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1.2 Der Aufstieg des Schauspielers in die société civile

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Die Vertreibung des Narren ist nur ein Element in der Formierung einer in Paris ansässigen, von der Staatsführung protegierten Schauspieler­elite. Die Triebkraft, die zur Bildung dieser Elite führt, geht »von unten«, von den Schauspielern selbst aus. Die Beschreibung der Zuschauer vom Beginn des 17. Jahrhunderts, die wir dem Komiker Bruscambille verdanken, unterscheidet sich in puncto Aufmerksamkeit für das auf der Bühne Gezeigte kaum von dem, was wir aus Zeugnissen des 18. Jahrhunderts wissen: »à peine entrés dans ce lieu de divertissement, dès la porte, vous criez, à gorge déployée: commencez, commencez […] Mais c’est encore bien pis quand on a commencé: l’un tousse, l’autre crache, l’autre pette, l’autre rit, l’autre gratte son cul« (1610, zit. n. Auerbach 1933a, 17). Auch wenn die petits-maîtres auf den Bühnenplätzen sich nicht am Hintern kratzen oder auf den Boden spucken, verfügen sie doch über geeignete Methoden, um auf sich aufmerksam zu machen. Der Mercure de France schreibt im Juni 1750, anlässlich von Voltaires Oreste: »Les cris de Clytemnestre, qui faisaient frémir les Athéniens, et qui feraient la même impression sur les Français, qui ont une âme sensible et le goût du grand pathétique, ces cris qui seraient si touchants, si pénétrants dans le silence, pourraient-ils surmonter les bruyants éclats d’une jeunesse brillante et inattentive, qui daigne à peine laisser couler les acteurs jusqu’à une petite partie du théâtre qu’elle semble leur laisser à regret« (zit. n. Lagrave 1972, 110f). Die petits-maîtres sind die ›Halbstarken‹ des 18. Jahrhunderts, die den bürgerlichen ›Spießer‹, der nur wegen des Stückes gekommen ist, schockieren wollen. Nur dass, im Unterschied zu den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, die Bürger die neue Haltung des sinnverstehenden Zuschauens verkörpern, während die aristokratischen ›Halbstarken‹ die eigentlichen ›Spießer‹ sind, insofern sie, indem sie sich selbst in Szene setzen, nur das tun, was sie immer getan haben. Ihr Auftreten trägt männerbündische Züge. Anders als das spanische Abbild, der »petimetre« (vgl. Teil II), brilliert das französische Vorbild durch Frauenfeindlichkeit, Trinkfestigkeit und ­aggressives Gehabe, dessen Norm der Bruch jeder Norm ist (vgl. ­Deloffre 1955, 22). Ihr Verhalten ist Protest gegen die höfische wie bürgerliche Lebensweise: Indem sie ihre wahre Gesinnung zur Schau stellen und sie gleichzeitig übertreiben, bedienen sie mit umgekehrtem Vorzeichen die höfische Kunst des Scheinens und verachten zugleich die bürgerliche Norm, die die wahre Gesinnung in ihrem rechtschaffenen Ausdruck, ohne alle Übertreibung, verlangt. Sich im Glücksspiel zu ruinieren gehört ebenso zum guten Ton wie ein bestimmter Sprachgebrauch. Kurz, der petit-maître selbst existiert nur als permanente Inszenierung seiner selbst, die im Theater in Konkurrenz treten kann mit dem dargebotenen Stück. In Deutschland bekundet sich die bürgerliche Umwertung des Wortes (»Kleinmeister«), das im 18. Jh. gebräuchlich wird, in der Vermutung: »eig. wol einer aus niederm stande der den groszen ­herren nachahmt […], dann einer der die kleinen künste der franz. gesellschaft betreibt um etwas zu gelten, besonders bei frauen« (Grimm, Stichw. »Kleinmeister«).

