotberg. Nachdem wir heute im Erdbeerweg dabei waren, als die ersten Hinweise auf eine Bombe zutage kamen, sind Herr Rotberg und ich zum Klinikum Ost gefahren. Auf der Fahrt dahin haben wir überlegt, wer hinter so einem Anschlag stecken könnte. Im Laufe des Gesprächs fiel irgendwann das Wort Soziopath. Ich sehe, dass Herr Sikorski in der Runde sitzt. Was sagen Sie dazu?“

Der Angesprochene setzte sich sofort aufrecht in den Sessel. Dr. Hans-Werner Sikorski war selbstständiger Psychologe und Therapeut. Er arbeitete regelmäßig für die Ermittlungsbehörde als Berater und Fallanalytiker sowie gelegentlich als Gutachter in Gerichtsverfahren. Ein schlanker, hochgewachsener Mann von Ende fünfzig mit grauem, immer noch vollem Haar und tief eingeschnittenen Lachfalten um die Augen. Er trank einen Schluck Wasser, bevor er antwortete: „Frau Hamm, da haben Sie mich kalt erwischt. Sie wissen ja“, sagte er in die Runde, „Psychologen und Rechtsanwälte legen sich nicht gern fest.“

Einige Anwesende lächelten – andere mochten bei der ernsten Sachlage keinen Humor.

„Als ich dem Telefongespräch zugehört hatte, gingen mir parallel die Bilder von heute durch den Kopf. Die kühle Rationalität in der Stimme und die grauenvolle Tat – ich denke ganz ähnlich wie Sie.“ Dabei sah er Sabrina Hamm direkt an.

Rotberg bemerkte diesen Blick. Sikorski war trotz seines Alters ein ausgesprochener Frauentyp – attraktiv, intelligent und charmant. Und er kannte seine Wirkung auf Frauen sehr genau. Rotberg fühlte sich solchen Männern gegenüber stets ein wenig unterlegen. Er zwang sich, gedanklich beim Fall zu bleiben.

„Ich kann kein Gutachten aus der Hüfte schießen“, fuhr Sikorski fort, „ich spüre aber die Gefährlichkeit, die in dieser Stimme liegt.“

„Würden Sie sagen, dass er ein Einzeltäter ist?“, fragte Wesselmann.

Der Psychologe dachte nach. Er ließ sich so viel Zeit, dass die, die gerade etwas auf ihrem Block notierten, aufsahen, um zu sehen, ob Sikorski die Frage gehört hatte. Das hatte er und legte sich offenbar die nächsten Worte zurecht.

„In der ersten Betrachtung weiß ich es nicht – mein Wissensstand ist der gleiche wie der Ihre.“ Er machte erneut eine Pause. „Während die Aufnahme lief, habe ich an der Stelle, als er die Forderung von einhundert Millionen Euro stellte, darüber nachgedacht, wie groß wohl die Menge Geld in Kilogramm und Volumen sein muss. Er wird ja nicht alles in Fünfhundert-Euro-Scheinen nehmen wollen – wenn er überhaupt Bargeld fordert.“

Sikorski sah, dass sich einige Personen Notizen machten. Wahrscheinlich würden Sie das am nächsten Tag recherchieren.

„Gehen wir mal davon aus, dass er keinen Scheck nimmt, sondern Bares will. Das wird vermutlich viel Gewicht und Volumen sein. Das Geld lässt sich nicht in einer Tüte in einem Papierkorb deponieren und der Täter kann damit nicht spurlos untertauchen.“

Die Anwesenden dachten darüber nach. Der Senator beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und lehnte seine gefalteten Hände ans Kinn – er konzentrierte sich auf Sikorski.

„Für diese Menge an Geld braucht er eine gewisse Logistik.“ Der Psychologe sah in die Runde. „Die Wahrscheinlichkeit, dass er bei der Geldübergabe festgenommen wird, ist hoch. Wenn er so klug ist, wie er sich am Telefon angehört hat – das würde übrigens für ein Soziopathen sprechen“, sagte er an Sabrina Hamm gewandt, „dann wird er Vorsorge treffen müssen. Ich habe mich gefragt, was er machen wird. Die einzige Möglichkeit, die ich im Moment sehe: Er agiert nicht allein. Mindestens eine weitere Person ist seine Versicherung.“

Im Raum war es jetzt ruhig. Senator Frank durchbrach das Schweigen: „Wie machen wir weiter“, fragte er in die Runde. „Ich habe Radio Bremen gegenüber nichts von den Spuren einer Bombe bestätigt. Der Sender wird diesen Anruf wahrscheinlich auch ohne unsere Bestätigung veröffentlichen. Wir können uns alle vorstellen, welche Welle dann über uns hereinbricht.“

Rotberg meldete sich zu Wort. „Nur mal hypothetisch – wenn das Fernsehen die Meldung veröffentlicht, könnten wir Stillschweigen darüber bewahren, dass wir etwas gefunden haben. Wir behaupten, dass wir diesen Anruf sehr ernst nehmen, dass wir aber noch mit der Bergung von Personen beschäftigt sind. Wir hätten bisher nicht nach der Ursache der Explosion gesucht.“

„Wird er das glauben? Und was ist, wenn nicht?“, fragte der Polizeipräsident.

