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1.4 Die Entwicklung des Spielortes zur Schaubühne

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Der Ausdruck Schau-Bühne lässt noch erkennen, dass es sich beim Thea­ter um die Verbindung zweier Räume handelt: Zuschauerraum und Bühnenraum. Historisch geht die Herausbildung eines besonderen Bühnenraums dem Interesse an der Durchformung des Zuschauerraums voraus. Anhand der Entwicklung der Bühne lässt sich der Umbau des Theaters in einen eigenständigen institutionalisierten Handlungsraum mit seinen dafür besonders zuständigen Subjekten, den Schau-Spielern, nachvollziehen. Weder das geistliche Drama des Mittelalters noch die Fastnachtspiele kennen eine besondere Bühne; nur vereinzelt wird ein Podium verwendet (vgl. Michael 1974, 14). In der Regel fügt sich der Spielort in die örtlichen Gegebenheiten ein. Das Theater gewinnt hier gegenüber seinem kulturellen Kontext, dem Gottesdienst oder dem Karneval, keine Eigenständigkeit. Das erste Theater, das ein Podium mit Rückabschluss gehabt und sich »völlig von allen lokalen Bindungen« befreit habe, soll das humanistische Schultheater in Straßburg gewesen sein (ebd., 15). Zur Aufführung der Mysterienspiele im 15. und 16. Jahrhundert, die meist auf dem Platz vor der Kirche stattfanden, wurde dann regelmäßig ein Podium verwendet, das die verschiedenen Orte des Geschehens simultan sichtbar machte (Simultanbühne). Man vermied damit die technischen Schwierigkeiten des Umbauens; auch die Schauspieler blieben – ohne Rücksicht auf die ›Wahrscheinlichkeit‹ – die ganze Zeit über sichtbar. Alle Orte und Akteure waren von Anfang bis Ende präsent. Da die Zuschauer die in diesem Theater erzählten Geschichten kannten, waren auch das jede Erzählung kennzeichnende Sukzessionsprinzip und die simultane Präsenz der einzelnen Glieder, ja von Ausgangs- und Endpunkt – die in einem vom christlichen Weltbild durchstrahlten Alltag ohnehin identisch waren – problemlos miteinander vereinbar.

Mit dieser simultanen Anordnung bricht der neue Typ von Bühne, der sich seit Anfang des 16. Jahrhunderts, zunächst in Italien, dann sehr schnell auch in Frankreich und im übrigen Europa, durchzusetzen beginnt: die Perspektivbühne. An die Stelle mehrerer, gleichzeitig sichtbarer Orte, rückt die Gestaltung eines einzigen Raumes. Die Bühne erweitert sich zum Bühnenraum, zum »Bild, das genau nach den Regeln der Perspektive ausgemalt wurde« (Flemming 1974, 20). Diese Auffassung der Bühne als Bild wird fürs Illusionstheater konstitutiv. Noch im 19. Jahrhundert fungierte »der große, möglichst kunstvoll gemalte Prospekt« – der hintere Abschluss der Bühne – als »Blickfang« (­Krengel-Strudthoff 1974, 170). Donato Bramante und Baldassare Peruzzi, Wegbereiter der neuen Bühnenform (vgl. Frenzel 1984, 20), sind nicht zufällig Architekten, Maler und Bühnenbildner in einem. Die neue Bühnenform unterstreicht die Eigenständigkeit und Geschlossenheit des Spielortes gegenüber dem Zuschauerraum, wenn auch die Präsenz von Zuschauern auf der Bühne und die architektonische Gesamtanlage42 die trennscharfe Gliederung der beiden Räume, Voraussetzung perfektionierter Illusionsproduktion, noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein verhindern sollten. Die Akteure werden jetzt im eigentlichen Sinn zu Schau-Spielern, die sich »innerhalb dieses Schauraumes« bewegen und ihm »eingegliedert« sind (Flemming 1974, 20). Die räumliche Konzentra­tion schließt die simultane Präsenz aller Schauspieler aus, die sich nun den Blicken der Zuschauer entziehen müssen, sobald ihre Anwesenheit nicht mehr nötig ist. Die Bühne wird zum Guckkasten, zu einem »›huis clos‹ dont une paroi semble artificiellement et clandestinement ouverte, par hasard, aux yeux des assistants« (Duvignaud 1973, 279f). Gerade die Ausschließung der Theaterbesucher vom Ort des Geschehens, ihre Stillstellung als Zuschauer, hat den paradoxen Effekt eines besonders intensiven Dabeiseins – wenn auch in der verrückten Form der Illusion.43 Die Illusion, die imaginäre Teilhabe am Geschehen, entspringt einer Anlage, die den Blick der Zuschauer auf eine geschlossene Spielwelt ausrichtet. Indem das Spiel als solches sich entnennt, tritt der »Sinn des Ganzen« hervor. Daher Diderots Rat an die Schauspieler: »Imaginez, sur le bord du théâtre, un grand mur qui vous sépare du parterre; jouez comme si la toile ne se levait pas.« (Poésie, 231)44 Für ein Theater, das den Blick von der »Idealität« weg- und auf die wirklichen Verhältnisse hinlenken will, ist diese Anlage hinderlich. Brecht geht es deshalb zunächst darum, das Theater wieder als solches erfahrbar zu machen. Um die Illusion zu zerstören, verlangt er, »dass die Dekoration dem Zuschauer sagt, dass er im Theater ist […]. Am besten ist es, die Maschinerie zu zeigen, die Flaschenzüge und den Schnürboden.« (GW 15, 79)

