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IV

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Die Berliner Volksbühne hat im Januar 2005 zu einem Ein-Euro-Abend eingeladen. Ein bei jungen Leuten beliebter Radiomoderator teilte dem zahlreich erschienenen Publikum mit, das Theater könne der neuen sozialen Wirklichkeit nur beikommen, indem die Zuschauer selbst aktiv werden: Für eine Stunde Warten vor leerer Bühne wurde an der Kasse ein Euro ausbezahlt, der anschließend bei einer »sozialkritischen Diskothek« in Bier angelegt werden konnte. Die große Mehrheit blieb sitzen. War es »Willfährigkeit gegenüber neoliberalen Zumutungen«, oder war es die »Bedeutungsmaschine Theater, die denen, die sich ihr ausliefern, auch dann noch Sinn spendet, wenn sie gar nichts eigenes produziert«, fragte Mark Siemons und verstand das Ereignis als Experiment auf die »Macht des Kunstversprechens über die Seelen« (FAZ, 22.1.2005, 33). Wäre es so, müsste man annehmen, dass das sinnverstehende Zuschauen auch dann noch funktioniert, wenn es gar nichts zu sehen gibt. Was den Ort als Theater definiert, ist eben die materielle Anordnung von Bühne und Zuschauerraum, die nicht dadurch zu suspendieren ist, dass die Bühne leer bleibt. Die Veranstaltung hatte ausschließlich performativen Charakter, d. h. sie war mit dem Vorgang selbst identisch, der die Zuschauer in sich hineinnimmt. Aber auch wenn kein Text zur Aufführung kommt, heißt das nicht, dass die soziale Situation, in die sich die Zuschauer – wenn auch nur als symbolisch Handelnde – versetzt sehen, nicht allererst ›verstanden‹ werden müsste. Das heißt auch: das Zeug hat, sie zu ›Verstehenden‹ zu machen. Die Auszahlung eines Euros am Ende der Performance rückte den Un/Sinn einer Gesellschaft ins Bewusstsein, die solche Veranstaltungen nötig hat.

Was Fischer-Lichte als das Neue beschreibt, das einzig durch eine »Ästhetik des Performativen« adäquat zu verstehen sei, beherrscht das Theater bis zu dem Moment, da die Literarisierung die Aufführung erreicht und diejenige Rezeptionsform verallgemeinert, die das Zuschauen zur sinnverstehenden Aktivität macht. Solange das Theater selbst ein Ereignis war, bei dem der zur Aufführung kommende Text, mithin sein literarischer Anteil weder von der Seite der Schauspieler (die lieber improvisierten als eine Rolle auswendig lernten) noch von der der Zuschauer im Mittelpunkt stand, galt auch hier, was Fischer-Lichte für die moderne Performanz-Kunst konstatiert, dass »der Körper- bzw. Materialstatus den Signifikantenstatus« überlagerte (2004, 24). Wenn Performance- und Aktionskunst seit den 1960er Jahren als das unerhörte Neue erscheinen können, so deshalb, weil das Dispositiv des literarischen Theaters – trotz der immer wieder vorgetragenen Angriffe seit Beginn des 20. Jahrhunderts – Theatralität auf die mit ihm selbst unauflöslich verbundenen Erscheinungsformen festlegte und alle übrigen Formen als defizitär, illegitim, seinen hochkulturellen Anspruch verfehlend abqualifizierte. Die »Ästhetik des Performativen« geht gewissermaßen den Weg zurück vom literarischen Theater zum Theater als Ereignis, dem keine von seinem ›Schöpfer‹ unabhängige Existenz zukommt und in dem das Gezeigte sich im Vorgang des Zeigens selbst verzehrt. Die Trennung von Schauspielern und Zuschauern, die das literarische Theater voraussetzt, um die Zeichenhaftigkeit der auf der Bühne dargestellten Welt entziffern zu können, wird überflüssig, wo die körperliche Präsenz der Akteure dem Zuschauer auf den Leib rückt und weniger ein ›Verstehen‹ als ein ›Erfahren‹ provoziert (vgl. ebd., 19). Die Ästhetik des Performativen trägt die Elemente zusammen, die seit 150 Jahren unter der Dominanz des literarischen Theaters zu einer Randexistenz verurteilt waren. Es ist, als hätten sich Schauspieler und Zuschauer nach so langer Zeit der Trennung durch die ›vierte Wand‹ allererst ihrer wechselseitigen Präsenz wieder versichern müssen. Der »Performativierungsschub« (Fischer-Lichte 2004, 25), den das Theater – aber auch musikalische Aufführungen oder Lesungen – seit den 1960er Jahren erfuhr, etwa in Handkes Publikumsbeschimpfung10, bezeugt dieses Bedürfnis.

Wenn man der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung zu Recht vorwerfen konnte, sie reduziere Kulturelles auf Artefakte, die den Sprung in die literarische Existenzform geschafft haben, so tendiert eine Ästhetik des Performativen dazu, überall ›Kunst‹ zu entdecken und Wirklichkeit nur mehr als inszenierte gelten zu lassen. Die Abstraktion des Literarischen setzte ein Gefüge voraus, in dem der Text und damit die Kompetenz, Texte auszulegen, als oberste Instanz institutionalisiert war. Wie sich das Auslegen von Texten nicht außerhalb der Materialität von Institutionen, Praxen und Diskursen bewegt, die ein ›hermeneutisches Dispositiv‹ bilden, in dem sich der ›Sinn‹, d. h. die geschichtliche Geltung einer Aussage oder Auffassung konstituiert, so die Abstraktion des Performativen. Die Privilegierung des Ereignishaften, mittels einer englischen Vokabel zum ›event‹ gesteigert, ist unverkennbar Reaktion auf einen Zustand, in dem die real existierende Kluft zwischen Ereignis und Dabeisein immer größer geworden ist, auch wenn (oder gerade weil) die Bilder in Echtzeit übertragen werden und der heimische Bildschirm die Dimensionen einer mittelgroßen Leinwand angenommen hat. Die Figur des befugten Interpreten, der immer neue Texte, Kommentare, Erläuterungen lieferte (vgl. Jehle/Orozco 2004), wird im neuen Paradigma durch den Reporter abgelöst, der mit der Kamera, dem Repräsentanten des Zuschauers, die Welt durchstreift und immer neue Ereignisse liefert.

Die Metaphorisierung des Theater-Begriffs, die ihre Evidenz aus ­einer »Theatralisierung und Ästhetisierung unserer Lebenswelt« (Fischer-Lichte 2004, 316) bezieht, läuft Gefahr, die inszenierten Wirklichkeiten als »Wiederverzauberung der Welt« (315) zu verklären, in der sich die »›Eigenbedeutung‹ von Mensch und Dingen« enthüllt (325). Wo aber die ›kulturelle Wende der Geisteswissenschaften‹ die Begriffe Herrschaft und Ideologie durch Kultur oder, noch kurzatmiger, durchs ›Ereignis‹ substituiert, statt in der Kultur die Spuren und Modi der Auseinandersetzung um Herrschaft, um Herrschaftssicherung von oben bzw. um die Erweiterung gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit von unten zu entziffern, können die wirklichen Kämpfe, die in einer Gesellschaft ausgetragen werden, nicht in den Blick kommen. Die vorliegende Studie versteht sich dagegen als Beitrag zu einer sozialgeschichtlich fundierten Kulturwissenschaft, die die Herkunft ihrer Maßstäbe aus einer ideologiekritischen Sicht der Gegenwart nicht verleugnet.

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