„Ich bin davon überzeugt, dass er bei der Kaltschnäuzigkeit einen weiteren Anschlag geplant hat“, antwortete Rotberg, „vielleicht gewinnen wir dadurch Zeit.“

„Zeit, wofür?“, wollte von Berghausen wissen.

„Um alle Kindergärten zu schließen und zu durchsuchen.“

„Geht das?“, fragte der Senator den Polizeipräsidenten.

Der überlegte. „Wenn wir sofort damit beginnen“, meinte er unsicher.

Wesselmann war skeptisch: „Ich bin mir nur nicht sicher, ob er uns zum einen glaubt, dass wir noch nichts entdeckt haben und zum anderen, ob er sich bei einem neuen Anschlag auf Bremen oder auf Kindergärten beschränkt.“ Er machte eine Pause: „Wir gehen ein hohes Risiko ein. Dass der Täter zu allem entschlossen ist, hat er längst bewiesen.“

Mit dieser Bemerkung hatte Wesselmann das kleine Flämmchen Hoffnung in manchen Köpfen ausgetreten.

Polizisten sind skeptische Menschen, dachte der Psychologe. Ihm war es bewusst geworden, als er einmal in eine Gruppe von Polizeibeamten trat, die ihn nicht kannten. Er wollte bloß nach einem Zimmer fragen. Was ihm entgegenwehte, war tiefes Misstrauen, was er, Sikorski, für ein Typ sein könnte. Gut oder böse. Der Beruf zerstört die Chance, jemals wieder vorurteilsfrei auf einen fremden Menschen zuzugehen. Ein Polizist hat stets seine Verteidigung im Hinterkopf. Auch er hatte durch die ständige Nähe zu brutalen Verbrechen irgendwann bemerkt, dass er begann, einzelne seiner Patienten als mögliche Gefahr für andere zu betrachten. Wesselmann hatte aber absolut recht.

„Was Sie sagen, Herr Wesselmann, ist vollkommen richtig. Wir wissen nicht, was er vorhat. Einen Bluff wird er sich nicht bieten lassen. Ob wir ihm einen Tag Zeit abringen können, ist auch unklar. Wenn wir morgen früh allerdings alle Kindertagesstätten sperren, kann dort wenigstens niemandem etwas passieren.“

„Ich möchte mich, wenn Sie gestatten, gern in die Diskussion einklinken“, Jan Hofeld vom BKA schaute zuerst den Psychologen und dann Senator Franke an. „Ich würde gern eine Bewertung dessen vornehmen, womit wir es zu tun haben. In meinen Augen ist dies kein gewöhnliches Verbrechen. Es ist ein Gewaltakt, der sich gegen die gesamte Gemeinschaft richtet. Der oder die Täter haben zwar keine politischen Forderungen gestellt, trotzdem ist es ein terroristischer Anschlag gegen die Bundesrepublik Deutschland. Geben wir nicht nach, kann es morgen jeden Einzelnen von uns treffen.“

In diesem Moment betrat Bürgermeister Cleve den Raum. Er gab ein Zeichen, dass er nicht unterbrechen wolle und ging direkt zu dem freien Stuhl neben Senator Franke.

„Im Augenblick können wir nur bis zu den Tagesthemen planen. Entweder wir verhängen eine strikte Nachrichtensperre oder wir bestätigen die Meldung. Wenn wir bestätigen, werden wir morgen früh eine andere Gesellschaft vorfinden. Eltern werden ihre Kinder nicht mehr zum Kindergarten oder in die Schule schicken. Viele Bürger fahren nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln – jeder denkt an die Anschläge von Madrid und London. Es wird Tausende geben, die zu Hause bleiben. Verhängen wir eine Nachrichtensperre, wissen wir nicht, was geschehen wird“, endete Hofeld.