Im Parterre, auf den mit Abstand billigsten Plätzen29, ist es um die Aufmerksamkeit nicht besser bestellt. Durch keine festen Sitzreihen behindert, können sich die Zuschauer während der Aufführung frei bewegen. Vor allem anlässlich der Gratisvorstellungen an großen Feiertagen werden die Theater von »petites gens de toutes catégories« (Lagrave 1972, 214) in Besitz genommen; selbst die Logen sind dann fest in ihrer Hand: nur die Tabakspfeifen hätten noch gefehlt, denn »le pain, les cervelas, les tasses et les bouteilles y étaient en grand mouvement«, heißt es in einem sarkastischen Bericht im Mercure de France vom November 1728 (zit. n. ebd., 215).

Kein Wunder, dass die Schauspieler den nur hörenden und sehenden, den aufmerksamen Zuschauer wollen, der allein wegen der Aufführung kommt: »Toutes choses ont leur temps, toute action doit se conformer à ce pourquoy on l’entreprend. Le lit pour dormir, la table pour boire, l’hôtel de Bourgogne pour ouir et voir, assis ou debout, sans bouger, non plus qu’une nouvelle épousée« (Bruscambille 1610, zit. n. Auerbach 1933a, 17f). Aber noch im 18. Jahrhundert gilt in Kreisen der vornehmen Welt als »bourgeois«, wer zuhören will (vgl. Lagrave 1972, 420). Die Frage der Aufmerksamkeit ist mithin sozial überdeterminiert. Nur der »marchand du coin«, nicht aber »nous autres gens d’une certaine façon«, sagt Almaïr, kommen wegen des Stücks; »on vient ici pour voir les femmes, pour en être vus« (1746, zit. n. ebd.). Wie in Spanien ist das Theater das Terrain einer symbolischen Geschlechter-Jagd, bei der die Bewaffnung mit der lorgnette – von der auch auf den billigen Plätzen ausgiebig Gebrauch gemacht wird – unverzichtbar ist. Sie verleiht die gesteigerte Sehkraft, um die Objekte der Begierde in gebotener Präzision in Augenschein nehmen zu können. Im übrigen gilt dies fürs Jahrmarkttheater noch mehr, wird doch hier nicht nur der Ort der Aufführung, sondern das Ambiente insgesamt zum ›Theater‹, vor allem in der Zeit zwischen 20 und 22 Uhr, wenn die Aufführung zu Ende, das Gelände seine Pforten aber noch nicht geschlossen hat: »Toutes les boutiques sont éclairées par des chandelles très bien rangées, et à ce moment la presse est si grande qu’on a de la peine à se frayer un passage. Là, tout est pêle-mêle, maîtres, valets et laquais; filous et honnêtes gens se coudoient. Les courtisans les plus raffinés, les filles les plus jolies, les filous les plus habiles sont comme entrelacés ensemble« (Nemeitz, zit. n. Lagrave 1972, 253). Den Jagdgebieten des Jahrmarkts, der den Männern aller Klassen offensteht, entsprechen diejenigen der Salons, der Logen oder der höfischen Festlichkeiten, die den Herren vorbehalten sind. Hier gibt den Ton an, wer in Kleidung, Gebaren und Konversation als ›Mann von Welt‹ oder ›galanthomme‹ sich am Hofe wie in der Stadt, ›elegant‹ und das heißt v. a. erfolgreich in Bezug aufs andere Geschlecht in Erscheinung zu treten vermag. Wo immer ›man‹ in der Öffentlichkeit auftritt, ist die Richtung aufs andere Geschlecht die dominante Linie, auf der sich die individuelle Handlungsfähigkeit bewähren muss. Wer hier in Anspruch genommen ist, muss dem Bühnengeschehen die Aufmerksamkeit versagen – wie umgekehrt die Frauen alles tun, um mit Hilfe von Kleidung, Schmuck und Schminke die Blicke auf sich zu ziehen.30 Die Umkodierung des Galanten, das, reduziert auf die Gestalt des Ehebruchs, den moralischen Abscheu des Bürgers erregt, findet im Grimmschen Wörterbuch die für die Geschichte des deutsch-französischen Verhältnisses symptomatische Formulierung: »es spiegelt sich recht darin die geschichte des franz. einflusses in seinem aufsteigen und seinem niedergange, auch in seinen ausartungen bis ins widerliche.« (Stichw. »galant«) Was auf den »französischen Einfluss« schlechthin zurückgeführt wird, muss herrschaftskritisch auseinandergelegt werden: ›Widerlich‹ sind dem Bürgertum zunächst nicht ›die Franzosen‹, sondern die deutschen Aristokraten, die französisch parlieren und dafür sorgen, dass es mit der politischen Emanzipation des Dritten Standes nichts wird; mit der von Napoleon exportierten Revolution jedoch geht der kritische, auf die im eigenen Land stehenden Herrschaften bezogene Sinn verloren, und die moralische, gegen den ›Franzosen‹ allgemein gerichtete Bedeutung des ›Widerlichen‹ entfaltet ihr nationales Gift.