Die veränderte räumliche Anlage des Theaters lässt die Aufführung selbst, was und wie etwas gezeigt wird, nicht unberührt. Sebastiano Serlio, der um die Mitte des 16. Jahrhunderts eine zusammenfassende Darstellung der Bemühungen um die Perspektivbühne gibt, sieht die Verwendung von drei Grunddekorationen vor: die tragische, die komische und die Schäferspiel-Szene (vgl. Frenzel 1984, 21f). Natürlich hat er dabei nur das Theater an den italienischen Fürstenhöfen im Blick. Mit der Auffassung der Bühne als Bild rückt die ›reine‹ Theorie, die das Bühnengeschehen zwischen den Polen Tragödie und Komödie aufteilt, an die Aufführungspraxis heran. Die ästhetische Ordnung, die von den Theoretikern des 16. Jahrhunderts ausgearbeitet wird, bekommt mit der Perspektivbühne ihr materielles Substrat. Aber erst mit der Gründung der Comédie-Française gegen Ende des 17. Jahrhunderts, als es darum geht, den Großen – Corneille, Racine, Molière – eine ›würdige‹ Heimstatt zu bieten, gewinnt die Entmischung des theatralen Ereignisses auf der Linie des Komischen und Tragischen die entsprechende Infrastruktur, deren Gesetz die »règle de l’alternance« ist, die idealiter den täglichen Wechsel der Gattungen verlangt (Lagrave 1972, 310).45 Dem Theater der öffentlichen Plätze war diese Trennung fremd. Und auch im Hôtel de Bourgogne wurde noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts diese Entmischungsregel nicht beachtet. Lanson kommentiert vom Standpunkt des ›klassischen‹ Theaters: »A la veille du Cid, le spectacle offre un singulier mélange d’extrême grossièreté et de recherche extravagante. La tragicomédie ou la tragédie jusque vers 1635 est précédée du Prologue, vrai boniment de foire, énorme de bouffonnerie et d’obscénité: elle est suivie de la farce, qui est salée […) Au milieu de ces divertissements tout populaires, la tragi-comédie étale ses inventions surprenantes et ­stériles« (1903, 417f). Das Nebeneinander von Prolog, Tragödie und Farce erscheint als »singulier mélange«, als unerlaubte Vermischung von nicht Zusammengehörendem. Wie in Spanien noch lange über Lope hinaus ist die Vorstellung als lockerer Zusam­menhang einzelner ›Nummern‹ organisiert; die Zerstreuung der Zuschauer – das »divertir« – mittels einer Fülle von Ereignissen und überraschender Wen­dungen ist konstitutiv. Das sinnverstehende Zuschauen wird dagegen mit »utilité« und »instruire« verknüpft. Einer der Anhänger Corneilles in der Querelle du Cid konnte noch sagen, dass er den »mérite des pieces selon le plaisir« bemesse (in: Gasté 1898/1970, 231). Seine gebildeten Gegner, eine in der Antike gängige Unterscheidung aufnehmend, betonen dagegen den Vorrang des instruire gegenüber dem divertir. Diese Konstruktion füllt sich mit frischer Bedeutung. D’Aubignac behauptet daher, das Theater sei »l’École du Peuple«, die »Schule des Volkes« (Pratique, 40), denn die Schauspiele seien »non seulement utiles, mais absolument nécessaires au Peuple pour l’instruire, et pour lui donner quelque teinture des vertus morales« (ebd., 39). Hier der im Original kursiv gesetzte Lehrplan in Kurzfassung: »Que la Félicité consiste moins dans la possession des choses, que dans le mépris; Que la Vertu ne cherche point d’autre récompense que soi-même; Qu’il n’y a point d’intérêt assez grand pour obliger un Homme d’honneur à faire une lâcheté.« (40) Nur wer nichts hat, glaubt im Besitz das Glück zu erhaschen. Die aristokratischen Moralisten, die im sicheren Bewusstsein ihres Besitzes die Schlechtigkeit der Welt beklagen, wissen es besser. Das Theater lehrt das Absehen vom Besitz als den Weg zum wahren Glück – zum Glück für die Besitzenden.

Schillers rund 150 Jahre später bekundete Absicht, die deutsche Schaubühne zu einer »moralischen Anstalt« zu machen, die »mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben« sein soll (1784, SW 5, 826), ist hier vorgedacht. Die Auflösung des plebejischen Arrange­ments der Aufführung mit seiner Nummernstruktur und die Zentralstellung eines Stückes verstärkt nach und nach die Position des Autors gegenüber dem Schauspieler, der – anders als eine interessierte Literaturgeschichtsschreibung dies will – kein »simple serviteur des auteurs« ist (Duvignaud 1965, 75). Die Metonymie »Corneille spielen« kann sich nur innerhalb von Verhältnissen entwickeln, in denen ein individueller ›Urheber‹ sich Geltung verschaffen kann. Wir wenden uns daher der ­Literarisierung der Theaterverhältnisse zu.

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