„Ich frage nochmals in die Runde“, sagte Rotberg, „was ist, wenn wir die Nachricht laufen lassen? Wenn der Innensenator im Fernsehen erklärt, dass die Bergung der Opfer nicht abgeschlossen sei. Das demzufolge bislang keine Ursachenforschung betrieben worden sei.“

„Gestatten Sie mir eine Bemerkung“, der Bürgermeister, der im Stadtstaat Bremen zugleich Chef der Landesregierung ist, hatte sich von seinem Platz erhoben. „Ohne die versammelte die Kompetenz infrage stellen zu wollen, habe ich in der Zwischenzeit den Bundesinnenminister, den Bundeskanzler sowie den Generalbundesanwalt informiert. Der Innenminister hielt sich zu einem Kongress in Hamburg auf und wird in der nächsten halben Stunde eintreffen. Der Generalbundesanwalt ist ebenfalls auf dem Weg, er wird aber erst um elf Uhr hier sein.“

Hans-Werner Sikorski hob die Hand: „Eine Zwischenfrage beziehungsweise eine Anmerkung, Herr Bürgermeister?“

„Bitte.“

„Beim Betreten des Gebäudes ist mir aufgefallen, dass auf dem Parkplatz ein Team von Radio Bremen damit beschäftigt war, das Equipment auszuladen. Wenn gleich der Bundesinnenminister erscheint, wird das den Journalisten nicht entgehen und sie werden sie das als Bestätigung interpretieren.“

„Herr ...“, Bürgermeister Cleve sah den Psychologen mit einem fragenden Gesichtsausdruck an.

„Sikorski, Dr. Hans-Werner Sikorski, ich bin in meiner Rolle als Fallanalytiker dabei.“

„Herr Dr. Sikorski, ich glaube kaum, dass es gelingt, den Hintergrund eines solchen Ereignisses geheim zu halten. Ich bin ein alter Sozialdemokrat und habe stets versucht, die Nähe zu den Bürgern zu wahren. Ich lasse mich nie von Personenschützern begleiten und bin, wenn es die Zeit zulässt, für jedermann ansprechbar. Hätte ich zu entscheiden, wählte ich die Offenheit. Wir haben es mit einem Schwerstverbrecher zu tun. Als Vertreter der Menschen haben der Innensenator und ich die Aufgabe, deren Interessen und vor allem ihr Leben zu schützen.“

„Herr Bürgermeister, verstehen Sie mich bitte nicht falsch“, meinte der Psychologe, „ich sehe es so wie Sie.“ Sikorski fasste nochmals kurz seine Gedanken von vorhin zusammen.

„Verstanden“, sagte Cleve, „wenn ich Sie richtig interpretiere, gehen Sie davon aus, dass der Täter damit rechnet, bei einer möglichen Geldübergabe identifiziert zu werden. Und dass er für diesen Fall einen weiteren Anschlag plant. Ihrer Ansicht nach sollten wir zahlen und zusehen, wie der Mörder verschwindet?“

„Ich weiß, es ist immer einfach, über das Geld anderer Leute zu verfügen. Wenn wir allerdings kein Risiko eingehen wollen, ist es die einzige Option.“

Die Debatte entwickelte sich, nach und nach kamen die übrigen Teilnehmer zu Wort. Es wurden alle Möglichkeiten beleuchtet und bewertet. Es gab die Hardliner, die mit Terroristen nicht zu verhandeln gedenken. Diejenigen, die auf keinen Fall ein Risiko eingehen wollten. Und es gab einige Ideen und verschiedenste Taktiken, wie man den Täter festsetzen könnte. Am Ende stand jedoch die Frage, ob es einen Mittäter gab und wie der sich verhalten werde, wenn man den anderen festnahm.

Carola Menge meinte, man könne den Täter bei der Geldübergabe ohne Wenn und Aber erschießen oder es zumindest kommunizieren. Schließlich sei er brandgefährlich. Für einen möglichen Komplizen würde es keinen Sinn ergeben, weiterzumachen. Sie merkte an verschiedenen Reaktionen, dass einige der Anwesenden diesen Vorschlag im Stillen ebenfalls erwogen hatten. Niemand wollte ihn allerdings aussprechen. Für die Polizei ist eine Situation, in der sie sich einem zutiefst bösartigen Verbrecher gegenübersieht, manchmal unerträglich. Ihren Eid auf die rechtsstaatlichen Prinzipien erleben einige Polizisten dann als Fessel. Am Ende stehen hilfloser Zorn und die Hoffnung, dass wenigstens die Justiz kompromisslos sein möge.

„Ich glaube nicht, dass es mehr als zwei Menschen gibt, die einen derart perfiden Plan verfolgen“, glaubte Carola Menge.

„Dafür würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen“, erwiderte Sikorski. „Denken Sie an den Terrorangriff in New York – neunzehn Täter, die ihr Ziel verfolgten, ohne dass etwas nach außen drang. Sie waren durch Fanatismus aneinander gebunden. Auch in unserem Fall genügt ein starker Charakter, der andere mental an sich bindet oder sie unter Druck setzt.“

So entschlossen auch einzelne Pläne vorgetragen wurden, hätte man den Urheber einer Idee gefragt, ob er die Verantwortung für die Durchführung übernähme; am Ende hätte wohl jeder gekniffen. Im Stillen hoffte man auf eine Entscheidung von ganz oben. Es war für viele Teilnehmer der Runde ein Lichtblick, als der Bundesinnenminister Volker Offenbach den Raum betrat. Er kam in Begleitung des Staatssekretärs Mathias von Einhofen.