Freilich geht es im Parterre zunächst wenig ›elegant‹ zu; wie im Wirtshaus kommt es zu Streitereien, und den Taschendieben, die im Gedränge schnell untertauchen können, bietet sich ein ideales Aktions­feld. Von der »bourgeoisie cultivée« wird dieser Ort daher in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts gemieden (Descotes 1980, 14). Aus »Gründen der öffentlichen Ordnung« (Frenzel 1984, 83) müssen die Vorstellungen im Winter um 16:30 Uhr enden; später beginnen sie um 17 Uhr, sowohl in den privilegierten Theatern wie auf dem Jahrmarkt. Das Gehen auf den »holprigen, unbeleuchteten Straßen« war in der Dunkelheit mit besonderen Gefahren verbunden – nicht nur wegen des Unrats, der sich hier sammelte (vgl. Kulischer 1976, 12). Noch 1632, fünf Jahre vor der Uraufführung des Cid, wird in Paris die Einrichtung eines dritten festen Theaters von »hochstehenden Personen« verhindert wegen Verkehrsstörungen und Belästigungen der Anwohnerschaft, die eine solche Nachbarschaft zur Folge haben (Parfaict 1735/1968; V, 49).

Valleran le Conte, einer der bekanntesten Schauspieler zu Beginn des 17. Jahrhunderts, versucht, das Pariser Publikum für Tragödien und Tragiko­mödien zu begeistern: Die Aufführungen enden mit einem völligen Misserfolg (Mongrédien 1966, 51). Er setzt sich zwischen alle Stühle: Weder die vornehme Gesellschaft noch das plebe­jische Publikum interessieren sich für sein Theater. Den vielfältigen Anstrengungen »von unten« kommt schließlich, vier Jahre nach den Auseinandersetzungen um den Cid, ein königlicher Erlass entgegen, mit dem den Schauspielern das Attribut staatlich-öffentlicher Nützlichkeit zuerkannt wird. Gegen die feindliche Haltung der Kirche heißt es, dass die Tätigkeit als Schauspieler, soweit sie sich im Rahmen der durch die »honnêteté publique« definierten Gesetze halte, niemand zum Vorwurf gereichen dürfe (zit. n. Parfaict V, 132f). Wie in Spanien (vgl. Teil II) wird das Theater zu einem öffentlichen Raum, den die Staatsmacht dem Herrschaftsanspruch der Kirche zu entziehen sucht. Aber indem dieser Raum ›zivilisiert‹ wird, wird er zugleich sozial gespalten und korporativ gegliedert, indem bestimmten Truppen exklusive Rechte auf ein Repertoire und eine Spielweise zugesprochen werden.31 So verbot das Privileg der ­Comédie-Française vom 21. Okt. 1680 »à tous autres comédiens français de s’établir dans ladite ville (de Paris) et faubourgs, sans ordre exprès de Sa Majesté« (zit. n. Lintilhac IV, 7). Wie ein Handwerk, dessen Kompetenzbereich vor unbefugten Zugriffen geschützt wird, ist etwa die Oper allein berechtigt, Stücke »en musique« aufzuführen.32 Doch bilden diese Regelungen keine chinesischen Mauern; ›Übergriffe‹ sind an der Tagesordnung, umso mehr als das Publikum, »dans son immense majorité, se moque de ces distinctions« (Lagrave 1972, 363). Die Geschichte des Pariser Theaterwesens im 18. Jahrhundert ließe sich geradezu unterm Aspekt einer zunehmenden ›Egalisierung‹ der Truppen und Spielweisen schreiben, die eine »sorte d’osmose des genres et styles divers« (ebd., 413) hervorbringt, lange bevor die Revolution die Ständeordnung insgesamt abschafft.

Die Schauspieler sind so wenig eine Einheit wie das Publikum. Der erwähnte Erlass nimmt Bestrebungen auf, die, vor allem aus Gelehrtenkreisen im Umfeld der neu gegründeten Académie Française kommend, darauf gerichtet sind, eine kleine Elite von »Comédiens« gegen die große Mehrheit der »Mimes, Pantomimes, Sauteurs, et Bateleurs« zusammenzuschließen (d’Aubignac, Projet, 699). Guez de Balzac, von dem gesagt wurde, seine Briefe kämen der Verleihung des Ehrentitels ›honnête homme‹ gleich, schreibt im Dezember 1636 – unmittelbar vor der Uraufführung des Cid – an den Schauspieler Mondory, er schätze ihn sehr, denn er habe »la comédie avec les [dévots] et la volupté avec la vertu« versöhnt (zit. n. Urbain/Levesque 1930, 13). Die Marionettenspieler, Akrobaten, Dompteure, Seiltänzer oder diejenigen Schauspieler, die auch auf den Jahrmärkten über keinen festen Spielort verfügen und ihre Künste »en plein vent« darbieten müssen (Lagrave 1972, 255), verfallen hingegen unwiderruflich der Kategorie der canaille. Auch die Aristokratie, »qui de tout temps aime à ›s’encanailler‹« (ebd., 256), kommt hier auf ihre Kosten. Egal an welchem Ort sie auftritt und an welchen Vergnügungen sie teilnimmt, durch ihr Prestige gehört sie per definitionem zur »société civile«, wie d’Aubignac sagt (Projet, 700) – eine Kategorie, die das Durchlässigwerden der Ständeschranken zwischen Aristokratie und gehobenem Bürgertum auf den Begriff bringt und zugleich den dadurch neu entstehenden öffentlichen Raum bezeichnet, der sich aus dem Herrschaftsanspruch der Kirche ausgrenzt.33 Diese Dialektik der ›Zivilisierung‹, die eine neue Grenze gegen ›die da unten‹ aufrichtet, indem sie die anderen aus ihrer marginalen Stellung befreit, entgeht Duvignaud, wenn er die Rolle des Schauspielers, fixiert auf dessen emanzipatorisches Tun, auf die »participation de tous les groupes et de toutes les classes à un système de valeur unique« festlegt (1965, 58). Indem den Akteuren des popularen Theaters bereits kategorial der Status des ›Schauspielers‹ bestritten wird, kann der Entmischungsprozess, der die von ihnen praktizierten Formen zu »subkulturellen Praxen« herabsetzt (Graf 1992, 2), während im Gegenzug andere privilegiert und in den Kanon prestigeträchtiger literarischer Formen einsortiert werden, nicht in den Blick kommen.