Man rückte am Tisch um zwei Plätze nach außen, damit die beiden Herren neben dem Bürgermeister sitzen konnten. Es war erstaunlich, wie selbstverständlich solche Rangordnungen heute noch in einer parlamentarischen Demokratie funktionierten. Keiner im Raum kam auf die Idee, einen Bundesminister an das andere Ende des Tisches zu setzen. Rotberg beobachtete diese Konsenshandlung und rückte zwei Stühle weiter.

Rotberg war dem Innenminister bereits einmal während eines Empfangs im selben Haus vorgestellt worden. Der Minister würde sich nicht an ihn erinnern. Er hatte in der flüchtigen Begegnung mit Offenbach gespürt, dass von diesem Mann Macht ausging. Im Grunde ließ sich nicht erklären, warum manche Personen einen Raum für sich einnehmen, wenn sie ihn betreten. Mit anderen Leuten führte man ein halbstündiges Gespräch und hatte sie am anderen Tag vergessen.

Er hatte am folgenden Morgen mit Jutta darüber gesprochen. Sie hatte gescherzt, dass er ihr schließlich auch aufgefallen sei, als er die Gaststätte betrat, in der sie ihn kennengelernt hatte. Ein junger, sportlicher Kerl. Rotberg sehnte sich in diesem schwierigen Moment im Hause des Innensenators nach der Berechenbarkeit seines Heims und der Vertrautheit mit Jutta. Am liebsten wüsste er nichts von dem Sumpf und andere Menschen würden für ihn die Dinge zum Guten wenden. Er wurde aus den Gedanken gerissen, als der Innensenator sich erhob und den Minister offiziell begrüßte.

Der Senator gab einen Überblick über die Situation und verschiedene Optionen, die erörtert worden waren. Der Innenminister und der Staatssekretär machten sich während des Vortrags Notizen.

So funktionierte das Regieren, dachte Rotberg. Die Entscheidungsträger hören die Essenz dessen, was zwei oder drei Ränge darunter besprochen wurde. Sie beraten sich und sind dann mental in der Lage eine Entscheidung zu fällen.

Deshalb hatte er, Rotberg, es bis wenige Jahre vor der Pensionierung zwar bis zur Position eines Polizeihauptkommissars gebracht – aber nicht weiter. Er war im Stande die Entscheidungen des Berufsalltags zu verantworten. Manchmal allein, ein anderes Mal nach Rücksprache mit einem Vorgesetzten. Im Tagesgeschäft versuchte er, einen Konsens mit den Kollegen zu erreichen. Er ertrug es nicht, bei ihnen als autoritärer Chef zu gelten. Da war seine Grenze. Er hatte sich damit arrangiert, das war für ihn die Möglichkeit ein gelungenes Leben zu führen.

Bewusst wurde ihm seine Begrenztheit immer dann, wenn er wirklich machtvollen Persönlichkeiten gegenüberstand. In jungen Jahren hatten ihm solche Menschen durch ihre bloße Anwesenheit Angst bereitet. Das war heute anders – aus der Furcht war Achtung vor der Lebensleistung dieser Leute geworden. Ganz tief im Inneren jedoch, wünschte er, auch ein wenig mehr Machtwillen besessen zu haben.

Als Innensenator Franke geendet hatte, bedankte sich der Minister. Er sah auf die Notizen und stellte an einzelne Anwesende Fragen. Er wollte wissen, wer dieses und jenes vorgeschlagen oder erwogen hatte. Dann richtete er diese Person gezielte Nachfragen. Ohne dass er sich äußerte, war greifbar, welchen Gedanken er für beachtenswert hielt und was er im Kopf sofort verwarf. Man sah ihn entweder etwas notieren oder einen seiner Aufschriebe durchstreichen. Für die Nachfragen benötigte er etwa fünfzehn Minuten.

Er blickte auf die Uhr und sah den Staatssekretär an. Er fragte ihn, ob er weitere Informationen benötige. Der verneinte. Daraufhin bat Minister Offenbach, mit Bürgermeister Cleve, Senator Franke, dem Polizeipräsidenten, dem Staatssekretär, mit Dr. Sikorski und mit Rotberg, im kleinen Kreis sprechen zu können.

Rotberg klopfte das Herz bis zum Hals, er fühlte, dass er leicht errötete. Im Aufstehen sah er Sabrina Hamm an. Er zog kurz die Augenbrauen hoch. Sie bemerkte dessen Anspannung und strich ihm fast unmerklich über den Unterarm.

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