Das Schauspiel, so d’Aubignac, sei heute kein »acte de Religion« mehr, sondern lediglich ein »divertissement public« (Projet, 703f). Was als bloßes »divertissement public« artikuliert wird, bezeichnet in Wirklichkeit ein umkämpftes Terrain: Das Zivile, das mit dem Anspruch auftritt zu definieren, was ›public‹ ist, steht gegen dessen religiöse Besetzung, die es als »acte de Religion« in seine Zuständigkeit nehmen will. Erst Gramsci hat dem Begriff der Zivilgesellschaft seine moderne, auf den Funktionszusammenhang der Hegemoniebildung bezogene Bedeutung gegeben (vgl. Jehle 2004b, 1359). Die analytische Unterscheidung von Ökonomischem, Zivilem und Politischem schärft indes auch den Blick für unseren Zusammenhang, mit dem der Prozess, wie eine »subalterne« Klasse »führend« werden kann, sich auf neue Weise erschließt: Die Zivilgesellschaft ist nicht, wie noch bei d’Aubignac, selbst eine zivile Instanz, sondern das Terrain, auf dem um eine neue »Zivilität« gerungen wird, auf dem die »subalternen Klassen […] sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen« müssen (Gef 6, H. 10/II, § 41, 1325) und das deshalb als Moment der (Selbst-)Aktivierung in der Perspektive des Sich-Hinaufarbeitens in die Strukturen der politischen Gesellschaft in den Blick kommt. Für den Emanzipationsprozess des Dritten Standes und seine im Theater probehandelnd agierenden ›zivilen Helden‹ ist diese Perspektive zentral. Erfolgreiches Handeln auf dem Terrain der Zivil­gesellschaft verlangt neue Kompetenzen. Wo die Gegensätze, die die Hegemonie der Zentralmacht bedrohen (Feudaladel/Zentralmacht, Adel/Bürgertum), in die Frage verschoben sind, wer zu den »honnêtes gens« gehört und wer nicht, wird Bildung zum Element im Streit um diese Zugehörigkeit. Die Gegengesellschaft, die d’Aubignac ineins damit konstituiert, ist die Menge der »Unzivilisierten« und »Ungebildeten« – Kategorien, die wie ihre Gegensätze ›quer‹ zu den Ständeschranken liegen.

Gerade die doppelte Bewegung, »Orientierung nach oben« und Abgrenzung vom höfischen Lebensstil in einem, machen dem Bürger »Sinn und Wert seiner ganz anders gearteten eigenen Form der Lebensführung bewusst« (Pikulik 1984, 129). Freilich fällt Pikuliks Vereindeutigung dieses Befunds – »Anpassung, nicht Rebellion« (134) – hinter die Einsicht zurück, dass die »Orientierung nach oben« genau die Form ist, in der das Bürgertum seinen »Geist der Unterscheidung und des Bruchs« entwickelt (Gef 6, H. 11, § 15, 1403). Hegemoniegewinnung ist immer notwendig eine doppelte Bewegung: Die mit Prestige ausgestatteten Lebensformen müssen angeeignet und zugleich ›umfunktioniert‹, d. h. in die neue Weltauffassung eingebaut werden. Wilhelm Meister interessiert zunächst allein die künstlerische Lösung des Problems. Er weiß zwar, dass der Unterschied zwischen Edelmann und Bürger nicht in den Charakter des einen oder anderen fällt, sondern »die Verfassung der Gesellschaft selbst« (Lehrjahre V, 3) dafür der Grund ist, diese mithin verändert werden müsste. Als Nonkonformist, den das vom Schwager gezeichnete »Glück des bürgerlichen Lebens« ebenso wenig reizt (V, 2) wie die Entwicklung einer Perspektive, die nicht nur dem eigenen Bildungsbedürfnis Rechnung tragen, sondern auf einen neuen ›Konformismus‹34 der bürgerlichen Lebensform insgesamt zielen würde, ist er zufrieden, wenn nur er eine »öffentliche Person« zu werden vermag (V, 3). Das Theater wird zur Kompromissform, in der die noch unüberwindliche Schranke zwischen Edelmann und Bürger individuell lebbar wird: »Auf den Brettern erscheint der gebildete Mensch so gut persönlich in seinem Glanz als in den obern Klassen« (V, 3).

Die Zugehörigkeit zur »société civile« verlangt von den Schauspielern be­sondere Kompetenzen. D’Aubignac klagt etwa über jene, die, »ne sachant qu’à peine la langue Française, ils expriment imparfaitement ce qu’ils récitent, et souvent au contraire de ce qu’ils doivent« (Projet, 701). Die Schauspieler sollen den Konstitutionsprozess der Nationalsprache befördern, die im 17. Jahrhundert noch kaum existiert. In dieser Perspektive erscheint das Theater als der Ort, an dem das Resultat der vielfältigen Anstrengungen, die Hervorbringung einer politischen, ökonomischen und sozialen Einheit, die französische Nation, imaginär vorweggenommen ist. Die zweite Klage – die Schauspieler sagten das Gegenteil von dem, was sie sollen – bezieht sich auf die Umwertung von bisher für selbstverständlich gehaltenen Fähigkeiten, den das literarische Theater auslöst. Der Text geht der Aufführung voraus und muss auf der Bühne wortgetreu reproduziert werden – für Wandertruppen wie feste Ensembles eine Unmöglichkeit schon deshalb, weil das bei Misserfolgen sofort wechselnde Programm die ausschließliche Bindung der Schauspieler an eine Individualrolle verbietet.35 Es kommt vor allem darauf an, sich in wechselnden Rollen gekonnt zu bewegen; daher die herausragende Stellung des Improvisierens, das zudem die Fähigkeit begründet, aufs Publikum spontan zu reagieren. Mit dem literarischen Theater vergrößert sich der Abstand zwischen Schauspielern und Publikum. Indem der zur Aufführung gebrachte Text sich ›rücksichtslos‹ gegenüber der »leiblichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern« verhält (Fischer-Lichte 2004, 58), soll, was im Saal passiert, ›planbarer‹ werden. »Ein Schauspieler«, sagt Wilhelm Meister, »sollte nichts Angelegeneres haben als auf das pünktlichste zu memorieren« (Sendung, 3. Buch, 6. Kap.). Es ist dies ein frommer Wunsch, kommen doch die Schauspieler ungern zu den Proben und lassen es am nötigen »Ernst« fehlen. Die neue Produktionsweise auf dem Theater muss von Seiten ihrer Akteure kulturell erobert werden; die an feste Rollencharaktere gebundene alte Identität kommt den neuen Anforderungen in die Quere. Sie verlangen die Ausbildung eines neuen Habitus, einer Leistungsethik und Diszipliniertheit, die für jeden bürgerlichen Beruf gelten – Pünktlichkeit, Ernst­haftigkeit, Arbeitsamkeit – und deren Aneignung den Schauspieler mit dem Aufstieg in die bürgerliche Welt belohnt. Erst im 18. Jahrhundert wird ›Arbeit‹, die sich von aristokratischer Verachtung emanzipiert, zu einem »gesellschaftlichen Grundbegriff« (Pikulik 1984, 136). Auch der Schauspieler soll ein Robinson werden, der nur in der Arbeit bei sich ist. Was für die Zuschauer Freizeit, ist für die Schauspieler Arbeitszeit, über deren gesellschaftliche Notwendigkeit der Markt entscheidet.

Das Memorieren ist nur ein Element innerhalb einer ganzen Reihe neu zu entwickelnder Fähigkeiten. Es kommt auf die Details an. Der Schau­spieler muss den Text lernen, um sich, wie Wilhelm sagt, auf die »Schattierungen« seiner Rolle konzentrieren zu können (Sendung, 3. Buch, 6. Kap.). Und d’Aubignac wirft den Schauspielern vor, »étant la plupart ignorants aux Spectacles, ils […] en négligent la représentation« (Projet, 701). Die Redeweise ›négliger la représentation‹ hat nur Sinn vom Standpunkt einer fer­tigen Spielvorlage, die in eine Aufführung transformiert werden muss. Die ›Inszenierung‹ wird überhaupt erst zum Problem, wo das Theaterstück in einer von der Bühne unabhängigen Form existiert und folglich der szenischen Realisierung bedarf. Stimme, Mimik und Gestik müssen entsprechend ineinandergreifen. Zugleich muss eine Prozedur gefunden werden, die in der Produk­tion ›des‹ Schauspielers konvergiert. D’Aubignac schlägt daher vor, die Schauspielerei zum Beruf zu machen, der, wie jede Form von Professionalisierung, ein Curriculum voraussetzt, dessen erfolgreichen Abschluss durch einen vom König ernannten »Intendant, ou Grand Maître des Théâtres et des Jeux publics en France« (Projet, 704) kontrolliert werden soll. Insofern ist der Projet Stellenausschreibung und Empfehlungsschreiben in einem. D’Aubignac lässt keinen Zweifel, wer der geeignete Mann ist, um auf Talentsuche zu gehen und dafür zu sorgen, dass niemand »ne pourra être associé dans une Troupe que par Brevet du Roi, donné sur un Certificat de sa capacité et probité qui lui sera délivré par l’Intendant« (ebd.).

Diese Vorschläge wurden nie verwirklicht. Sie sind aber deshalb interessant, weil sie sich wie eine Strukturskizze zur Formierung einer schauspielerischen Elite lesen. Das Reservoir, aus dem die Fähigsten und Begabtesten hervorgehen sollen, speist sich aus zwei Quellen: Die Wandertruppen und die Kollegien, womit die Jesuitenschulen gemeint sind, in denen das Theaterspielen ein Element der schulischen Ausbildung ist. Die Logik der Ein-/Ausschließung wird ergänzt durch eine Reihe von Individualisierungsprozeduren, die die Schauspieler in ihrer Ausbildung durch­laufen: das systematische Üben des Rezitierens, der Mimik und Gestik; die Beobachtung und Auswertung von Aufführungen; schließlich die Ablegung einer Prüfung. Der Intendant beurteilt »capacité et probité« – die Formel, die fachliches Können und Loyalität mit der Obrigkeit ver­knüpft, hat ihre Aktualität für die Reproduktion der Staatsdienerschaft nicht verloren. Mit der Staatswerdung des Thea­ters wird aus dem »acteur nomade« zwar noch kein »fonctionnaire« (­Duvignaud 1965, 65), aber doch ein »travailleur régulier qui produit une quantité définie d’émotions à date régulière et dispose ainsi de ­moyens de subsistance ordonnés« (74).

Es ist überraschend, wie sehr die von Goethe im Wilhelm Meister vorge­tragenen Forderungen mit denen d’Aubignacs übereinstimmen: Beiden geht es um den fähigen und rechtschaffenen Schauspieler, dem ein Platz in der »société civile« eingeräumt wird. Aber während d’Aubignac in Paris die Erfüllung seiner Forderungen ge­wissermaßen ›von oben‹ erwarten kann, muss Goethe im politisch und kulturell zerklüfteten Deutschland den genialen Einzelnen auftreten lassen, der sich auf keine zentralisierte Herrschaftsapparatur stützen kann. »Wir haben nichts als uns selbst«, ruft Wilhelm aus (5. Buch, 13. Kap.). Unterm Druck der Subsistenzsicherung und der Rechtlosigkeit, gegen die Abhängigkeit von fürstlichen Gönnern und deren zufälligem Geschmack, setzt Wilhelm auf das Vergnügen, »sich untereinander selbst zu gefallen« (ebd.). Man möchte eine »idealische Republik« bilden, in der gar das Amt des Direktors rotiert. »Idealisch« darf nicht als »ideell« gelesen werden; die Schauspieltruppe er­scheint als real existierende Miniaturform eines noch zu errichtenden bürgerlichen Nationalstaats. Freilich währt dieses bürgerliche Glück nur so lange, wie sie Geld haben. Nachdem sie überfallen und ausgeraubt worden sind, zerfällt die Truppe.

Zivile Helden

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